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Erich Mühsam: „Tagebücher“
Anarchismus als Lebenskultur

Der Berliner Verbrecher Verlag komplettiert seine 15-bändige Werkausgabe von Erich Mühsams Tagebüchern. Ein "Zug zur Utopie, zum Träumerischen" stecke in den Schriften, sagte Mitherausgeber Chris Hirte im Dlf. Das sei der Dynamo gewesen, der Mühsam angetrieben habe.

Chris Hirte im Gespräch mit Miriam Zeh | 08.07.2019
Der ermordete Schriftsteller Erich Mühsam und eins seiner Tagebücher
Er schrieb satirische Gedichte, Bühnenstücke, Pamphlete und ein umfangreiches Tagebuch: der Schriftsteller und Anarchist Erich Mühsam (Buchcover Verbrecher Verlag / Autorenportrait dpa)
Miriam Zeh: Im Jahr 2011 begann der Berliner Verbrecher Verlag mit einer Werkausgabe der Tagebücher von Erich Mühsam. Der Schriftsteller und Anarchist war nicht nur eine zentrale Figur der Münchner Bohème. Mühsam war auch maßgeblich an der Ausrufung der Münchner Räterepublik beteiligt. Hundert Jahre nach dem Scheitern dieser "Dichterrepublik" im April 1919 ist die Werkausgabe der Tagebücher Erich Mühsams nun abgeschlossen. 15 Bände sind es geworden, Tausende Seiten und Abertausende Wörter. Aber der allerletzte Tagebucheintrag, der besteht nur aus einem einzigen Wort: "Frei!" Das notiert Mühsam am 20. Dezember 1924.
Herr Hirte, Sie sind Mitherausgeber der Erich Mühsam-Tagebücher und können uns wahrscheinlich am besten erklären, was dieses Wort für Erich Mühsam bedeutete?
Chris Hirte: Das ist tatsächlich sein letztes Wort eines sehr, sehr langen Tagebuches, das er 1910 angefangen hat. Das Wort steht am Ende von fünfeinhalb Jahren Festungshaft in einem bayrischen Gefängnis, das eher Zuchthausbedingungen hatte.
Kaum Hoffnung für Spartakisten
In dieser Zeit, in diesen fünfeinhalb Jahren, hat er –grob gerechnet – fünfeinhalb tausend Seiten geschrieben über sein Leben in dieser Festungshaft, über seinen Kampf für die Verbesserung von Haftbedingungen, über seinen Kampf um Amnestie und seine juristische Verteidigung für sich und seine Mitgefangenen. Er wusste, dass diese Mitgefangenen, als Spartakisten gebrandmarkt, unter illegalen Bedingungen verurteilt worden waren 1919. Mühsam hatte Glück, dass er nur zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt wurde. Es waren alles Überlebende in dieser Festungshaft, die dort für manchmal lächerliche oder nur erfundene Vergehen über viele Jahre büßen mussten. Mühsam hat sie begleitet. Er hat diesen ganzen Komplex, der sich dort abspielte, geistig verarbeitet, analysiert und in Form gebracht, die nicht nur den Zeitbezug brachte, sondern überhaupt den großen Blick auf alles, was geschehen war. Mit Hinblick auf die Utopie, die nach wie vor für ihn wie für andere hieß: Der Kapitalismus wird besiegt werden durch eine große Revolution, durch die Weltrevolution. Diese Weltrevolution, daran glaubte er fest, wird eines Tages siegen, insofern dass der Kapitalismus beseitigt wird und die Menschen selbst über ihr Schicksal bestimmen können.
Ein Tagebuch, um das Leben zu ordnen
Zeh: 15 Jahre zuvor hatte Erich Mühsam seine Tagebücher begonnen. Am 22. August 1910 fasste er den Entschluss und im ersten Eintrag heißt es fast ein bisschen beiläufig: "Bei strömendem Regen war ich eben unten im Dorf, um mir dieses Heft zu kaufen. Es soll mein Tagebuch sein."
Welche Rolle spielt dieses Tagebuch daraufhin in Mühsams Leben?
Hirte: Das war offenbar ein spontaner Entschluss in einem Schweizer Kurheim, als er sich langweilte und über sein Leben nachdachte. Er war dort in der Kur gelandet, weil er mit den Nerven runter war. Seine Gesundheit war am Ende und er musste sein Leben ändern. Nachdem er 1910 – man kann sagen: zehn Jahre lang als Anarchist wild durch die Gegend getobt war, auf Marktplätzen für die Anarchie geworben hat, Reisen gemacht hat nach Italien, Frankreich und überall hin, Pamphlete geschrieben, Gedichte geschrieben hat, die schrägsten Affären nach allen Seiten gepflogen hat – alles zusammen hatte ihn am Ende kaputt gemacht. Und er begriff irgendwann, mit 32 Jahren: Ich muss mein Leben unter ein Motto stellen. Ich muss es organisieren, sodass mein Anarchismus ein Vorbild sein kann für andere, und zwar als ein Versuch, ein Leben zu leben ohne andere zu beherrschen und ohne sich selbst beherrschen zu lassen.
