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Eric Vuillard: "14. Juli"
Sturm auf die Bastille

Der französische Schriftsteller Eric Vuillard erzählt in seinem neuen Buch in einer Mischung aus Essay und Roman vom Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789. Dabei geht es ihm nicht um eine systematische Schilderung, sondern um die besonderen Momente.

Von Walter van Rossum | 11.07.2019
Buchcover: Eric Vuillard: „14. Juli“
Eric Vuillard - die Neuerzählung großer historischer Momente ist seine Passion (Foto: MAXPPP/dpa/Philippe De Poulpiquet, Buchcover: Matthes & Seitz Verlag)
Es dauert höchstens eine knappe Seite, dann gleiten wir im freien Fall der Erzählung in ein historisches Großereignis: die Französische Revolution von 1789. Wir stehen auf der Straße, spüren die Menge: wütende Tagelöhner, Fassmachern, Fischweiber oder Blechschmiede im Schein der Flammen und im Geist des Hungers. Nein, es ist noch nicht der 14.Juli 1789, der Tag, an dem die Bastille erobert werden würde und das Flussbett der Geschichte sich einen neuen Lauf sucht. Es ist Ende April – gerade haben Jean-Baptiste Reveillon, Eigentümer der Königlichen Tapetenfabrik, und der Salpeterfabrikant Henriot ihren Arbeitern klar gemacht, dass sie in Zukunft sehr wohl mit 15 statt 20 Sous pro Tag auskommen könnten. Allein, da hatten sie wohl etwas nicht verstanden: Es war definitiv keine Luft mehr nach unten. Menschen, die 12 Stunden am Tag schuften, um das Allernötigste erwerben zu können, eine Kammer zum Schlafen und hartes Brot zu dünner Suppe, diesen Kreaturen war nichts mehr wegzunehmen. Jetzt war Schluss, und so gingen die Villen der Herren Reveillon und Henriot in Flammen auf. Noch bevor die Revolution richtig ins Rollen geriet, gehörten diese Tage zu den blutigsten. Schätzungsweise 300 dieser enragés starben bei der spontanen Revolte. Doch das Feuer, das sie gelegt hatten, sollte nicht mehr ausgehen.
Wer waren die Rebellen?
Wer waren die Toten? Eric Vuillard führt uns in ein städtisches Verließ, wo 14 Leichen modern. Beamte führen Protokoll, beschreiben die Toten, schildern ihre Kleidung, sichten die Wunden, an denen sie starben, und durchsuchen ihre Taschen nach gestohlenen Gegenständen. Ihre Identität lässt sich nicht feststellen.
"Es gilt aufzuschreiben, was man nie wissen wird. Im Grunde weiß man nicht, was sich am 14. Juli ereignet hat. Die Berichte, die wir davon haben, sind spröde und lückenhaft. Die Dinge müssen von der namenlosen Menge aus betrachtet werden. Und man muss erzählen, was nicht geschrieben steht."
Schreibt Eric Vuillard – und genau das tut er. Selbstverständlich kennt er Hunderte von historiographischen Arbeiten zur Französischen Revolution, selbstverständlich hat er die Erinnerungen der Zeitgenossen gelesen und die Protokolle der Behörden studiert. Es geht ihm nicht um eine neue Lesart der Revolution und ihres Verlaufs. Es handelt sich nicht einmal in Ansätzen um eine systematische Schilderung der Ereignisse. Im Gegenteil, Vuillard beschränkt sich auf einige wenige Momente, da scheint er am Rande zu stehen und versucht zu verstehen: Wer rennt da mit Latten, Sensen oder Messern bewaffnet gegen die meterdicken Mauern der Bastille an? Wer ist das historische Rollkommando? Wer ist der Typ, der als erster den äußeren Ring der Zitadelle erklettert, verloren im Innenhof landet - und gleich erschossen werden wird. Seitenweise nennt er Namen, Berufe, Herkunftsorte von Menschen, die mit der Axt einen Riss in die Geschichte schlugen und entweder dabei umkamen oder deren Spur sich einfach verlor, nachdem sie ein paar Stunden lang wesentlich waren.
