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Erich Kästner-Erzählungen
Sarkasmus mit bitterer Note

Der Münchner Literaturwissenschaftler Sven Hanuschek hat ein knappes Dutzend Prosastücke von Erich Kästner aus den 20er und 30er Jahren der Vergessenheit entrissen und neu herausgebracht. Es sind Paradestücke für Kästners bitteren Sarkasmus und seine genialen Beschreibungen des einfältigen Staatsbürgers.

Von Eberhard Falcke | 23.08.2015
    Undatiertes Archivbild eines nachdenklichen Erich Kästners. Er war ein deutscher Schriftsteller, Drehbuchautor und Journalist, der vor allem für seine Kinderbücher (z. B. "Emil und die Detektive", "Das doppelte Lottchen")bekannt wurde.
    Portrait des Schriftstellers Erich Kästner (picture alliance / dpa )
    Er war so jung wie das Berlin der Zwanzigerjahre. Und er teilte mit der Stadt manche Erfahrungen. Von den fatalen historischen Entscheidungen, die dort ausgeheckt worden waren, hatte er den militaristischen Drill des Kaiserreichs am eigenen Leibe erlitten, den verlorenen Krieg und den Untergang des alten Regimes als Zeuge erlebt, er war dabei, als eine neue Zeit anbrach. Auf einmal entwickelte sich Berlin zur frischgebackenen Weltstadt der Zwanzigerjahre, zu einem Zentrum moderner Kultur und Sitten, wo Not, Aufruhr und Erneuerung mit einem hektischen Aufblühen von Kunst, Literatur, Theater, Film und Presse Hand in Hand gingen.
    Für dieses Berlin war Erich Kästner wie gemacht, für den empfänglichen doch trotzdem illusionslosen Blick auf den Zusammenstoß von alten Gefühlen und neuen Verhältnissen. Dafür fand Kästner in Gedichten und Prosa den treffenden Ton, der in Hirn und Herz zugleich zündete. Er gehörte zu jenen, die aus dem Tagesgeschäft des Feuilletons haltbare Literatur machten. Selbst dann, wenn es nur um die Ausflugsgewohnheiten der Großstädter ging.
    "Der Berliner Frühling findet in Werder statt. Sobald die Obstbäume blühen, macht man seinen Ausflug dorthin. Werder ist ein kleines Städtchen, hinter Potsdam, an den Havelseen gelegen. Man sieht, vom Dampfer aus, ein paar Türme. Dahinter erheben sich weißwattierte Hügel, als lägen Riesenfederbetten zum Lüften da. Der Blick lohnt sich schon. Aber die Berliner stehen im Verdacht, sie benutzten die Baumblüte nur als Vorwand: als einen Grund zum Trinken."
    "Berliner Baumblüte" heißt das Genrebild, das so beginnt. Es erschien im Mai 1932 im Dortmunder General-Anzeiger. Seitdem lag dieser verflossene Berliner Frühling im Dunkel der Archive. Nun aber hat ihn der Münchner Literaturwissenschaftler Sven Hanuschek wieder hervorgeholt, ebenso wie zehn weitere Prosastücke Kästners aus den zwanziger und Dreißigerjahren, die bislang nur auf flüchtigem Zeitungspapier einen kurzen Auftritt hatten. "Der Herr aus Glas" ist die Auswahl von Erzählungen betitelt, die Hanuschek im Zürcher Atriums Verlag, der vor 80 Jahren eigens für Kästners Buchveröffentlichungen gegründet wurde, herausgegeben hat.
    Die großen Bucherfolge, mit denen sich Kästner einen Namen als Schriftsteller und hohe Auflagen machte, basierten vor allem auf den Editionen seiner Gedichte, den Kinderromanen und dem Roman "Fabian". Gleichzeitig aber war die erzählerische Kurzprosa, von der heute insgesamt 140 Texte bibliografisch erfasst sind, für ihn zweifellos eine wichtige Gattung. Hanuschek hat davon insgesamt 42 Stücke in seinen Sammelband aufgenommen, die er, wie er erklärt, für die "besten und für das Bild dieses Schriftstellers überraschendsten" hält.
    Wie die Gedichte entstanden diese Erzählungen, die in der Rezeptionsgeschichte des Autors eher ein Schattendasein führten, überwiegend in der Zeitungsarbeit von Tag zu Tag. Kästner selbst sah sich als "Gebrauchslyriker", dessen Verse ohne Umstände verstanden und konsumiert werden konnten, womit er sich angriffslustig von den hohen Ambitionen der „reinen Dichter" abgrenzte. Entsprechendes gilt für seine kurze Erzählprosa, die vermittels Anschaulichkeit, Pointen und Fazit auf schnell erfassbare Wirkung angelegt ist. Auch die Stoffe, Beobachtungen und Betrachtungen sind in vielen Fällen von ähnlicher Art: Kästner hielt seinen Lesern einen Spiegel vor, in dem sie sich und die Charakteristika ihrer Zeit erkennen konnten, sei es realistisch, satirisch, polemisch oder humorvoll.
