Freitag, 29. März 2024

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Erinnerung an Hitler-Stalin-Pakt
Neubewertung, um ein "positives Geschichtsbild" zu vermitteln

Will Russland den Hitler-Stalin-Pakt rehabilitieren? Die Historikerin Sandra Dahlke vom Deutschen Historischen Institut in Moskau sieht dahinter noch kein außenpolitisches Programm - wohl aber Geschichtspolitik, um Bürger auf ein positives Bild der Vergangenheit einzuschwören, erklärte sie im Dlf.

Sandra Dahlke im Gespräch mit Christoph Heinemann | 23.08.2019
Am 23. August 1939 unterzeichneten der Außenminister des Deutschen Reiches, Joachim von Ribbentrop (l) und der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow (vorn) in Moskau den deutsch-russischen Nichtangriffspakt. Hinten neben Ribbentrop Josef Stalin, ganz rechts Friedrich Gaus, daneben U. Pavlov.
Hitler und Stalin stecken ihre Interessensphären ab: Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts von 1939 (picture-alliance / dpa)
Christoph Heinemann: Aus der Physik ist bekannt: Gegensätze ziehen sich an. Dass dies auch für einzigartige Verbrecher gilt, zeigt der Blick 80 Jahre zurück. In der Nacht vom 23. Auf den 24. August 1939 unterzeichneten Deutschland und die Sowjetunion einen Nichtangriffsvertrag, genauer die beiden Außenminister Wjatscheslaw Molotow und Joachim von Ribbentrop. Ribbentrop war zuvor von Stalin empfangen worden. Fotos zeigen die beiden mit breitem Lächeln. – Auf Kosten der Polen, Molotow hatte das Land als "Bastard des Versailler Vertrages" verhöhnt, und auf Kosten der baltischen Staaten.
Hitler-Deutschland und die Sowjetunion steckten in einem geheimen Zusatzprotokoll ihre Interessenssphären ab. Damit hatte Hitler freie Hand für den Überfall auf Polen, mit dem am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg begann. 16 Tage später fiel die Rote Armee in Ostpolen ein. Russische und deutsche Soldaten trafen im September aufeinander, damals noch nicht als Feinde.
Der Gebietshunger war geweckt. 1940 besetzte Stalin die baltischen Staaten, 1941 überfiel Hitler die Sowjetunion. Und erst 1989 wurde das geheime Zusatzprotokoll der Diktatoren in Russland offiziell verurteilt. Eine Rückkehr zur sowjetischen Deutung unter Putin ist nicht ausgeschlossen.
Vor dieser Sendung haben wir Sandra Dahlke erreicht, die Direktorin des Deutschen Historischen Instituts in Moskau. Ich habe sie gefragt: Wie fanden Hitler und Stalin zusammen?
Sandra Dahlke: Bis heute ist in der Forschung umstritten, wer wann den ersten Schritt zu diesem Bündnis gemacht hat. Jüngere Forschungen deuten allerdings darauf hin, dass eine Übereinkunft mit Hitler seit dem Machtantritt der Nationalsozialisten für Stalin zumindest eine Option war. Sicher ist, dass Stalin und Hitler über die deutsch-sowjetischen Wirtschaftsgespräche zusammenfanden. Seit Frühjahr 1939 verhandelten Deutsche und Russen über einen verbesserten Wirtschaftsaustausch. Aber auch die Absetzung des jüdischen Außenministers der UDSSR, Maxim Litwinow, und seine Ersetzung durch Molotow wird als Signal Stalins für eine Verständigung mit Hitler gewertet. Litwinow war ein ausgesprochener Befürworter einer Politik der kollektiven Sicherheit mit den Westmächten gegen die Bedrohung aus Deutschland.
Stalins Säuberungen schadeten Sowjetarmee
Heinemann: In Polen hat der sowjetische Geheimdienst NKWD mit der SS zusammengearbeitet. Inwiefern haben beide Seiten Erkenntnisse über den späteren Kriegsgegner sammeln können?
Dahlke: Beide Seiten kannten sich bereits aus der deutsch-sowjetischen militärischen Zusammenarbeit in den 1920er und 1930er-Jahren sehr genau. Als die deutschen Militärs dann im September 1939 auf die Truppen der Roten Armee trafen, sahen sie zum Großteil ihre Vorurteile über die sowjetische Armee bestätigt, dass die Offiziere keine Initiative aufbrachten, dass sie pure Befehlsempfänger waren. Sie bemerkten die mangelnde Disziplin der Soldaten und die sichtbaren Schwächen bei Bewaffnung und Ausrüstung.
Auf der Seite der Roten Armee war es allerdings anders. Sie betrachtete die Wehrmacht hingegen immer als starken und ernst zu nehmenden Gegner. Zudem nahm Stalin auch die Einschätzung seiner Diplomaten sehr ernst.
