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Erika Steinbach: "Es gibt niemals ein Recht auf Rache"

Vertriebenen-Präsidentin Erika Steinbach hat die vor 60 Jahren unterzeichnete Charta der Heimatvertriebenen als einen historischen Akt der Versöhnung und Selbstüberwindung bezeichnet. Damals hätten entwurzelte Menschen ihre Bereitschaft zum Aufbau eines friedlichen Deutschlands erklärt, sagte Steinbach.

Erika Steinbach im Gespräch mit Jasper Barenberg | 05.08.2010
    "Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung."

    Jasper Barenberg: Ein wichtiger Satz aus der sogenannten Charta der deutschen Heimatvertriebenen, verabschiedet heute auf den Tag vor 60 Jahren in Stuttgart, eben dort wird der Bund der Vertriebenen heute das Ereignis würdigen. Der Bund der Vertriebenen - er preist den Text als Dokument der Versöhnung. Kritiker sehen darin aber ein Zeugnis der Verdrängung. Wir sprechen gleich darüber mit der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, mit der CDU-Politikerin Erika Steinbach.

    Wer am 5. August 1950 nach Stuttgart kam, der hatte nach dem Zweiten Weltkrieg seine Heimat in Mittelost- oder Südosteuropa verloren oder war geflohen oder vertrieben worden und oft noch ohne neues Zuhause in einem Land, das in Trümmern lag und das hungerte. In ihrer Charta fordern die Heimatvertriebenen ein Recht auf Heimat, sie versprechen, auf Rache und Vergeltung zu verzichten, sich am Wiederaufbau des Landes zu beteiligen und an einem geeinten Europa mitzuwirken. Ein wegweisendes Dokument der Versöhnung also, wie es der Bund der Vertriebenen ein ums andere Mal gepriesen hat, oder wären nach 60 Jahren auch selbstkritische Töne angezeigt? Darüber und über den weiter schwelenden Streit über die Stiftung Flucht, Vertreibung und Versöhnung wollen wir in den nächsten Minuten mit der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen sprechen. Einen schönen guten Morgen, Erika Steinbach!

    Erika Steinbach: Einen schönen guten Morgen!

    Barenberg: Die Charta der Heimatvertriebenen, ist es in Ihren Augen ein Dokument der Versöhnung, der moralischen Größe und gilt das für Sie nach 60 Jahren auch noch immer ohne Einschränkung?

    Steinbach: Diese Charta gehört zu den großen Manifestationen Europas und das ist keine Beschreibung, wie ich sie gegeben habe oder der Bund der Vertriebenen, sondern das ist die Formulierung, die der Bundesrat gewählt hat in einer Entschließung im Jahre 2003. Und man muss feststellen - und das ist auch sehr erfreulich -, dass alle Bundesregierungen, egal welcher Couleur, alle Bundesregierungen diese Charta als einen Markstein in der Geschichte unseres Landes und unserer Demokratie bewertet und auch gepriesen haben, und damit zeigen sie, wie wesentlich der Tag damals, heute vor 60 Jahren, gewesen ist.

    Barenberg: Worin liegt für Sie die Bedeutung als Markstein, wie Sie es sagen?

    Steinbach: Die Bedeutung liegt darin, dass entwurzelte Menschen, die in einem erheblichen Ausmaße in schrecklichem Elend immer noch lebten ... in Berlin gibt es noch zum Beispiel den Bunker zu besichtigen, wo auf sechs Quadratmetern immer vier Menschen untergebracht waren und kein Fenster in den Räumen war, andere waren zwangseinquartiert und das eigentlich schlimmste Gefühl war für die Menschen, dass ihnen keine freundliche Hilfestellung und Zuwendung von ihren einheimischen Nachbarn überwiegend entgegengebracht wurden, sondern dass sie mit Ablehnung konfrontiert waren. Sie wurden als Zigeuner beschimpft. Meiner Mutter hat ein schleswig-holsteinischer Bauer mal gesagt, als sie ein wenig Milch nur für meine sehr kranke, kleine Schwester brauchte: Ihr seid ja schlimmer als die Kakerlaken. Also dieses Gefühl, auf der einen Seite keine Heimat mehr zu haben, nichts als das, was man auf dem Leibe getragen hatte, und dann noch hier anzukommen und dann abgelehnt zu werden, wobei die Vertriebenen ja im Grunde genommen in eine Kollektivhaftung genommen worden sind für eine Politik, die ja auch von den Westdeutschen in Teilen mitgetragen worden ist. Also insofern gab es da einen riesigen Komplex an materieller, aber auch an seelischer Not.