    Durchdachte Blütensammlung von Kästners Werk
    An den sozialen Verhältnisse und dem davon bestimmten Umgang der Menschen miteinander hob er vor allem die Härten, den Egoismus und die menschliche Kälte hervor. Sein Herz schlug links, auch wenn in seiner Brusttasche nie ein Parteibuch steckte. "Ein Menschenleben" heißt ein Text von 1923, der mit aller Schärfe und atmosphärischen Raffinesse deutlich macht, dass bei einem Proletarier, der jeden Tag zur Ausbeutung antreten muss, von Leben nicht die Rede sein kann.
    "Solange es eben ging, hatte er arbeiten gemusst. Jeden Morgen ... Noch lagen die Straßen leer und müd und übernächtigt. Die Schritte klapperten tönern auf dem Pflaster. Hinter grau verhängten, gähnenden Fenstern klirrten die Weckuhren. (Da standen sie jetzt auf. Mit eingekniffenen Augen. Und abwesenden Gesichtern.) ... Die Bäume in den Anlagen froren. Ein Vogel plusterte sich. Und hatte noch keinen Mut zum Singen. Und der Mond schwamm fahl in einen unendlich trostlosen Himmel hinaus ... Ein Lastwagen polterte in ein Brückenloch. Wie ein Sarg. Und auf dem Wagen stand ein kleiner Hund. Der kläffte wütend. Aber eigentlich nur aus Angst ... Plötzlich stand die Fabrik da. Schluckte ihn ein. Mit tausend andern."
    Allerdings befand sich Kästner mit derlei gegenwartskritischen Erzähltexten in großer, hochkarätiger Gesellschaft. Man denke nur an seine Kollegen bei der Zeitschrift "Weltbühne": Kurt Tucholsky, Ernst Toller, Walter Mehring, Alfred Polgar, Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger, Karl von Ossietzky. In seinen Gedichten dagegen war er unverwechselbar. Mit gutem Grund bezeichnete Hermann Kesten seinen fast gleichaltrigen Freund als "lyrischen Reporter seines Zeitalters". Das war seine Domäne, wo er viel weniger Konkurrenz als in der Prosa hatte.
    Sven Hanuschek versucht mit seiner Auswahl der Kästnerschen Erzähltexte keineswegs, die Gewichte innerhalb von dessen Werk zu verschieben oder neu zu bestimmen. Trotzdem ist sein Vorhaben, aus diesen meist verstreuten Arbeiten eine genau durchdachte Blütensammlung zusammenzustellen, von hohem Reiz. Die gut kommentierte Ausgabe kann erneut das Interesse an dem frischen und modernen Kästner der zwanziger, Dreißigerjahre wecken und bietet ein breites Spektrum an Inhalten und Formen, das Einsichten und Vergnügen zugleich garantiert.
    Zum Beispiel die Titelerzählung "Der Herr aus Glas". Was machte Kästner hier? Er erfand einen Dichter wie er selber ganz bestimmt keiner sein wollte. Anders als sein Autor wurde dieser Jarosmin mit einem goldenen Löffel im Mund geboren, durch Reichtum verhätschelt und gegen alles, was das wirkliche Leben ausmacht, abgeschirmt. Genauso sehen dann auch seine literarischen Ergüsse aus.
    "Es soll nicht unsere Aufgabe sein, den Gründen nachzugehen, die ihn zum Trugschluss führten, dass er wohl ein Dichter sei. Ob nur schlechte Bücher, das heißt: Bücher ohne Leidenschaften, oder auch schlechte Menschen außer ihm die Schuld daran trugen – genug, er verstand sich darauf, kleine Bücher zu schreiben, deren Herstellung ihm durch Kenntnis vorbildlicher Schriftsteller und durch Unkenntnis des Lebens sehr leicht von der Hand ging. Den geheimnisvollen Ernst des Lebens bedachte er darin mit lächelnder Ironie; aber sein Lächeln und seine Ironie nahm er geheimnisvoll ernst ... Er fand Beifall; denn er lebte in Kreisen, deren Glieder sich durch gegenseitige Bewunderung aufrechterhielten, und bei denen der Weihrauch billig war."