Mehr als Sprüche und Parolen
Das war der Grundkonsens des Anarchisten, die herrschaftsfreie Gesellschaft anzustreben - und zwar nicht nur mit Parolen und Sprüchen. Mühsam ging einen Schritt weiter und sagte: Ich versuche in meinem Privatleben den Anarchismus auszuprobieren. Was ist gut? Was darf ich? Was ist eher schlecht? Darüber muss ich mich mit mir auseinandersetzen und dazu brauche ich das Tagebuch, um festzuhalten, dass Anarchismus nicht nur eine Theorie ist, sondern auch eine Lebenskultur. Und viele Dinge, die er da für sich entwickelt hat, das waren Ansprüche an das Leben oder Normen ans Leben, die erst hundert Jahre später in den 60er/70er Jahren in Deutschland zum Thema wurden und von denen wir heute sagen können, das ist eigentlich jetzt selbstverständlich: wie man miteinander umgeht, wie man mit Frauen umgeht, wie man mit Untergebenen, mit Chefs umgeht. All diese Umgangsformen, all diese Ansprüche ans Leben und an sich selbst, das hat Mühsam für sich selbst mit seinem eigenen Leben erarbeitet und im Tagebuch festgehalten.
Opfer einer autoritären Erziehung, aber kein Untertan
Zeh: Hatte er beim Schreiben schon seine zukünftigen Leserinnen und Leser im Kopf?
Hirte: Er war von Anfang an Schriftsteller. Und wenn ein Schriftsteller ein Tagebuch führt, denkt er natürlich an die Nachwelt. Als er es schrieb, hat er das Tagebuch niemandem gezeigt und nur engsten Freunden manchmal daraus vorgelesen, weil er ja auch nicht sicher sein konnte, wohin das führt. Ob das irgendwann, was er im Jahre 1912 stolz hingeschrieben hat, später noch vorzeigbar war. Das Spannende an den Tagebüchern ist ja dieses Versuchsstadium, dass er sich hineinstürzt in die Dinge, sie erlebt und dass er seine Irrtümer selbst organisiert, um sie dann auszuwerten. Das macht den Reiz dieser Tagebücher aus – auch die Irrwege, die er begangen hat, mit einer gewissen Lust. Denn er wusste, nur aus Irrtümern lernt man. Er wollte ja kein Oberlehrer werden.
Zeh: Sie haben schon gesagt, Erich Mühsam wandte sich gegen jede Form von Autorität, auch gegen Formen von Gewalt und Unterdrückung. Außerdem war er sehr enttäuscht von der deutschen Sozialdemokratie. Wie sah seine politische Utopie aus?
Hirte: Er wurde erwachsen mit dem Bewusstsein, dass er einer der wenigen war, die durch die Erziehung nicht gebrochen worden, kein Untertan geworden war, sondern dass er lieber aus dem sozialen Halt, in den hineingeboren war, ausstieg. Das heißt, er hatte von Anfang an an sich selbst einen Freiheitsanspruch, immer auch verbunden mit dem Stolz, dass es keinen gab, der ihn brechen konnte. Er konnte zwar gezwungen werden, aber wenn er hingeworfen wurde, stand er auf und machte genauso weiter wie vorher.
Sozialdemokraten sind ihm "ein Dorn im Auge"
Sein Anarchismus bestand darin, dass er davon überzeugt war: Wenn alle so unbeugsam leben würden wie ich, dann gäbe es keine Ausbeutung mehr, dann würde sich niemand mehr in den Krieg schicken lassen, dann wäre Frieden auf der Welt und die Utopie erreicht. Er wusste natürlich, dass das so einfach nicht geht. Aber seine Arbeit bestand darin, möglichst viele Menschen von seiner Haltung zu überzeugen durch Gedichte zum Beispiel, damit er sie für seinen Blick auf die Welt begeisterte und mitriss.
Die Sozialdemokraten waren ihm ein Dorn im Auge, weil sie ihren Frieden machten mit den kapitalistischen Verhältnissen, um zum Beispiel eine gute Sozialpolitik zu leisten – aber eben unter der Voraussetzung, dass an den politischen Machtverhältnissen nicht gerüttelt wird. Das hat ihn natürlich empört. Er landete immer wieder beim Anarchisten, der als Einzelkämpfer unbeugsam die Menschenrechte für sich allein und damit auch für die ganze Menschheit vertritt.
Seiner Zeit 100 Jahre voraus
Zeh: Dieses Durchhalten im Kampf gegen Unterdrückung, für die Menschenrechte. Ist das etwas, das wir auch als heutige Leserinnen und Leser aus den Tagebüchern von Erich Mühsam noch mitnehmen können oder wo sehen sie die Aktualität dieser Schriftstücke?
