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"Erfahrungen sind nie überholt"

Heute vor 90 Jahren wurde die Weimarer Verfassung unterschrieben: Für Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) sind die Lehren aus Weimar eine "ständige Begleitung der zweiten deutschen Republik". Änderungen des Grundgesetzes hält er für möglich - sieht aber nicht nur Vor-, sondern auch Nachteile.

Norbert Lammert im Gespräch mit Bettina Klein | 11.08.2009
    Bettina Klein: Der Weimarer Verfassung, jener Verfassung, mit der der Grundstein der Demokratie auf deutschem Boden gelegt wurde, dieser Verfassung gab man lange die Hauptschuld für das Scheitern der Weimarer Republik. Lehren aus Weimar wurde daher zu dem Mantra in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg und der Nazi-Herrschaft. Lehren aus Weimar wollten die Gründungsväter und -mütter des Grundgesetzes ziehen und mit dem Verweis auf Weimar werden bis zum heutigen Tage Verfassungsgrundsätze und politische Praxis gerechtfertigt und deren Veränderung mitunter eben auch abgelehnt. Darüber habe ich vor der Sendung mit Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) gesprochen, der heute beim Festakt in Weimar auch dabei sein wird. Meine erste Frage war: Gibt es eigentlich irgendeinen Punkt, bei dem wir keine Lehren aus Weimar gezogen haben?

    Norbert Lammert: Es wäre sicher etwas kühn, umgekehrt den Anspruch erheben zu wollen, wir hätten ausnahmslos alle unsere Lektionen gelernt. Aber dass der Versuch, einen neuen zweiten Aufbruch in die politische Moderne zu unternehmen - nach dem Zweiten Weltkrieg -, sich ausdrücklich und immer wieder an den Erfahrungen des Scheiterns von Weimar orientiert hat, das ist sowohl mit Blick auf den Verfassungstext, also die Bemühung um das Grundgesetz, als auch mit Blick auf die politische Praxis gewissermaßen eine ständige Begleitung der zweiten deutschen Republik.

    Klein: Gibt es einen Artikel im Grundgesetz, bei dem Sie sagen würden, die Lehren aus Weimar sind eigentlich überholt, nun, 90 Jahre danach?

    Lammert: Erfahrungen sind nie überholt. Sie sind vielleicht in einem stärkeren Maße, als das zu anderen Zeiten der Fall gewesen sein mag, ins öffentliche Bewusstsein oder in die Verhaltensmuster der politischen Klasse eingegangen. Ich hoffe beispielsweise, dass es einen wesentlichen mentalen Unterschied der zweiten gegenüber der ersten deutschen Republik gibt, und das betrifft die Einsicht in die Unvermeidlichkeit und auch in den Rang von Kompromissen. Das ist etwas, was sich in Verfassungstexten mit Aussicht auf Erfolg nicht abschließend regeln lässt, aber ohne die Fähigkeit und die Bereitschaft zu Kompromissen ist ein demokratisches System nicht handlungsfähig.

    Klein: Die Grundgesetzgeber machten die Weimarer Demokratie und auch die Weimarer Verfassung letztlich für den Aufstieg Hitlers mit verantwortlich und haben deswegen auch die direkte Demokratie eingeschränkt. Also kein Verfassungsorgan wird in Deutschland direkt vom Volk gewählt, die Hälfte der Sitze im Parlament werden über Listen durch Parteien besetzt und letzteres trifft auch zu auf wichtige Ämter in der Gesellschaft. Herr Lammert, ist es noch immer nicht an der Zeit, diese Dinge zu überdenken?

    Lammert: Erstens: der Deutsche Bundestag wird direkt vom Volke gewählt. Er ist das Verfassungsorgan, das seine Legitimation direkt aus Wahlen des Volkes bezieht.

    Klein: Aber Landeslisten werden von Parteien besetzt, um das noch mal klarzustellen.

    Lammert: Ja, das ist wahr und das ist ja eine der nicht mehr ganz neuen, aber wie ich finde durchaus legitimen Fragen, ob sich auf Bundesebene in ähnlicher Weise, wie wir das in vielen Ländern vor allen Dingen auf der kommunalen Ebene haben, nicht auch Einflussmöglichkeiten der Wähler auf die Reihenfolge der Kandidaten der Parteilisten vorstellen ließen - ändert aber an der Direktwahl eines Parlaments durch die Wählerinnen und Wähler nichts. Im Übrigen: ich stehe dieser Überlegung persönlich sehr aufgeschlossen gegenüber, warne allerdings vor der fröhlichen Schlussfolgerung, dies sei das Patentrezept, denn man muss natürlich wissen, dass solche Gestaltungsmöglichkeiten eher eine Prämie für die Bekannten, als für die Unbekannten, eher für die Alteingesessenen, als für die Newcomer sind.

