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Erinnerung an Brandt

Schossig: Ein Fernsehfilm versetzt uns in diesen Tagen zurück in die dramatische Zeit vor knapp drei Jahrzehnten, ins Jahr 1974, als der Reform- und Versöhnungskanzler Willy Brandt zurücktrat. Auslöser dieser Krise war die so genannte "Guillaume-Affäre". "Im Schatten der Macht", so heißt das Fernsehspiel. Es handelt von diesem DDR-Agenten und Kanzleramtsspion Günter Guillaume. Es handelt aber auch von bundesdeutschen Politikern und ihren Auseinandersetzungen. Es gibt also Nachhilfe in Zeitgeschichte. Ende vergangener Woche lief der Zweiteiler bei ARTE, am 29. und 30. Oktober wird er noch einmal in der ARD gezeigt. Ob "Im Schatten der Macht" ein Fernsehereignis ist und inwiefern dieser Film zum kollektiven Erinnern einlädt, darüber sind die Meinungen durchaus geteilt. Ich habe vor der Sendung mit Klaus Harpprecht gesprochen. Er war damals Redenschreiber, außenpolitischer Berater von Willy Brandt. Er hat ihn damals zu überreden versucht, nicht zurückzutreten und dabei den Satz gesagt: "Vielleicht wird es kälter werden in diesem Land". Ich habe Klaus Harpprecht gefragt, wie er sich an die dramatischen Tage von 1974 erinnert.

Rainer Schossig |
    Harpprecht: Dass eine Krise schwelte, war auch mir bekannt. Man merkte es nicht nur an der Stimmung von Willy Brandt, der Stimmungen schlecht verbergen konnte, und der allgemein etwas bedrückten Stimmung im Hause, sondern ich war etwas präziser informiert: Willy Brandt hatte ein paar seiner Mitarbeiter einen Hinweis gegeben, ohne einen Namen zu nennen, aber es war deutlich genug, dass man eine gewisse Vorsicht ausüben solle und dass es gewisse Verdachtsmomente gebe, die umlaufen. Die Stimmung im generellen war auch durch die allgemeine Lage in der Partei, durch den Konflikt mit Wehner, aber auch durch gewissen äußeren Druck geprägt. Es gab die Ölkrise, es gab die sehr egozentrische Aufsässigkeit einiger Gewerkschaften, vor allem der ötv, die sich um das allgemeine Interesse der Bevölkerung damals genau so wenig gekümmert hat wie es ihre heutigen Nachfolger tun. Die Gewerkschaft hatte auch schon damals eine völlig isolierte Politik getrieben, die es eigentlich für Sozialdemokratie schwieriger gemacht hat als den konservativen Regierungen. Das ist eine merkwürdige Dialektik der Geschichte, aber so ist sie nun einmal. Diese allgemeine Resignation schlug sich dann in den Tagen, als es offenbar geworden war, dass Guillaume ein Spion war, dessen Wichtigkeit ich von Anfang an nicht unterschätzte, der aber doch in der Zentrale der Macht saß und daher zu einer erheblichen Belastung geworden war. Dann begann, wie Sie alle wissen, sehr, sehr schnell, dieses Enthemmnisspektakel der Spekulationen über das Privatleben von Willy Brandt mit den entsprechenden Übertreibungen, mit den entsprechenden Phantasmen, die sehr viele unsere Kollegen vor allem von den bunten Blättern damals auf die Politiker und auf eine Figur wie Willy Brandt übertragen haben.

    Schossig: So weit, Herr Harpprecht, Ihr Blick auf die realen Ereignisse. Kommen wir mal auf den Film zu sprechen. Der Regisseur und Autor Oliver Storz hat keine Dokumentation wie Merseburger gedreht, sondern ein Fernsehspiel zwischen recherchierter, belegbarer Information und der feinfühligen Fiktion, könnte man sagen. Kommt er atmosphärisch dem nahe, was Sie damals erlebt haben?

    Harpprecht: Er kommt dem erstaunlich nahe. Er hat - gottlob - kein Dokudrama gedreht, wie es P... tut, eine für mich nach wie vor obwohl B... ja sehr brillante Publikumserfolge hat sehr fragwürdige Form der Geschichtsdarstellung, sondern er hat Fiktion, er hat einen wirklich erzählten Film gedreht. Der historische Unterbau ist recht solide. Ich bin nicht mit allen Einzelheiten einverstanden, aber unser Kollege Hermann Schreiber, der für Storz die historischen Recherchen gemacht hat, hat schon eine sehr gute Arbeit geleistet. Ich finde, im ersten Teil ist der dramatische Spannungsbogen sehr, sehr schön, sehr gut ausgeformt, vor allem in der Charakterisierung der Persönlichkeit. Ich finde, dass die Willy Brandt-Darstellung von Mendel eine große Leistung ist, und zwar eben weil er nicht eine platte Imitation versucht, was ja bei Willy Brandt, vor allem von der Sprache her, sehr leicht möglich wäre, sondern, wie ich es so ausgedrückt habe, die Persönlichkeit von innen heraus versucht zu rekreieren.

    Schossig: Solche Imitationen können ja auch, Herr Harpprecht, zu Karikaturen werden.