    Barenberg: Jetzt haben Sie den Aspekt der Versöhnung gar nicht erwähnt.

    Steinbach: Die Versöhnung ist und das kommt hinzu, auf der einen Seite das, was materiell eingefordert wird, sie fordern die Vertriebenen-Gleichberechtigung mit den Einheimischen, und auf der anderen Seite - und das halte ich für einen Akt der Selbstüberwindung - zu sagen: Wir wollen uns nicht klagend in die Ecke setzen, sondern wir wollen mit unserer Hände Arbeit Deutschland und Europa aufbauen und dazu beitragen, dass die Völker Europas in Frieden miteinander leben können. Und auch das ist eine Botschaft, die für unseren Kontinent und auch für das, was die Europäische Union heute ausmacht, von enormer Bedeutung ist und die auch ihre Bedeutung bis heute nicht verloren hat. Die Vertriebenen hätten damals leicht auch einen anderen Weg nehmen können. Die Politik war schon besorgt: Wie entwickelt sich dieses Massenelend? Entwickeln sich aggressive Strömungen? Dann hätte es sein können, dass wir Entwicklungen gehabt hätten, wie es so im palästinensischen Bereich zu beobachten ist, wo Jahrzehnte auch nach der Vertreibung von Menschen keine Ruhe einkehrt, sondern nach wie vor Gewalt an der Tagesordnung ist. All das wurde mit diesem Tag in den Weg des Friedens und der Versöhnung geleitet.

    Barenberg: Umso mehr wird ja auch immer betont, dass die Heimatvertriebenen auf Rache und Vergeltung verzichten in diesem Dokument. Ist das nicht auf der anderen Seite aber eine Anmaßung gegenüber den anderen Opfern des Dritten Reiches, wenn man quasi unterstellt, es hätte ein Recht gegeben der Rache, und Sie verzichten großzügig darauf?

    Steinbach: Es gibt niemals ein Recht auf Rache, und dennoch geschieht Rache tagtäglich. Der eine glaubt, mir ist Unrecht widerfahren und da werde ich dem das mit der gleichen Münze wieder heimzahlen. Wir sehen es doch: Ich bin nun menschenrechtspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und habe da mit diesen Komplexen von Vertreibung, die heute stattfinden, und dem, was sich an Rache daraus und neuen Vertreibungen entwickelt, nun tagtäglich zu tun. In aller Regel ist es nicht so, dass immer ein Weg der Versöhnung und des Friedens sehr schnell gefunden wird und von den Betroffenen selber auch noch freiwillig und offensiv gewollt und bewusst gegangen wird, und insofern ist das schon ein ganz ausdrücklicher Akt der Versöhnung. Und wenn Sie ansprechen, dass dort nicht nachdrücklich genug auf den Nationalsozialismus eingegangen worden ist: Es ist natürlich die Formulierung drin, dass es unendliches Leid gegeben hat in dem vergangenen Jahrzehnt, und ...

    Barenberg: ... und dass die Vertrieben am meisten von diesem Leid und am meisten unter diesem Leid gelitten haben in der Zeit. Ist das heute noch zeitgemäß?

    Steinbach: Sie müssen sich - und das hat seinerzeit Bundeskanzler Gerhard Schröder sogar sehr treffend gesagt -, man muss sich dieses Dokument in der Zeit vorstellen.

    Barenberg: Umso mehr ist ja die Frage, Frau Steinbach, ...

    Steinbach: 1950 - der Krieg war schon fünf Jahre zu Ende. Den Westdeutschen und denen in Mitteldeutschland ging es schon wesentlich besser, aber die Vertriebenen waren die Entwurzelten. Und da sage ich meinem Stiefgroßvater, der im Dritten Reich in einem KZ mehrfach gesessen hat, weil er politisch nicht die Meinung vertreten hat. Der hatte 1950 eine riesige Wohnung, obwohl Berlin sehr zerstört war, das heißt also: Die, die Verfolgte gewesen sind im Nationalsozialismus, die waren in dieser Situation dann auch materiell besser dran als die Vertriebenen. Und vor dem Hintergrund der Zeit, der Zeitpunkt ist wichtig, an den wir uns zurückerinnern müssen.

