Ensminger: Nun hat die Dienstleistungsgewerkschaft VERDI heute gesagt, sie geht davon aus, dass derzeit in Deutschland mehr als 200.000 Ausbildungsplätze fehlen. Das ist dann doppelt so viel, wie die Bundesanstalt für Arbeit vorgestern angegeben hat, und die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Mönig-Raane fordert daher erneut eine Zwangsabgabe für alle Unternehmen, die nicht ausbilden. Ist so etwas eine Alternative zu der Stiftung?
Brüderle: Das ist genau das Gegenteil von dem, was man machen muss. Wir brauchen mehr Luft für die Betriebe, für die Mittelständler. Wir haben alles sehr kompliziert. Wir haben den Kündigungsschutz verschärft, die Mitbestimmung für vier Milliarden Zusatzkosten verschärft, wir haben das Scheinselbständigen-Gesetz in Deutschland erledigt, die 630-Mark-Regelung abgeschafft. All dies hat den Arbeitsmarkt zusätzlich verregelt und verriestert, und jetzt fünf Minuten vor zwölf damit zu kommen, dass man durch Zwangsabgaben, durch neue Steuern, durch Strafsteuern auf die Betriebe das Klima verbessert, dass mehr geschieht, halte ich für absurd. Immer kommen diese Keulargumente dann, wenn man versagt hat, und da muss die Gewerkschaft auch prüfen, ob sie nicht in den Tarifverhandlungen zum Beispiel anders vorgeht, zu sagen: Wir verzichten auf zwei, drei Zehntel, wenn die Betriebe dafür zusagen, dass sie mehr ausbilden aus diesem Kostenfaktor heraus, wie es etwa die IG-Chemie vor nicht allzu langer Zeit gemacht hat. Da muss auch mehr Fantasie hinein. Am Schluss zu sagen, das gibt eine neue Melodie, noch mehr Steuern, Abgaben in Deutschland, zeigt genau, dass man die Kernprobleme nicht erkannt hat, und jeden Tag noch schillerndere, noch abwegigere Vorschläge kommen. Das bringt kein Vertrauen, das bringt keine Investitionsbereitschaft, das bringt keinen klaren Kurs. Was wir wirklich dringen bräuchten, wäre eine Entlastung gerade der Mittelstandsbetriebe, die bei der Steuerreform schlecht behandelt wurden, die überzogenen bürokratischen Regelungen am Arbeitsmarkt zu beseitigen. Seit Jahren sagen alle Wirtschaftsforschungsinstitute, Bundesbank, OECD, wer auch immer, dass ein Kernpunkt der Massenarbeitslosigkeit in Deutschland die Überreglementierung ist. Lasst doch die Mitarbeiter in den Betrieben mehr entscheiden. Es gab ja die Fälle bei VW, bei Viessmann, wo 98 Prozent der Belegschaft sagten: Wir sind mit anderen Regelungen einverstanden, damit der Arbeitsplatz in der Region erhalten bleibt. Sie stimmen geheim ab und die Gewerkschaft sagt Nein. Da muss das Umdenken ansetzen, und nicht nachdem man vier Jahre Zeit vergeudet hat, nichts bewegt hat, mit neuen Abgaben und Steuern zu kommen. Das ist nicht die Lösung.
Ensminger: Aber es stehen eben viele Jugendliche da und haben keinen Ausbildungsplatz. Was muss da jetzt passieren?
Brüderle: Man muss den Betrieben Vertrauen geben und sehr schnell Entlastungsmaßnahmen, sowohl bei Steuern wie bei den Reglementierungen, machen. Man muss bei den Tarifverhandlungen ansetzen. Die Gewerkschaft ver.di kann ja morgen früh eine Änderung des Tarifvertrages vorschlagen und sagen: O.K., wir nehmen einen halben Prozentpunkt zurück, und dafür handeln wir aus, dass X Ausbildungsplätze mehr geschaffen werden, wie es die IG-Chemie gemacht hat. Aber da ist ja Null Bewegung drin. Das Ganze ist sowieso absurd, dass man vier Jahre nichts tut, und dann 40 Tage vor der Bundestagswahl nach dem Motto "Unter den Blinden ist der Einäugige ein Hoffnungsschimmer" für die Grün-Rote Politik mit solchen Vorschlägen kommt. All das, was jetzt diskutiert wird, hätte man längst machen können. Wir haben ja als Freidemokraten angeboten, dass wir jederzeit sofort eine Sitzung des Bundestages, damit wenigstens etwas auf dem Weg kommt. Weshalb hat man nicht schon längst dem Herrn Gerster, der als Wunderwaffe in der Spitze der Bundesanstalt für Arbeit installiert wurde, mehr Möglichkeiten gegeben? Er ist ja praktisch nur der Filialleiter. Man muss ihm von der Gesetzgebung mehr Möglichkeiten geben. Und dass der Arbeitslose entscheiden kann, ob er zum Arbeitsamt A, B oder C, zum Arbeitsvermittler D oder F gehen will, da ist ja Null Veränderung bisher geschehen.
Ensminger: Die Arbeitsmarktreform kommt ja, also gerade die Bewegung in der Bundesanstalt für Arbeit.
Brüderle: Das erzählen sie alle. Ja, ja, der ist schon etliche Wochen im Dienst, und es hat sich an den gesetzlichen Regelungen überhaupt nichts getan.