Hitler-Stalin-Pakt - Russlands Heroisierung der Vergangenheit
Am 23. August 1939 unterzeichneten Hitler-Deutschland und die Sowjetunion einen Nichtangriffspakt. Stalin wird dafür nach heutiger russischer Lesart kein Vorwurf gemacht. Die sowjetische Geschichte des Zweiten Weltkriegs wird unter Putin fast ausschließlich als Abfolge heroischer Opfer und Taten dargestellt.


Heinemann: Trug vielleicht auch der Nichtangriffspakt dazu bei, dass die Rote Armee bei dem Überfall der Wehrmacht zunächst hoffnungslos unterlegen war?
Dahlke: Dazu hatten wohl vor allem die Säuberungen Stalins im Offizierskorps der Roten Armee 1937 und 1938 beigetragen, die sich absolut verheerend auswirkten. Hinzu kam, dass die Wehrmacht bereits kriegserfahren war, als die die UDSSR angriff, und sie beherrschte vor allem die moderne motorisierte Kriegsführung im Zusammenwirken der einzelnen Waffengattungen und intensiven Unterstützung aus der Luft. Dem hatte die Rote Armee zunächst kaum etwas entgegenzusetzen, und die Rote Armee war sehr anfällig für die Einkesselungsschlachten der deutschen Truppen und konnte dem kaum etwas entgegensetzen.
Heinemann: Frau Dahlke, wie haben die deutschen Kommunisten auf den Pakt reagiert, die vor den Nazis nach Moskau geflüchtet waren?
Dahlke: Für die meisten war es natürlich ein Schock. Von außen betrachtet war der Pakt für die persönliche Situation der Exilanten aber nicht so entscheidend. Einschneidender für die Kommunisten, für die deutschen Kommunisten war zunächst der Terror in der Sowjetunion. Viele ausländische Kommunisten sind bereits in den Jahren 1936 bis 1938 Opfer der stalinschen Säuberungen geworden. Andere Deutschstämmige wurden Opfer der sogenannten Nationalen Operation, wie auch viele andere Diaspora-Nationalitäten.
Begründet unter anderem mit Sicherheitsinteressen der UdSSR
Heinemann: Welche Lesart gab die Sowjetunion der für sie ja doch eigentlich peinlichen Zusammenarbeit mit dem Nazi-Regime?
Dahlke: Die Zusammenarbeit mit dem Nazi-Regime wurde im Prinzip mit der mangelnden Bündnisbereitschaft der Westmächte England und Frankreich, insbesondere Englands und den Sicherheitsinteressen der Sowjetunion begründet. Hier muss dann auch – das ist wichtig für den Hintergrund – berücksichtigt werden, dass aus sowjetischer Sicht seit Mitte der 1930er-Jahre Kriegsgefahr bestand, und diese Kriegsgefahr wurde durch die zentral gesteuerten Medien auch permanent ventiliert und die Kriegsangst war allgegenwärtig, so dass möglicherweise diese Zusammenarbeit auch nicht so überraschend war für die sowjetische Bevölkerung.
Heinemann: Gab es denn nach Stalins Tod eine etwas kritischere Betrachtung des Hitler-Stalin-Paktes?
Dahlke: Nein! Der Pakt selbst wurde – das hatte ich eben schon gesagt – mit der mangelnden Bündnisbereitschaft der Westmächte und den Sicherheitsinteressen der Sowjetunion begründet. Ein Argument war auch – das war eines der Hauptargumente -, dass sich die Sowjetunion damit den notwendigen Zeitgewinn, der dann am Ende dazu führte, dass die Sowjetunion siegreich aus dem Krieg hervorgegangen ist, verschaffte.
In dieser Lesart hatte die Sowjetunion keine Wahl. Die Existenz des geheimen Zusatzprotokolls, von dem ich eben schon sprach, in dem die beiden Diktatoren auf Kosten Polens und der baltischen Staaten ihre Beuteteilung vereinbarten, wurde bis 1989 verschwiegen. 1992 wurde das russische Originaldokument wiederentdeckt und dann auch veröffentlicht und auch 1995 in einer Ausstellung gezeigt.
Claudia Weber - "Der Pakt"
Am 23. August 1939 besiegelten die Sowjetunion und das Deutsche Reich einen Nichtangriffspakt, den sogenannten Hitler-Stalin-Pakt. Ein geheimes Zusatzprotokoll regelte die Aufteilung Polens. Für die Historikerin Claudia Weber ist der Pakt einer der wichtigsten Verträge des 20. Jahrhunderts.
Heinemann: Und bereits 1989 – Sie haben die Zahl genannt – verabschiedete ja der Kongress der Volksdeputierten in Moskau einen Text, der diesen Hitler-Stalin-Pakt als Bruch internationaler Normen verurteilte. Wie kam es dazu?