Der Pöbel macht Geschichte
Vuillard heroisiert die Namenlosen nicht. Er lässt keinen Zweifel: das war nicht der wahre Menschheitsadel noch die Avantgarde des Guten. Doch wenn er einige wenige Momente vor und während des 14. Juli 1789 aus der Perspektive dieses revolutionären Bodensatzes beschreibt, dann sprengt er die Sinn-Korsettagen, die Historiker dem Gang der Dinge angelegt haben. In Tausenden von Monographien hat man die Gründe dargelegt, die zur Französischen Revolution geführt haben: Die schlechten Ernten, die aberwitzige Staatsverschuldung, die massenhafte Verarmung durch den freien Handel, der Krieg um die amerikanischen Kolonien, die unfassbaren Verschwendungen am Hofe Louis XVI. All diese und noch ein paar mehr Umstände hätten vom Licht der Aufklärer ermutigt zur Revolution geführt. Mag schon sein, doch keiner der Menschen, die da massenhaft und fast unbewaffnet gegen ein Bollwerk der Herrschenden vorgehen, dürfte den geringsten jener Gründe kennen, die die Historiker ihnen später zuschreiben werden. Sie waren kein Werkzeug der Umstände, sie haben sie überschritten. Die meisten konnten kaum lesen noch schreiben, sie gehörten keiner politischen Partei an und hatten allenfalls äußerst vage politische Vorstellungen. Und wie alle, die mitten in der Geschichte stecken, hatten sie keinen Überblick über diese Geschichte.
Eine ganz neue Erzählweise
Offenbar bedient Eric Vuillard sich des stets gleichen Musters in seinen Büchern. Er erzählt von einem bekannten historischen Großereignis auf wenig über hundert Seiten so, als hätten wir noch nie davon gehört. Ob es nun um den Ersten Weltkrieg geht, um die Barbareien des belgischen Königs Leopold im Kongo, um das Dritte Reich. Er kennt sehr genau die zugänglichen Quellen, und wo die Quellen schweigen, imaginiert er Gefühle, Atmosphären, Stimmungen.
In der Festung wächst die Beunruhigung. Der Kommandant klettert auf die Türme, Er hört, tiefunten, die ungeheure Menge zetern, sieht sie ringsum brodeln wie siedende Ätzbeize. Es ist als wäre Paris von einem mächtigen Zauberstab berührt worden; von überall her ergießt es sich zwischen die gelblichen Gemäuer, durch die Gärten und entlang der Gräben. Überall Leute.
In der "14. Juli" erzählt er etwa von den letzten Minuten im Leben eines angeschossenen Revolutionärs. "Man muss erzählen, was nicht geschrieben steht", erklärt Vuillard. Man muss allerdings auch erzählen können, was nicht geschrieben steht. Und Vuillard erzählt so, als wäre die Fiktion die wahrere Version der Ereignisse. Er gibt den längst bekannten und reich dokumentierten Ereignissen die Unruhe des Moments zurück. Er bricht den Lack, den Historiker immer wieder neu über die Ereignisse gestrichen haben, auf. Er schildert ein winziges Detailproblem in allen Einzelheiten: Wie knackt man eine Zitadelle, wie stürmt man die Bastille? Und wie er davon erzählt, verschlägt einem den Atem. Augenblicklich ahnt man, das hätte alles schief gehen können. Nicht der sterbende Absolutismus, nicht die schauerliche Außenhandelsbilanz und schon gar nicht die Intrigen irgendwelcher Höflinge haben die Ketten der Zugbrücke gesprengt, keine Logik der Aufklärung das Loch ins Tor geschossen. Dieses monumentale Ereignis haben zerlumpte Amateure improvisiert. Historiker haben sie da rausgeschrieben. Unmöglich konnte der ungewaschene Pöbel die Tür zu unserem glänzenden Zeitalter aufgestoßen haben. Damit Liberté egalité fraternité zur ganz und gar verlogenen Chiffre unseres Zeitalters werden konnte, bedurfte es schon ansehnlicherer Akteure.
Eric Vuillard: "14. Juli"
Aus dem Französischen von Nicola Denis.
Matthes & Seitz, Berlin, 136 Seiten, 18 Euro.