Hirte: Wenn man die Tagebücher liest, dann merkt man an der Lebendigkeit, wie Mühsam seine Zeit erlebt und verarbeitet, dass das bis heute frisch geblieben ist. Er war seiner Zeit um 100 Jahre voraus. Und man kann gar nicht genug davon erfahren, wie er seine Zukunftswelt entfaltet für eine Zukunft, die wir heute schon zum Teil haben und zum Teil immer noch nicht und wahrscheinlich nie bekommen werden. Aber dieser Zug zur Utopie, zum Träumerischen, das steckt natürlich auch drin. Das war der Dynamo, der ihn antrieb.
Mühsams Witwe rettet die Tagebücher und riskiert ihr Leben
Zeh: In der Nacht des Reichtagsbrandes wurde Erich Mühsam von den Nationalsozialisten dann verhaftet und 1934 ermordet im Konzentrationslager Oranienburg. Was geschah daraufhin mit seinen Tagebüchern?
Hirte: Die Tagebücher wurden von seiner Frau und dann Witwe Mühsam Zenzl Mühsam gerettet. Sie musste am Tag der Beerdigung Erich Mühsams über die grüne Grenze in die Tschechoslowakei fliehen, ins Prager Exil. Was dann passierte, ist ein Roman für sich. Der Inhalt der Tagebücher hatte das Interesse des sowjetischen Geheimdienstes erweckt. Zenzl Mühsam wurde nach Moskau eingeladen, in die Sowjetunion, um sich zu erholen. Und sie wurde dazu überredet, den ganzen Nachlass von Erich Mühsam in die Sowjetunion zu schaffen. Sie hat dort am Ende, um es kurz zu machen, 18 Jahre im Gulag zugebracht. Sie hatte keinen Zugriff auf das Tagebuch und auf den Nachlass. Erst 1954 kam sie in die DDR zurück und die Tagebücher kamen als Mikrofilm-Kopien in die Akademie der Künste Ostberlin.
In der DDR liegt Mühsams Nachlass teilweise "unter Verschluss"
Zeh: Diese abenteuerliche Editionsgeschichte geht dann in der DDR noch weiter und sie ist vor allem geprägt von dem großen persönlichen Engagement von Ihnen, Herr Hirte. Was waren da die größten Herausforderungen, die sie bewältigen mussten, bis jetzt diese historisch-kritische Ausgabe im Verbrecher Verlag vorliegt?
Hirte: Ja, wenn ich da zurückblicke, sind es schon eine ganze Menge Jahre. Ich habe als junger Lektor 1975 im Verlag "Volk und Welt" den Auftrag bekommen, eine Erich Mühsam-Ausgabe zu machen. Während der Arbeit stellte sich heraus, dass im Tresor der Akademie der Künste noch sehr, sehr viele Mühsam-Nachlass-Texte liegen, an die man aber nicht rankam, weil sie "unter Verschluss" standen, so hieß es. Der Verlag hat versucht über das Kulturministerium einen großen Editionsplan aufzustellen und umzusetzten. Das dauerte Jahre. Am Ende lagen dort Abschriften von etwa 8000 Manuskriptseiten da, die man in dieser Form natürlich überhaupt nicht veröffentlichen konnte. Dazu wäre sehr viel Erschließungsarbeit gewesen. Das blieb also liegen.
Aufbereitung von Online-Edition und Buchausgabe
Und nach dem Untergang der DDR packte ich meine Sachen im Verlag und rettete, was da dort noch mitzunehmen war, und da waren die riesigen Aktenberge mit grauem Durchschlagpapier: Erich Mühsams Tagebuchabschriften. Die lagen bei mir zu Hause, nahmen Platz weg und waren auch eine Mahnung: Hier muss noch was passieren! Das kann so nicht bleiben. Dann kam 1994 eine kleine Tagebuch-Auswahl bei dtv. Die erregte ein bisschen Aufsehen und so ging es weiter, bis ich Conrad Piens traf im Jahre 2010. Von dem wusste ich, er ist Informatiker, Mühsam-Fan. Er hat auch eine Erich Mühsam-Website gehabt. Und es ergab sich sehr schnell, dass er bereit war, mit mir zusammen diese offenbar nicht zu veröffentlichen 7.500 Seiten Tagebücher, aufzubereiten wie ein Buch, den Text sauber zu edieren und ins Internet zu stellen. Das haben wir angefangen und an dem Punkt kam der Verbrecher Verlag ins Spiel, der sich sofort bereiterklärte, parallel zu der Internet-Edition eine Buchedition zu machen, sodass man immer die Wahl hat, das Buch zu kaufen oder im Internet den Text zu lesen. Es ist also auch eine kleine anarchistische Idee, dass die kulturellen Inhalte nicht mit einer Zahlschranke versehen werden, sondern jeder sie in der Weise nutzen kann, wie er möchte: als Buch oder als Internetedition.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Erich Mühsam: "Tagebücher", Band 1 – 15
herausgegeben von Chris Hirte und Conrad Piens, Verbrecher Verlag, Berlin