    Ungemilderter Sarkasmus mit sehr bitterer Note
    Es liegt auf der Hand, dass sich der 24-jährige, als dieser Text 1923 erschien, als Stratege im Literaturkampf positionierte: Seht her, ließ sich da als programmatische Aussage herauslesen, ich bin anders, ich werde bei meiner Kunst das Leben nicht aus den Augen verlieren. Zu dieser Zeit hatte der aus Dresden gebürtige junge Schriftsteller an seinem Studienort Leipzig als Feuilletonautor gerade Fuß gefasst, bald wurde er Redakteur. Er schrieb, wie er sagte, "wie ein Kaninchen" Artikel und machte Furore, sogar im politischen Ressort, bis man ihn dort wegen zu großer Radikalität wieder hinauskomplimentierte. Allmählich fand er seine Themen und seinen charakteristischen Ton. Im Sommer 1927 folgte dann der Sprung nach Berlin. Sein Auftrag lautete, als Berichterstatter und Kritiker über das dortige kulturelle Leben zu berichten und damit stand ihm die neueste Hauptstadt der Moderne offen, mit ihren Theatern, Kinos, Ausstellungssälen, mit ihrem ganzen sozialen Treiben.
    Ein besonderes kritisches Gespür entwickelte Kästner für die Mechanik des sozialen Lebens mitsamt den dazugehörigen Rollenspielen. Die Erzählung "Spuk in Genf" von 1928 thematisiert die latente Angst des Bürgers vor dem Proletarier, der sich nicht länger ducken will.
    "In einer Sommernacht dieses Jahres geschah am Quai du Mont Blanc in Genf– wenige Schritte vom Völkerbundpalast entfernt, vor dem Kaffeehaus „La Régence" – etwas recht Merkwürdiges. Knapp vor Mitternacht saßen an den Tischen, die auf dem Trottoir stehen, viele elegante Gäste und tranken, vor dem Zubettgehen, noch irgendwelche eisigen Getränke. Die Kapelle spielte, unter freiem Himmel, Partien aus berühmten Opern. Und alle Menschen, die hier saßen, spürten wohltuend, was sie miteinander verband: Die Pässe und die Brieftaschen waren in Ordnung. Da stand plötzlich ein Hafenarbeiter mitten auf der Straße ... Braungebrannt sah er aus und muskulös. Statt des Hemds trug er ein verschossen violettes Trikot ohne Ärmel, und statt des Gürtels eine breite schmutzig rote Schärpe. Er schwenkte ein halbleeres Bierglas in der Hand und nickte den Kaffeehausgästen, die ihn ungern bemerkten, lächelnd zu."
    Beim Lächeln des Arbeiters bleibt es nicht. Stattdessen bekommen die feinen Leute eine kleine Kostprobe vom Unmut, der in den unteren Schichten rumort, und der Schrecken ist groß. Auf der anderen Seite des sozialen Spektrums stehen jene, die den Bürger nicht erschrecken, sondern sich in dessen Sphären einschleichen wollten: die Hochstapler, die Betrüger, die Heiratsschwindler, kurz: die Maskenspieler des sozialen Status, denen Kästner eine ganze Reihe von Erzählungen gewidmet hat. Daneben gibt es den Typus des allzu braven Angestellten wie Herrn Klein, der außerhalb des Büros nicht weiß, was er mit sich anfangen soll. Oder den scheuen doch sehnsuchtsvollen Sonderling Johann Baptist Krügel, der sich anstellt, als hätte er sich aus der guten alten Zeit des Biedermeier in eine seelisch ausgekühlte Moderne verlaufen.
    Sven Hanuschek, der Herausgeber, gehört zu den gegenwärtig maßgeblichen Kästner-Koryphäen. Die Prinzipien seiner Auswahl von Erzählungen erklärt er unter anderem wie folgt:
    "Es wurde versucht, das Experimentier-Labor, das kürzere Prosa für Kästner darstellte, mit seinem ganzen Repertoire vorzustellen."