    Klein: Um das aber noch mal klar zu sagen: die Verfassungsgeber haben die direkte Demokratie ja eingeschränkt, haben den Parteien doch eine ziemlich große Macht eingeräumt. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sehen Sie durchaus es an der Zeit, an bestimmten Punkten das zu ändern. Wo konkret, abgesehen von der Frage, wie Landeslisten besetzt werden sollen?

    Lammert: Wir haben in den vergangenen Jahren ja mit Blick auf erweiterte Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung eine Reihe von Entwicklungen erlebt, bei denen die Erfahrungen nach meiner persönlichen Einschätzung durchaus gemischt sind. Da wo wir auf Landesebene in stärkerem Maße als in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland die Möglichkeit von Bürgerbegehren oder Bürgerentscheiden oder Volksentscheiden eingeführt haben, stellen wir erstens fest, dass es für die Wahlbeteiligung an Wahlen überhaupt keine Folgen hat. Also zu einer stärkeren Identifizierung in Gestalt von Wahlbeteiligung führt dies offenkundig nicht. Und zweitens, was ich eher noch bedenklicher im Sinne von nachdenkenswert empfinde ist, dass die durchschnittliche Beteiligung an solchen Bürgerentscheiden oder Volksentscheiden noch wieder deutlich unter der inzwischen abgesunkenen Wahlbeteiligung liegt. Also die große Attraktivität scheint das für die allermeisten Wählerinnen und Wähler nicht darzustellen.

    Klein: Ein weiterer Punkt, eine weitere Lehre aus Weimar war die Einschränkung der Präsidialdemokratie. Würden Sie zustimmen, dass es eher die Deutschen waren, das Volk selber, was seinerzeit sich nach dem starken Mann, nach dem Führer gesehnt hat, und das sozusagen Weimar in den Abgrund geführt hat, als die Verfassung selber?

    Lammert: Dem würde ich so nicht zustimmen, auch wenn es sicher richtig ist, dass in der außergewöhnlich schwierigen Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, die wir alle miteinander ja nur noch aus Geschichtsbüchern kennen und nicht mit eigenen biografischen Erfahrungen verbinden, dass damals es einen ausgeprägten Orientierungsbedarf gegeben hat und sicher auch die Suche nach einem Ersatzkaiser, nachdem die Monarchie abdanken musste. Aber was die Ausgestaltung der Rolle des Reichspräsidenten angeht, ist dies nach meiner Einschätzung auch in der Fachwelt eine der wenigen völlig unbestrittenen Einschätzungen einer Fehlkonstruktion der Weimarer Verfassung. Es fehlte die notwendige Balance zwischen den Verfassungsorganen, gerade was das Verhältnis von Reichspräsident zu Reichsregierung oder eben auch umgekehrt die labile Stellung der jeweiligen Reichsregierungen zwischen den jeweils direkt gewählten Verfassungsorganen Reichspräsident auf der einen Seite mit seinem berüchtigten Notverordnungsrecht und dem Parlament auf der anderen Seite angeht.

    Klein: Sie würden nicht zustimmen bei der These, dass Weimar an dem Mangel an Demokraten zu Grunde gegangen ist?

    Lammert: Das ist ja eine der fast ständigen Redewendungen in Verbindung mit der Weimarer Republik. Doch, an dieser These ist ganz sicher was dran, auch wenn Weimar nicht eine Demokratie ohne Demokraten war, aber ganz sicher war Weimar eine Demokratie mit zu wenig engagierten Demokraten. Und insbesondere - ich habe das vorhin in einer der Eingangsbemerkungen gesagt - war bei den Stützen des politischen Systems die Bereitschaft und das Verständnis für die Notwendigkeit von Kompromissen in einer Weise unterentwickelt, die die Handlungs- und die Entscheidungsfähigkeit dieser Republik enorm strapaziert hat.

    Klein: Halten Sie uns Deutsche, Herr Lammert, für in dieser Hinsicht vollständig geheilt?

