Freitag, 19. April 2024

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Frank Witzel: "Kunst als Indiz"
Erinnerungen an die BRD

Der Schriftsteller, Illustrator und Musiker Frank Witzel spürt in "Kunst als Indiz" den Kontinuitäten von der NS-Zeit in die BRD nach. Ausgangspunkt seiner Recherche ist ein Gemälde des Surrealisten Rudolf Hausner.

Von Lothar Müller | 12.01.2023
Frank Witzel: „Kunst als Indiz. Derricks phantastischer Realismus“
Frank Witzels Buch „Kunst als Indiz" kreist um ein surrealistisches Gemälde. (Foto: IMAGO / SKATA, Buchcover: Schlaufen Verlag)
Der Zeitpunkt, an dem dieser Essay seinen Gegenstand fand, ist darin exakt verzeichnet. Frank Witzel stöberte auf youtube in frühen Sendungen der bundesrepublikanischen Krimiserie „Derrick“ und betrachtete gerade die Folge „Nur Aufregungen für Rohn“ aus der ersten Staffel, als sich vier Minuten nach Beginn des Films sein Bildgedächtnis meldete. In dieser vierten Minute war zum ersten Mal das Zimmer des Studenten Harald Rohn zu sehen.
„Es ist eine etwas schmucklos heruntergekommene und recht zugerümpelte Studentenbude, mit vom Vormieter übernommenen oder vom Flohmarkt organisiertem Schrank, Tisch und Bett und einem aus Brettern und Ytong-Steinen gefertigten Bücherregal. Neben dem Kopfende des Bettes befindet sich jedoch, auffällig zentral in dieser ersten Darstellung des Zimmers platziert, eine ungefähr maßstabsgetreue Reproduktion des Gemäldes "Forum der einwärts gewendeten Optik" von Rudolf Hausner.

Dieses Gemälde weckte mein Interesse nicht nur, weil ich es (wieder)erkannte, sondern weil es eine Störung in meiner Wahrnehmung verursachte, aufgrund derer ich diesen für mich bis zu diesem Zeitpunkt belanglosen Film nicht wie geplant weiter ‚nebenbei‘, also quasi zur Ablenkung, anschauen konnte.“

Ein Gemälde als stummer Zeuge

Das Bild Hausners wurde 1948 gemalt, die erste Derrick-Staffel 1974 ausgestrahlt. Der Student Rohn wird zum Mörder, sein Zimmer zum Tatort werden. Das Gemälde wird stummer Zeuge sein, aber bei der Aufklärung der Tat und Überführung des Täters keine Rolle spielen.
Vor längerer Zeit gab es im S. Fischer Verlag die Reihe „kunststück“, kleine Monografien über einzelne Gemälde, aber auch über die Quadriga auf dem Brandenburger Tor, die Skyline von Frankfurt oder Hans Holleins Museum in Mönchengladbach. Die Reihe „Bildfäden“ des jungen Berliner Schlaufen Verlags, in der Witzels Essay erschienen ist, folgt einem anderen Konzept. Ihre Röntgenaufnahmen, Gemälde, Grafiken, Diagramme, Fotografien oder Filmstills findet sie nicht im Museum. Sie müssen aus den Lebenswelten, in denen sie auftauchen, erst herausgelöst werden.
Eben das geschieht in Witzels Essay. Seine gedankliche Bewegung folgt einem Grundmuster, das sowohl in Witzels Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ wie in dem Gespräch enthalten ist, das er unter dem Titel „BRD noir“ mit dem Kulturwissenschaftler Philipp Flesch geführt hat.
Hier wie dort geht es um die Historisierung der alten Bundesrepublik aus der Sicht derjenigen, die als Kinder und Jugendliche in ihr aufgewachsen sind. Hier wie dort spielen die Ängste und Obsessionen, die sich an die spektakulären Entführungs- und Mordfälle heften, eine Schlüsselrolle, und hier wie dort wird die Fernsehunterhaltung in den Zeugenstand gerufen.

NS-Ideologie und Fernsehunterhaltung in der alten BRD

„Kunst als Indiz“ heißt Witzels Essay nicht etwa deshalb, weil sich im Blick auf die Hausner-Reproduktion der Kriminalfall der Derrick-Serie lösen ließe. Auf die Spur kommt Witzel im Assoziationsgestöber, das der Bilderkosmos Rudolf Hausners auslöst, zum einen sich selbst, wenn er in sein Jugendlichen-Zimmer zurückkehrt und neben den Postern der Beatles, Kinks, The Who und Small Faces surrealistische Gemälde von Dalí aufzutauchen beginnen, wenn ihm der Max Ernst in den Sinn kommt, der während seiner Analyse im Behandlungszimmer des Psychoanalytikers hing.
Zum anderen kommt er – wie Regina Schilling in ihrer Dokumentation „Kulenkampffs Schuhe“ –  der oft erst auf den zweiten Blick erkennbaren Anwesenheit von NS-Staat, Krieg und Judenvernichtung in der Fernsehunterhaltung der alten Bundesrepublik auf die Spur.
„Der Regisseur der Derrick-Folge ‚Nur Aufregungen für Rohn’, Wolfgang Becker, Jahrgang 1910, arbeitete in der Heeresfilmstelle und war am Einmarsch in Polen beteiligt.“
Hier liegt der Fluchtpunkt des Essays. Aus dem Derrick-Darsteller Horst Tappert tritt das Mitglied der Waffen-SS, aus dem Drehbuchautor Herbert Reinecker, der „Derrick“, den „Kommissar“ und viele Edgar Wallace-Filme geschrieben hat, der Kriegsberichterstatter der Waffen-SS heraus.

Polemik gegen den Surrealismus

Wofür ist das Auftauchen surrealistischer Bilder ein Indiz, wofür die Polemik gegen den Surrealismus des im Nachkriegsdeutschland mit seinen Büchern „Verlust der Mitte“ und „Die Revolution der modernen Kunst“ sehr einflussreichen Kunsthistorikers Hans Sedlmayr?
Aus dieser Frage geht eine der dichtesten Passagen des Essays hervor. In ihr blickt Sedlmayr, Mitglied der NSDAP und Soldat an der Ostfront, auf ein „surrealistisches Bild“, das ihm 1942 in einem Volkspark in der Ukraine der „totale Krieg“ vor Augen stellte. Allein die Antipolemik gegen diesen Verächter des Surrealismus lohnt die Lektüre von Witzels Essay.
Frank Witzel: „Kunst als Indiz. Derricks phantastischer Realismus“
(Schlaufen Verlag, Berlin)
126 Seiten, 22.50 Euro.