    Was an den hier versammelten Texten vielfach ins Auge fällt, ist Kästners damals noch völlig ungemilderter Sarkasmus mit oftmals sehr bitterer Note. Sein Erzählstil zur Zeit der Weimarer Republik war geprägt von lapidar serviertem Humor und Witz, von satirischen Spitzen und gekonnt beiläufig gesetzten Illusionsbrüchen. Sentimentalität gibt es auch, doch die ist von jener Art, bei der kein Auge feucht wird. Der manchmal gewiss glühende Zorn über Ungerechtigkeiten wird meist virtuos kaschiert, trotzdem bleibt er spürbar. An Ursachen für solchen Zorn fehlte es Kästner nicht. Zwar musste er nicht mehr an die Fronten des Ersten Weltkriegs, aber der militaristischen Zurichtung zum Soldaten und Untertanen, mit der es nach dem Krieg im Allgemeinen ja keineswegs zu Ende war, wurde er als Einjährig-Freiwilliger schonungslos unterworfen. Über diese traumatische Erfahrung schrieb er 1929 nicht nur das Gedicht "Sergeant Waurich" sondern im selben Jahr die inhaltlich verwandte Erzählung "Duell bei Dresden". Da trifft der Lebensmittelchemiker Graff im Zivilleben wieder auf den Oberleutnant, der ihn einst so geschunden hat, dass er, wie Kästner selbst, einen Herzfehler davontrug. Auf dieses Wiedersehen wartet er, darauf hat er sich vorbereitet.
    "Nur zu einer Leidenschaft hatte er noch den Mut, zum Hass! Er übte sich jahrelang im Pistolenschießen – im Garten eines Freundes – und brachte es zu ungewöhnlicher Fertigkeit. Die Schießscheibe, die er sich selber gemalt hatte, einen Offizier im grünen Rock und mit gewichstem Schnurrbart, traf er, auf jede gangbare Distanz, mitten ins Herz. Graff wartete auf die Gelegenheit."
    Die Gelegenheit kommt, Graff fordert seinen Peiniger zum Duell. Doch dann nehmen die Dinge einen Verlauf, der aller Gerechtigkeit wieder einmal hohnspricht.
    Im Witz erhebt sich der Mensch über die Bürden des Lebens
    Noch viele Geschichten wären es wert zitiert zu werden. Ein großes Amüsement sind die fünf Folgen der "Reisen des Amfortas Kluge", eine Mischung von Abenteurer- und Schelmengeschichte, Techniksatire und komischer Zukunftsfantasie. In "Ein Musterknabe" illustrierte Kästner seine bis ins Alter gültige Überzeugung, dass ein Mensch, der kein Kind sein durfte, auch als Erwachsener nichts Rechtes werden kann. "Das Märchen von der Vernunft" malt den durchaus politisch gemeinten kühnen Traum aus, dass die Reichen und Staatsmänner womöglich so vernünftig wären, dass man von ihnen die entscheidende Verbesserung der Welt erhoffen könnte. Die "Briefe an mich selber", die etwa 1940 entstanden, geben eine Vorstellung von der Isolation eines verbotenen Schriftstellers, der nur Weniges ausnahmsweise und unter Pseudonym veröffentlichen konnte.
    Der Herausgeber Sven Hanuschek widerspricht in seinem Nachwort der lange verbreiteten Annahme, dass Kästner viele seiner Stoffe dem eigenen Leben entnommen habe. Was jedoch nicht ausschließen muss, dass er gelegentlich eigene Charakterzüge oder Marotten aufgriff, um ihre möglichen Folgen erzählerisch auszuspinnen. Die Erzählung "Sebastian ohne Pointe" könnte so ein Fall sein. Die Eigenheit in Gesellschaft nicht besonders redselig gewesen zu sein, die man dem Autor nachsagt, hat er für diesen Sebastian bis zur idiotischen Dialogunfähigkeit gesteigert und die katastrophalen Folgen geschildert, zu denen eine soziopathische Außenseiterrolle im schlimmsten Fall führen kann.
    "Sebastian Stock war ein glänzender Gesellschafter; er konnte geradezu für ein Genie der Konversation gelten – solange er allein war. Er litt am Dialog. Das ist eine Manie, die als Berufskrankheit der dramatischen Schriftsteller gilt. Freilich, harmlos klingt diese knappe Beschreibung nur dem, der jenen Jammer nie erfuhr. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Spielart des Verfolgungswahnes, der hier zwar an keine gegenständlichen Komplexe, dafür aber an eine ganz bestimmte Ausdrucksform (eben an den Dialog) gebunden ist."
    Anders als diesem Sebastian fehlte es Kästner selbst nie an einer humoristischen, sarkastischen, ironischen oder grotesken Pointe. Im Witz erhebt sich der Mensch über die Bürden des Lebens, die ihm zusetzen. Diese Souveränitätstechnik beherrschte Kästner hervorragend. Sie machte nicht den geringsten Teil seines Stils aus, damit bewahrte er sich seine geistige und habituelle Freiheit. Wie viel Lebensbewältigungskraft Kästners Tonfallartistik ausstrahlen konnte, zeigt die Art, in der er 1944 unter dem demonstrativ harmlosen Titel "Mama bringt die Wäsche" die Zerstörung seiner Wohnung durch Fliegerbomben in Prosa umsetzte.
