Montag, 13. Mai 2024

Archiv


Erfahrungen aus erster Hand

Seit ungefähr drei Jahren sind wir Zeitzeugen einer wundersamen Vermehrung von Islam-Experten. Wer einst die Hände Arafats geschüttelt hatte - es waren immer beide - und gar zum Minzetee bei Hanan Ashrawi geladen war, darf sich fortan eines Dauerplatzes auf der Gästeliste deutscher Talkshows sicher sein. Experten für den Orient waren immer rar - wir brauchten sie ja nicht: Von Kolonialträumen, naiven Reiseberichten und 1001 Nacht inspiriert, lieferte der so genannte Orientalismus, den der New Yorker Palästinenser Edward Said in seinem gleichnamigen Buch einst elegisch verspottete, genügend Pop-Weisheiten für unsere Orientierung: jene Mischung von Exotik und Erotik, von Hasch und Harem - und jene vage Bedrohung, die Europäer nie vergaßen, seit die Osmanen gerade noch vor Wien gestoppt wurden.

Von Eike Gebhardt | 06.01.2005
    Zwischen solchem Stammtisch-Wissen und den tränenschwangeren Erlebnisberichten islamisch verheirateter Westfrauen blieb eine Lücke: Erfahrungen erster Hand von klugen, erlebnisoffenen und kenntnisreichen Kulturnomaden, wie sie sich in allen westlichen und sogar asiatischen Ländern finden - vor allem nämlich dieser Punkt ist wichtig: dass solch ein teilnehmender Beobachter ein Land von außen und innen zugleich erlebt, es nicht nur bereist, sondern in seinem Alltag funktioniert.

    Natürlich ist der Islam so wenig ein Monolith wie Europa: Natürlich bekommt jemand im katholisch konservativen Süditalien einen anderen Eindruck unseres Kontinents als im liberalen Holland. Oder sind islamische Gesellschaften durch gewisse Korandirektiven doch mehr oder minder homogen? Warum zum Beispiel gibt es praktisch keine islamische Demokratie - der Grenzfall Türkei einmal ausgenommen?

    Seltsamerweise weicht Nagel diesen Grundsatzfragen weithin aus. Mit Recht verweist er auf die lange und reiche Kulturgeschichte des Islam in Spanien - vor allem während dessen kultureller Blüte im Mittelalter, als es im christlichen Abendland fast hinterwäldlerisch zuging. Nicht nur gerieten selbst die Texte der griechischen Antike vor allem durch Rückübersetzungen aus dem Arabischen nach Europa; auch viele der christlichen Denkmodelle hatten nachweislich arabische Vorfahren. Städte wie Bagdad oder Cordoba waren Jahrhunderte lang strahlende Kulturzentren - während in Nordeuropa wahrlich düsteres Mittelalter herrschte. Ein Unfug also, dass man von einer Rückeroberung Spaniens von den Mauren sprach, betont Nagel: Spanien erwuchs erst aus der arabischen Kultur - nicht ohne Ironie verweist er auf das Lexikon arabischstämmiger Worte im heutigen Spanisch: Es umfasst mehr als 30.000 Worte und Begriffe; das entspricht etwa dem gesamten Wortschatz Shakespeares.

    Der ignoranten Arroganz - Geschichte wird immer von den Gewinnern geschrieben - setzt Nagel seine Neugier entgegen. Er studiert Arabisch, sieht sich überall die Madrasa an, die Koranschulen - für unser Verständnis die Brutstätten des Terrorismus - und hält dem westlich-stereotypen Bild vom Islam, am radikalsten verkörpert von der Islam-Hasserin Oriana Fallaci, immer wieder das Bild des Menschlichen-Allzumenschlichen, des Alltags, des Familienlebens und so weiter entgegen. Weithin mit Recht, so wie ja auch DDRler protestierten, ihr Land, ihre Biographie, ihre Identität habe sich doch schließlich nicht in dem unappetitlichen politischen System erschöpft. Freilich wagt Nagel sich, beflügelt durch kleine Entdeckungen, mit seiner Deutung oft weit vor:

    Man sage nicht. im Islam habe es nie Ansätze zu einer civil society gegeben,

    schließt er zum Beispiel aus dem Beispiel des Marktvogts, der die Händler der Basare überwachte und befugt war,

    Gewichte und Maße zu kontrollieren, die Zulässigkeit von Kaufverträgen zu überwachen, die angebotenen Esswaren auf ihre Bekömmlichkeit zu überprüfen, zwischen streitenden Händlern zu vermitteln und im übrigen dafür zu sorgen, dass die sittliche Ordnung bewahrt wurde. Er hatte ... Befugnisse, die häufig in keinerlei Verbindung zum islamischen Recht, zur Scharia standen sondern vielmehr auf dem Gewohnheitsrecht beruhten: eine zivile Gerichtsbarkeit, die bis zu einem gewissen Grad auf autonomer Verwaltung der Bewohner ... aufbaute.