Ensminger: Fünf Monate arbeitet die Reform-Kommission. Das ist ja nun nicht so viel. Insofern muss man ihr ein bisschen Zeit geben, oder?
Brüderle: Wir haben eine Regierung, die seit vier Jahren im Amt ist. Ich frage mich: Was macht denn der Herr Riester? Was macht der Herr Müller? Immer brauchen wir eine Kommission draußen. Weshalb haben wir Minister, Ministerien mit Tausenden von Beamten, dass man vier Jahre nichts tun kann, und sich dann 40 Tage vor der Wahl auf eine Kommission beruft, von der jeden Tag irgendwas Unautorisiertes irgendwo in der Presse lanciert wird, und keiner weiß was sie wirklich denken, ob sie überhaupt zusammenfinden. Und dann ist ja überhaupt nichts im Gesetzbuch. Das sind doch alles Ablenkungsmanöver von einer erschütternden Bilanz, dass es von 1998 bis heute faktisch keinen einzigen Arbeitsplatz mehr gibt, sondern die Statistik umgefriemelt wurde. Das ist doch das Waterloo und die enttäuschende Entwicklung, die die Menschen draußen frustriert. Davon versucht man abzulenken, statt in der Substanz etwas zu tun.
Ensminger: Wobei von den geschönten Arbeitslosenstatistiken auch die Vorgängerregierung betroffen ist.
Brüderle: Deshalb wurde sie abgewählt und eine neue gewählt, die es besser machen wollte.
Ensminger: Aber gilt nicht: Besser spät als nie?
Brüderle: Natürlich, aber machen wir doch morgen früh eine Sondersitzung um acht Uhr. Ich sehe nur überall die Ankündigung, ich höre überall das Gerede, dass die Partei irgendwas machen will, und dass man vielleicht doch etwas macht. Wir sind bereit, sofort wieder nach Berlin zusammenzukommen, die Hand zu heben, etwas zu entscheiden, wenn man die ursprünglichen Vorschläge der Hartz-Kommission, die weichgespült wurden, die verbessert wurden, weil man wieder nicht die Eingriffe beim Arbeitslosengeld machen wollte, weil die unangenehm mit den Gewerkschaften sind, aber dabei die Fristen verlängert hat, weil man nicht echt in die Zeitarbeitsverträge, auch in den privaten Markt hineingeht. Da wollen wir die Bundesanstalt drum bitten. Macht doch wenigstens vier, fünf Punkte, und zieht sie durch. Ich sehe immer nur Nebel, Nebel, Hoffnung, Hoffnung und keine Taten.
Ensminger: Jetzt ist es so, dass die Kommission hofft, dass gleich welche Regierung am 22. September gewählt wird, tatsächlich doch auch die Hartz-Pläne umsetzt. Wird es mit jeder Regierung eine Umsetzung geben?
Brüderle: Jede Regierung, die sich ernsthaft vornimmt, die Massenarbeitslosigkeit als Skandal des Wirtschaftsgeschehens, des Gesellschaftsgeschehens Deutschlands anzugehen, muss an Reformen herangehen. Wir brauchen einen Befreiungsschlag, in man in der Tat experimentell eine Reihe von Gesetzgebungen und Regelungen außer Kraft setzt, dass man sofort Scheinselbständigkeit und 630-Mark abschafft, den Niedriglohnsektor aktiviert. Es gibt ja Arbeit, die nicht bezahlbar ist. Wenn es 70 Prozent, die ihren Lebensunterhalt am Markt verdienen, und 30 Prozent Sozialtransfer gibt, ist es besser als 100 Prozent Arbeitslose und 100 Prozent Sozialtransfer. All die Dinge sind ja nicht neu. Sie liegen seit langem auf dem Tisch. Jede Regierung ist in der Verantwortung, etwas zu tun. Ich kann den Menschen nur zurufen: Durchhalten! Am 22. September ist Freiheitstag. Da kann man eine neue Mehrheit wählen.
Ensminger: Aber grundsätzlich, so wie die Hartz-Pläne im Moment sind, würden Sie nicht zustimmen?
Brüderle: Sie sind zunehmend verbessert worden. Die ersten Vorschläge, die da waren, fand ich viel klarer als jetzt. Es sind einige Tabuthemen nicht angegangen worden, etwa das Tarifvertragsrecht, dass man den Mitarbeitern und Belegschaften mehr Entscheidungsmöglichkeiten im Betrieb gibt. Etwa 75 Prozent müssen auch Abweichungen von allgemeinen Regelungen beschließen können. Wir brauchen einen echten Wettbewerb in der Arbeitsvermittlung. Wir haben 1,3 Millionen offene Stellen; bei über vier Millionen Arbeitslosen ein Skandal, dass die Vermittlung und die Bundesanstalt für Arbeit so miserabel ist. Wir müssen wenigstens einen großen Teil der offenen Stellen besetzen. Wir brauchen endlich veränderte Rahmenbedingungen, Vertrauen, Berechenbarkeit. Wenn man die Mittelständler schlecht behandelt und verunsichert, kriegt man eben wenig Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Deshalb ist die Kurskorrektur jetzt entscheidend.
Ensminger: Vielen Dank für das Gespräch.
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