    Barenberg: Natürlich, Frau Steinbach, deswegen stelle ich ja die Frage, ob man dieses Dokument im Geiste der Zeit sehen muss und deswegen umso kritischer heute im Rückblick drauf schauen müsste.

    Steinbach: Wenn wir alle großen Papiere und Entschließungen, die es gegeben hat, was jetzt Demokratien anbelangt, was in den Vereinigten Staaten die Menschenrechtsrechtsdokumente anbelangt, die ja auch in anderen Zeiten entstanden sind - wenn wir die in unsere heutige Zeit transponieren würden, würde man sicherlich manches anders formulieren. Aber damit ... Man kann ja nicht wesentliche Dokumente alle zehn Jahre wieder dem neuen Zeitgeist anpassen. Das würde ich für einen Akt der Unklugheit halten. Also insofern: Die Charta war so, wie sie formuliert wurde in dieser Zeit, im Jahr 1950 ein singuläres Dokument, was für die Bundesrepublik, was für Europa eine richtige Weichenstellung vorgenommen hat. Und die Heimatvertriebenen haben glücklicherweise in dieser Frage die Rückendeckung und die Unterstützung aller Bundesregierungen gehabt.

    Barenberg: "Die Ursachen der Vertreibung liegen nicht am Ende des Krieges, sondern an seinem Anfang." Diesen Satz von Bundespräsident Richard Weizsäcker, gesprochen 1985 vor dem Deutschen Bundestag - unterschreibt die Präsidentin des BdV ihn heute?

    Steinbach: Ohne den Nationalsozialismus hätte es eine Vertreibung nicht geben können. Wenn Sie Peter Glotz hören, der die Vertreibung der Sudetendeutschen in seinem Buch beschrieben hat, der sagte ganz nachdrücklich: Ich beginne bei dem Thema Vertreibung nicht mit dem Jahr 1945, ich beginne auch nicht mit dem Jahre 1938, ich beginne nicht 1918, sondern, sagt Peter Glotz, ich beginne 1848, da, wo die Nationalismen sich in Europa herauskristallisierten, wo völkisches Denken Boden gewann, wo am Ende jede Volksgruppe gegen jede Volksgruppe sich in Stellung gebracht hat. Die Wurzeln dieser ethnischen Gedankenwelt, die liegen sehr viel früher. Nur: Ohne den Nationalsozialismus hätte es die Vertreibung nicht geben können.

    Barenberg: Frau Steinbach, zum Schluss: Dieser Tage werden wieder Vorwürfe in der Öffentlichkeit diskutiert, Vorwürfe gegen entsandte Stellvertreter, die Sie in den Stiftungsrat Flucht, Vertreibung und Versöhnung entsandt haben. Was glauben Sie: Schadet das langsam auch dem Projekt als ganzem?

    Steinbach: Das ist doch gewollt von denjenigen, die unentwegt an Personen herumnörgeln. Da muss man sich mal vorstellen: Da haben Sie zwei von den zwölf Personen, die wir benannt haben - die müssen offensichtlich alle zwölf gründlich durchleuchtet haben -, zwei unserer Stellvertreter: Der eine hat ein Interview vor zehn Jahren gegeben, an dem sie sich jetzt abarbeiten, aber beide Aussagen, die von beiden getroffen worden sind, befinden sich auf dem Boden unserer Demokratie, sie gehören zum Grundwissen eines jeden Historikers und sie gehören zu den menschenrechtlichen Aspekten, die zum Thema Vertreibung, Zwangsarbeit dazugehören. Also, man merkt durchaus, was gemeint ist. Es sind nicht die Personen gemeint. Es war vorher auch nicht Erika Steinbach gemeint, sondern es war immer die Stiftung gemeint, weil man sie eigentlich überhaupt niemals haben wollte. Und man versucht jetzt - und es wird noch lange weitergehen -, man versucht jetzt, auf Biegen oder Brechen immer etwas Neues heranzuziehen, an den Haaren herbeizuziehen. Langsam wird es ja schon lächerlich.

    Barenberg: Die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen Erika Steinbach heute Morgen im Deutschlandfunk. Danke für das Gespräch!

    Steinbach: Ich danke Ihnen auch! Wiederhören!

    Barenberg: Wiederhören!