    Wie es mit den zivilen Freiheiten - der Religion, der individuellen Lebensführung, dem Recht auf körperliche Unversehrtheit usw. - aussah und aussieht, diskutiert Nagel nicht, vor allem aber nicht die eigentliche Säule der Zivilgesellschaft: die öffentliche Meinungs- und Willensbildung - die doch konstitutiv sein sollte für den Staat. Zwar sieht er klar deren Einschränkung:

    An der Eintönigkeit und Inhaltsarmut des Zeitungsarabischen sind schon viele Islamkundler vor mir verzweifelt,

    schreibt er zum Beispiel. Ob das Ideal einer bürgerlichen Öffentlichkeit - ex definitione säkular - mit dem Koran verträglich sei, solche Grundsatzfragen, die viele arabische Intellektuelle leidenschaftlich umtreiben, lässt Nagel zwar links liegen. Doch seine Erlebnisse geben oft die Antwort, die er sich explizit versagt. Immer wieder betont er die soziale Seite, auch die Solidarität, die viele Araber nach dem 11. Sept. für die USA empfanden - und die diese so leichtfertig wieder verspielten. Doch in einer strengen Koranschule, in der er sich einschreibt, muss er doch einsehen, wie der Horizont der späteren Multiplikatoren bewusst verengt wird, abgeschottet vom einfachsten Wissen um die Welt: Das könnte ja, Allah bewahre, zu eigenen Urteilen führen. Derselbe liberale Lehrer, der die Schülern ermahnt, den Islam nicht mit örtlichem Brauchtum zu verwechseln, predigt plötzlich gegen den Libertinismus der Juden, zitiert allen Ernstes die so genannten Protokolle der Weisen von Zion, eine berüchtigte antisemitische Fälschung und predigt Hass - all das in einem Seminar über den islamischen Begriff der Freiheit. Nagel schildert es verblüfft, lässt sich aber wiederum auf keine eigene Meinung ein. Die historische Bedingtheit islamischer Vorstellungen ließe sich durchaus innerhalb der Religionsgeschichte diskutieren, verwundert er sich noch - um dann sogleich einzuschränken:

    Westliche Verbesserungsvorschläge sind immer der Gefahr ausgesetzt, diese innerislamischen Ansätze nicht genügend zu kennen und statt dessen eigenes Gedankengut - die Aufklärung, die Menschenrechte -.. etc. - direkt in den Islam importieren zu wollen.

    Hatte er nicht anfangs die Befruchtung Europas durch den Islam gepriesen? Warum will er jetzt, im umgekehrten Falle, resignieren?

    Und so reist er weiter, durch Ägypten, die Vereinigten Emirate, schildert oft mit leisem Humor das Nebeneinander von explosiver Enge und haltloser Verwestlichung, ohne abzuwägen, ob der Islam dadurch nicht gleichsam eines natürlichen Todes sterben könnte - so wie das Christentum durch die Moderne zu einer bloßen Hülle wurde, zum Überbau.

    Im Iran wird ihm noch einmal die innere Vielfalt des Islam offenbar, das Persien der Sufis, des Dichters Hafis mit seiner antipuritanischen Lebensfreude, ja Lebenskunst; er wundert sich über die "Entspanntheit, mit der viele Iraner ... religiösen Fragen gegenüberstehen", und plädiert ob dieser Vielfalt, wir sollten die Beschäftigung mit dem Islam intensivieren; die religionswissenschaftlichen Abteilungen großer westlicher Universitäten - aber leider nur die - sind ihm ein löbliches Modell. Denn:


    Der Islam [ist] innerlich so heterogen, dass es schlicht Unsinn ist, ihm ein intolerantes Wesen, Gefühlsfeindlichkeit oder sonst irgendeinen unveränderlichen, wesenhaften Charakterzug anzuhängen.

    Diese Gefahr hat er zwar vermieden, doch um den Preis der Abstinenz vom persönlichen Urteil. Ein paar mehr Hinweise auf Konflikte und Kontroversen auch innerhalb der arabischen Welt hätten womöglich geholfen, seine weitläufigen, oft selbst konfliktträchtigen Erlebnisse - es ist ein beinah klassischer Reisebericht in pädagogischer Absicht - in die Vorstellungswelt des Westens zu übersetzen.