    "Vorgestern nacht war nun also meine Wohnung an der Reihe. Ein paar Kanister 'via airmail' eingeführten Phosphors aufs Dach, und es ging wie das Brezelbacken. Geschwindigkeit ist keine Hexerei. Dreitausend Bücher, acht Anzüge, einige Manuskripte, sämtliche Möbel, zwei Schreibmaschinen, Erinnerungen in jeder Größe und mancher Haarfarbe, die Koffer, die Hüte, die Leitzordner, die knochenharte Dauerwurst in der Speisekammer, die Zahnbürste, die Chrysanthemen in der Vase und das Telegramm auf dem Schreibtisch: 'ankomme 16. früh anhalter bahnhof bringe weil paketsperre frische wäsche persönlich muttchen.' Wenigstens einer der Schreibmaschinen wollte ich das Leben retten. Leider sausten mir schon im dritten Stock brennende Balken entgegen. Der Klügere gibt nach."
    Auf den Wegen des Erfolgs ging vieles verloren, was den Kästner der Weimarer Republik auszeichnete
    Die Berliner Jahre von 1927 bis 1933 waren, wie Sven Hanuschek in seiner Kästner-Biographie hervorhebt, dessen produktivste Zeit. Dann wurden am 10. Mai 1933 Kästners Gedichtbände und sein Roman "Fabian" von den Nazis auf dem Berliner Opernplatz verbrannt. Robert Gernhardt, der in dem Gebrauchslyriker einen poetischen Geistesverwandten sah, stellte rückblickend die Frage, warum der Lyriker Kästner, trotz mancher weiterer Versproduktion, doch im Wesentlichen verstummt sei. Eine einfache Antwort gibt es darauf nicht. Dazu beigetragen haben könnte aber die allmähliche Verschiebung seiner Arbeit in die Sphären der Unterhaltungsindustrie mit Verfilmungen und anderen populären Verwertungen seines Werkes. Da musste manche Spitze abgeschliffen und Vieles ins Gefälligere umgebogen werden. Gut nachvollziehbar wird das an der Erzählung "Inferno im Hotel" von 1927. Peter Sturz, ein armer Mann, gewinnt in einem Preisausschreiben den Aufenthalt in einem alpinen Luxushotel. Kaum angekommen, wird ihm mit aller Gründlichkeit klar gemacht, dass er dort fehl am Platze sei.
    "Die Angestellten waren grausamer als die Gäste. Es schien, sie hätten sich auch an ihm zu rächen, da sie gezwungen waren, einen Kerl zu bedienen, den sie verachteten. Sie quälten ihn voll böser Lust; sie ertrugen es nicht, sein Herz auch nur eine Stunde unverletzt zu lassen; sie verbreiteten alle seine Irrtümer, damit man ihn verlache. Vom Zimmermädchen erfuhren alle, die es wissen wollten (und andere auch), Sturz halte die Tür zu seinem Badezimmer für eine nachbarlich verschlossene Tür und habe noch nicht gebadet."
    Einige Wochen nach seiner Heimkehr vollendet Sturz das Schicksal, das in seinem Namen angedeutet ist, und begeht gemeinsam mit seiner Frau Selbstmord - ein schlimmes Ende, das in diesen Erzählungen etlichen weiteren Figuren zuteil wird, die an sozialer Verzweiflung leiden. In dem beliebten Roman "Drei Männer im Schnee" hingegen, mit dem Kästner 1934 den gleichen Stoff weiterentwickelte, verwandelte sich das Elend des armen Mannes mit Hilfe eines netten Millionärs in eine Erfolgs- und Aufstiegsgeschichte. In den Fünfzigerjahren wurde daraus eine zeittypische Schmunzelkomödie fürs Familienkino.
    Mit anderen Worten: Auf den Wegen seines Erfolgs ging vieles von dem verloren, was den Kästner der Weimarer Republik auszeichnete. So hat es seinen Sinn, dass Sven Hanuscheks aufs Exemplarische zielende Edition von Erzählungen den Kästner in Erinnerung bringt, auf den noch nicht der Schatten jener allzu leichten Musen fällt, mit denen er sich später einlassen sollte. Natürlich kann es kein neues Licht sein, das Hanuschek damit auf Kästner wirft. Aber er bietet viele wertvolle Anregungen, einige Winkel dieses Schriftstellerlebens besser auszuleuchten.
    Erich Kästner: Der Herr aus Glas. Erzählungen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Sven Hanuschek. Atrium Verlag, Zürich 2015. 300 Seiten, 22,99 Euro.