Dahlke: Lediglich das geheime Zusatzprotokoll wurde als völkerrechtswidrig beurteilt und damit für nicht rechtsgültig erklärt. Begründet wurde das mit dem juristischen Argument, dass das Protokoll nicht von bevollmächtigten Abgeordneten ratifiziert worden sei, sondern auf Grundlage der Selbstermächtigung Stalins und Molotows.
Der Beschluss des Kongresses ist übrigens auch bis heute rechtskräftig und die immer noch gültige offizielle Beurteilung beziehungsweise Stellungnahme zum Pakt und zum Geheimprotokoll.
Neubewertung im Dienste eines positiven Geschichtsbilds
Heinemann: Frau Dahlke, der "Spiegel" berichtet in dieser Woche, in Putins Russland solle dieser Pakt jetzt möglicherweise rehabilitiert werden. Wie und warum?
Dahlke: Das kann man so pauschal nicht sagen. Natürlich gibt es auch in Russland sehr unterschiedliche Deutungen des Pakts beziehungsweise auch sehr unterschiedliche Zielsetzungen dieser Deutung. Der "Spiegel" stützt sich ja insbesondere auf die Aussagen des wissenschaftlichen Direktors der russischen militärhistorischen Gesellschaft, der sich für eine Revision des Beschlusses ausgesprochen hat. Die militärhistorische Gesellschaft wurde 2012 explizit mit dem Anspruch gegründet, die patriotische Erziehung der Bürger der russländischen Föderation zu fördern.
Wie repräsentativ Mjagkows Aussagen sind, ist im Moment sehr, sehr schwer zu beurteilen, und ich würde die offiziellen Positionen eher so deuten, dass sie insbesondere vor dem Hintergrund einer negativen wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung und sinkenden Zustimmungswerten der Bevölkerung ein positives Geschichtsbild im Sinne einer eindeutigen Rehabilitierung der sowjetischen Leistungen im Zweiten Weltkrieg vermitteln sollten.
Heinemann: Klingt nach Geschichtspolitik.
Dahlke: Ja! – Diese Leistungen werden aus russischer Sicht im Westen nicht hinreichend anerkannt. Hiermit wird natürlich auch propagandistisch gespielt, und der Aufbau von Feindbildern ist dafür natürlich sehr nützlich. Ich habe aber Schwierigkeiten, da jetzt schon ein außenpolitisches Programm in dieser Position zu erkennen. Das geht meiner Meinung nach zu weit, obwohl ich natürlich sehr gut verstehen kann, dass diese Äußerungen in den Nachbarstaaten sehr genau registriert werden und auch in so eine Richtung gedeutet werden können.
"Geschichte wird als Legitimationsfigur genutzt"
Heinemann: Welche Rolle spielt Stalins damalige Interessenssphäre in der heutigen russischen Geopolitik?
Dahlke: Das ist auch eine ganz schwierige Sache, die ich, sagen wir mal, als Historikerin, als Wissenschaftlerin nicht so eindeutig beantworten kann. Es ist allerdings so, dass zum Beispiel in einem Auszug aus dem Online-Projekt der russischen militärgeschichtlichen Gesellschaft – das nennt sich "die 100 wichtigsten Dokumente zur Geschichte Russlands" – die Auffassung formuliert wird, die durch das Geheimprotokoll zu ziehende Grenze hätte fast die alte russische Reichsgrenze von 1914 nachgezeichnet.
Dass Russland geopolitische Ambitionen hat, in solchen Kategorien denkt, das ist, glaube ich, jedem aufmerksamen Beobachter klar. Aber wie weit das jetzt reicht, vermag ich jetzt nicht zu beurteilen.
Heinemann: Kann man einen Zusammenhang herstellen zwischen den russischen Aktivitäten gegen die Ukraine, gegen Moldawien oder gegen Georgien und dieser damaligen Interessenssphäre der stalinistischen Geopolitik?
Dahlke: Geschichte wird ja, sagen wir mal, im Rahmen dieser Geschichtspolitik als Legitimationsfigur genutzt, und da kann sich der Kurs auch immer sehr schnell ändern, je nach den Bedürfnissen der jeweiligen Gegenwart, und da wird in der Regel auch sehr eklektisch und selektiv vorgegangen.
Heinemann: Heißt?
Dahlke: Dass sich natürlich immer Argumente für Gebietsansprüche finden lassen, oder auch ein weiteres wichtiges Argument, dass die russische Bevölkerung, die in diesen Staaten lebt, bedroht sei und geschützt werden müsste. Die Passpolitik ist vielleicht ein anderes Feld, wo diese Dinge dann wirksam werden und wo Geschichte als Legitimationshilfe hinzugenommen wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.