    Harpprecht: Ja, diese Gefahr haben Mendel und sein Regisseur Storz, den ich sehr schätze, gespürt. Ich finde, dass die Adaption der Figur Guillaume durch den Sohn Willy Brandts Mathias, der sich ja um diese Rolle beworben hat, auch eine Art dialektischer Ironie ist, die hier am Werk ist, dass er diese Rolle spielt. Und er spielt sie sehr, sehr gut.

    Schossig: Ist das nicht ein Problem für Sie, Herr Harpprecht, als Zeitzeugen von damals? Gehen da nicht Gegenwart und Vergangenheit, Realität, Fiktion zu stark durcheinander? Die Vater-Sohn-Problematik auch noch dazu?

    Harpprecht: Natürlich ist man emotional berührt gewesen in einigen Szenen. Vor allem in Szenen, in denen das Palais Schaumburg sichtbar war oder die Wohnung im Haus im Kiefernweg, in dem ich sehr oft gewesen bin, in dem mir der Mensch Willy Brandt, der ein Lebensfreund seit dem Jahr 1952 gewesen ist, auch sehr nahe war. In der Tat war es etwas gespenstisch vor allem vor dem Hintergrund der jetzigen politischen Krise, einer Dauerkrise, in der die Bundesregierung um ihre Existenz kämpft, aber auch einer inneren Krise der sozialdemokratischen Partei.

    Schossig: Warum eigentlich hat Brandt damals zwar die Unterstützung seines Koalitionspartners FDP gehabt, nicht aber die des SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner?

    Harpprecht: Damit öffnet sich ein weites und schwieriges Feld. Ich glaube, dass Wehner im Grunde seiner Persönlichkeit eben doch der vom Stalinismus, Kommunismus tief geformte Machtmensch gewesen ist. Er wollte für seine Partei das beste, aber er wollte es für die Partei. Die Menschen spielten für ihn dabei eine untergeordnete Rolle. Willy Brandt hatte seine Funktion in seinen Augen für die Partei erfüllt, als er der SPD den größten Wahlsieg in ihrer Geschichte im November 1972 gebracht hatte. Ich glaube, dass von diesem Augenblick an, da die kleine Koalition sowieso gegen den Willen von Wehner existierte, Wehner darauf hinarbeitete, Brandt langsam aber sicher aus dem Sattel zu heben. Anders sind ja auch seine sehr kritischen und katastrophal taktlosen Äußerungen in Moskau - ausgerechnet in Moskau - über den Herrn in Bonn, der gerne lau badet und der die Ostverträge nicht auslebt, nicht ausformt, der die Dinge so dahin ziehen lässt, gar nicht zu verstehen. Brandt hatte in dem Augenblick den Machtkampf mit Wehner - und darum handelte es sich - verloren, als er, im übrigen gegen Maß' Rat, gegen auch meinen Rat, Wehner nicht ganz klipp und klar gesagt hatte, dass er mit sofortiger Wirkung den Fraktionsvorsitz niederzulegen habe. Damit wären die Dinge klar gewesen.

    Schossig: Ein Lehrstück also über Machterhalt und über Machtzerfall. Sie haben die Parallele zu heute angedeutet. Es gibt ja auch noch die Parallele zu 1982, dem Ende der sozialdemokratischen Koalition mit der FPD. Herr Harpprecht, wir wünschen uns ja als Nachgeborene immer eine Art historisches Zeitbild bei solchen Filmen oder vielleicht auch Psychogramme ihrer Protagonisten. Wie verlässlich ist denn das Brandt-Bild von Oliver Storz? Ist es nicht vielleicht doch allzu privat und zu wenig als historisches Material geeignet?

    Harpprecht: Es ist eine Filmerzählung. Er zeigt den privaten Brandt, übrigens dann im zweiten Teil, wo der ganze Firlefanz mit den angeblichen vielen Weibergeschichten beiseite gerückt worden ist, die ja in schrecklicher Weise übertrieben worden sind, und wie gesagt, wo sich der billige Instinkt ausgelebt hat.

    Schossig: Instrumentalisiert wurden sie quasi für ein anderes Problem...

    Harpprecht:... und instrumentalisiert worden ist, da besteht gar kein Zweifel. Ich glaube, es ist legitim für einen Regisseur, für einen Künstler wie Oliver Storz, das Private in den Vordergrund zu rücken. Die objektive Leistung Willy Brandts für die Entwicklung der deutschen Demokratie aber auch seine große Leistung in der Ostpolitik, die er immer in Vollzug der Adenauerschen Westpolitik und als ihre natürliche Ergänzung empfunden hat, ist natürlich in der ganzen Sache etwas zu kurz gekommen. Das war aber wahrscheinlich auch nicht die Aufgabe eines Regisseurs und Drehbuchschreibers, der dem Publikum eine dramatisch-biographische Filmerzählung und Darstellung bieten wollte. Übrigens fehlt da sicherlich auch ein Aspekt- und das war für mich das Element des größten Bedauerns beim Rücktritt von Willy Brandt, vom Persönlichen jetzt abgesehen: Er hätte in der zweiten Etappe seiner Kanzlerschaft sehr wesentlich die Energien nicht nur auf den Ausbau des Sozialstaates, sondern und vor allem auf den Aufbau Europas hin ausgerichtet.

    Schossig: Erinnerung an eine der dramatischsten Krisen der Bundesrepublik. Das war Klaus Harpprecht über Oliver Storz Film "Im Schatten der Macht" in zwei Teilen noch einmal zu sehen am 29. und 30. Oktober, 20:15 Uhr jeweils in der ARD.