    Lammert: Ich habe vorhin schon mal gesagt, dass ich mit solchen Vollständigkeit-, Absolutheits- und Endgültigkeitserklärungen meine jetzt wiederum prinzipiellen Probleme habe. Ich glaube, wir können mit Berechtigung sagen, dass die zweite deutsche Demokratie - und allein die Dauer der beiden politischen Systeme ist dafür ja schon ein starkes Indiz - um vieles stabiler, auch solider, in sich gefestigter, viel breiter akzeptiert ist, als dies der Weimarer Republik vergönnt war, aber dass unsere Demokratie gegen alle Herausforderungen ein für allemal und ganz sicher gefeit sei, das gehört zu den voreiligen Übertreibungen, vor denen man sich und andere hüten sollte.

    Klein: Können Sie so ein bisschen näher skizzieren, wo glauben Sie könnte noch Gefahr bestehen? Das heißt wo ist es weiterhin geboten auch in unserem Land, dass wir uns treu halten an die Lehren aus Weimar?

    Lammert: Ich fühle mich nun nicht motiviert, gewissermaßen potenzielle Risiken zu beschwören, die ich akut Gott lob im Augenblick nicht erkennen kann. Es sieht im Augenblick ja beispielsweise auch nicht danach aus, dass die mit Abstand gravierendste Wirtschaftskrise, in die die Bundesrepublik in ihren 60 Jahren bislang geraten ist, wie viele andere Länder der Welt auch, zu einer wirklich spürbaren Veränderung in der politischen Akzeptanz des Systems oder in einer signifikanten Veränderung im Wahlverhalten seinen Niederschlag finden würde. Das sind alles schon Indizien dafür, dass wir vielleicht doch - und das wäre unter jedem Gesichtspunkt zu begrüßen - mit einer größeren Reife (andere würden vielleicht jetzt auch sagen, mit einem höheren Maß an Gelassenheit) auch mit Ausnahmesituationen umzugehen in der Lage sind, als das damals der Fall war.

    Klein: Herr Lammert, lassen Sie uns abschließend noch auf eine Frage schauen, bezüglich derer Verfassungsänderung ja oder nein wieder konkret diskutiert wird, nämlich soll die Bundeswehr bei Befreiungsaktionen, zum Beispiel bei einer solchen Geiselnahme, wie wir sie jetzt bei dem Schiff Hansa Stavanger erlebt haben, eingesetzt werden dürfen. Dieser Streit ist ja nicht neu, er kommt immer wieder auf die Tagesordnung. Lehrt uns Weimar da eigentlich etwas, oder gar nichts mehr?

    Lammert: Ich glaube nicht, dass die angemessene Beantwortung dieser unter vielerlei Gesichtspunkten ja sehr schwierigen Frage unter Hinweis auf Weimarer Erfahrungen erfolgen kann. Hier sind rechtliche Fragen angesprochen und Fragen der praktischen Durchsetzbarkeit. Ich habe keinen Zweifel daran, dass die allermeisten Wählerinnen und Wähler es für eine schiere Selbstverständlichkeit halten, dass dann, wenn wir in der Lage sind, mit staatlichen Machtmitteln einen offenkundigen kriminellen Akt zu stoppen und zu lösen, dass wir davon dann auch Gebrauch machen sollten. Aber diese ganz prinzipielle Position ersetzt leider nicht die sorgfältige Abwägung im konkreten Fall, ob wir dazu erstens überhaupt und zweitens unter hinnehmbaren Rahmenbedingungen in der Lage sind, und diese Frage wird jedes Mal neu geprüft und jedes Mal neu entschieden werden müssen.

    Klein: Und das Grundgesetz wird geändert werden müssen, oder nicht?

    Lammert: Ich persönlich glaube nicht, dass man dafür in jedem Falle einer grundgesetzlichen zusätzlichen Regelung bedarf, aber Sie wissen wie ich, dass auch diese Frage unter den Fachleuten unterschiedlich eingeschätzt wird, und deswegen wird uns vermutlich auch diese Auseinandersetzung noch eine Weile begleiten.

    Klein: Ein Gespräch mit Bundestagspräsident Norbert Lammert. Heute vor 90 Jahren wurde die Weimarer Verfassung unterzeichnet und daran wird heute bei Veranstaltungen in Berlin und Weimar erinnert.