Dienstag, 23. April 2024

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Erinnerungen einer Ärztin an Tschernobyl (2/5)
Ein Einsatz und viele Fragezeichen

Die sowjetische Informationspolitik zum Atomunglück von Tschernobyl war mehr als restriktiv. Auch Paulina Zerluk, die Teil eines Ärzteteams war und die Menschen im Katastrophengebiet medizinisch versorgte, wusste nicht, was ihr bevorstand - und welcher Gefahr sie selbst ausgesetzt war.

Von Frederik Rother | 14.11.2017
    Paulina Zerluk erzählt von ihrem Einsatz in Tschernobyl.
    Paulina Zerluk erzählt von ihrem Einsatz in Tschernobyl (Deutschlandradio / Frederik Rother)
    Paulina Zerluk sitzt an ihrem Computer im Schlafzimmer. Hier schreibt sie sonst E-Mails, spricht über Skype mit ihrem Mann, der bis heute in der Ukraine lebt, oder surft im Internet. Gerade hat Zerluk die Schlagworte "Film" und "Tschernobyl" in die Suchmaschine eingetippt.
    "Diese Filme, Dokumentare – anfassen mich."
    Sie interessiert sich für Dokumentarfilme. Auf einem Video-Portal klickt sie eine Tschernobyl-Doku an.
    "Freitag, 25. April 1986. Die 43.000 Einwohner der ukrainischen Stadt Pripjat erleben einen wunderschönen Frühlingstag."
    Paulina Zerluk schaut konzentriert und mit festem Blick auf den Bildschirm. Die Katze ist ihr auf den Schoß gesprungen. Zerluk streichelt sie, hält sich manchmal geradezu am Fell des Tieres fest.
    "Drei Kilometer von der ukrainischen Stadt Pripjat entfernt steht das Kernkraftwerk 'Wladimir Iljitsch Lenin'. In der Nacht von Freitag auf Samstag werden 176 Angestellte im Block IV angewiesen, das neue Notstromsystem des Reaktors zu testen."
    Durch Bedienungsfehler nimmt die Katastrophe ihren Lauf.
    Einwöchiger Einsatz
    "Es kommt zu einer Serie von Explosionen. In einer gewaltigen Detonation fliegt die 1.200 Tonnen schwere Reaktorhülle in die Luft. Eine radioaktive Gaswolke breitet sich Hunderte von Metern um das Kernkraftwerk aus. Aus dem riesigen Loch sprühen Flammen, mit radioaktiven Uran- und Graphitpartikeln fast tausend Meter hoch in den nächtlichen Himmel."
    "Das war komisch, dass es etwas wie Angst in der Luft hängt, etwas nicht gewöhnlich. Genauer haben wir verstanden, als wir gekommen."
    Erinnert sich Paulina Zerluk an den Moment, als sie und die Kollegen im Bus Richtung Tschernobyl saßen, einen Tag nach dem Unfall. Von einer Explosion im Atomkraftwerk wussten sie da noch nichts. Trotzdem war etwas anders als sonst:
    "Das waren sechs Ärzte und dieser Dosimetrist. Das verstanden wir nicht, niemals fahren wir mit Dosimetrist."
    Ein Strahlenarzt war also mit im Bus. Auch die Hubschrauber am Himmel waren ungewöhnlich, erzählt sie. Die sollten Stoffe wie Bor oder Blei in den havarierten Reaktor abwerfen – um die radioaktiven Folgen der Explosion abzumildern.
    Paulina Zerluk nimmt ein Blatt Papier in die Hand und malt eine Karte mit den Orten auf, in denen Sie und ihre Kollegen in den Tagen nach dem Unfall geholfen haben.
    "Hier Tschernobyl"
    Tschernobyl liegt etwas unterhalb des Kernkraftwerks. Der Ort, der zum Synonym der Katastrophe geworden ist.
    "Hier etwas…Polesskoe, wo wir übernachten."
    Polesskoe – eine Kleinstadt, etwa 60 Kilometer vom Kraftwerk entfernt. Im Krankenhaus dort haben sie während des einwöchigen Einsatzes übernachtet und Patienten versorgt.
    Metallgeschmack auf der Zunge
    "Und hier ist Pripjat."
    Die Stadt direkt am Kernkraftwerk, in der viele der Arbeiter mit ihren Familien wohnten.
    Tschernobyl, Polesskoe und Pripjat – Paulina Zerluk erzählt konzentriert von dem Einsatz. Was sie direkt nach ihrer Ankunft wahrnimmt: Das Ausschlagen der Messgeräte. Und:
    "Eine Minute ich fühlte Metall. Alle diese Zeit war Metall, wie Löffel, der auf der Zunge liegt. Ich versuchte entfernen – aber an dieses Metall erinnere ich mich genau!"
    Der Geschmack von Metall im Mund, davon berichten viele Tschernobyl-Zeitzeugen. Folge der hohen Radioaktivität. Viele hatten auch mit Schwindel, Kopfschmerzen und Übelkeit zu kämpfen.
    Zerluk arbeitete während des Einsatzes vor allem in Polesskoe. Sie ging von Haus zu Haus, untersuchte die Bewohner. Einige mussten ins örtliche Krankenhaus. Schwere Fälle kamen nach Moskau. Arbeiter und Feuerwehrmänner etwa, die direkt aus dem havarierten Atomkraftwerk kamen.
    "Wir wussten, dass das Katastrophe, aber Maßstab dieser Katastrophe konnten wir nicht verstehen."
    Paulina Zerluk ist aufgeregt, wenn sie zurückdenkt. Gearbeitet haben sie ohne besondere Schutzkleidung:
    "Luft war sehr heiß. Wir haben unsere weißen Kittel ausgezogen, war sehr heiß. Und verstehen Sie: Das war keine offizielle Mitteilung, insgesamt wussten wir nichts."
    Einen Tag nach dem Unfall beginnt die Evakuierung von Pripjat. Die Einwohner – Männer, Frauen und auch Kinder – sollten in Sicherheit gebracht werden. Hauptsache weg vom Unglücksort.
    Paulina Zerluk hat auch hier Menschen untersucht und schwere Fälle ins Krankenhaus gebracht.
    "Sie waren sicher, dass nur für drei Tage. Nur für drei Tage."
    Alle rechneten damit, nach kurzer Zeit wieder in die eigene Wohnung zurückkehren zu können. Jeder nahm nur das Nötigste mit.
    Paulina Zerluk und ihre Freunde sitzen an einem reich gedeckten Tisch und feiern ihren 85. Geburtstag.
    Paulina Zerluk (Tischende) und ihr Freund Alexander Filonchik (rechts daneben) an ihrem 55. Geburtstag im Oktober 1985. (Deutschlandradio / Frederik Rother)
    Die Heimat für immer verloren
    "Dann alle diese Wohnungen waren gesperrt, und keiner kann eine Minute kommen, um etwas Geld oder Papiere zu nehmen. Viele Menschen verstanden nicht, dass die Havarie für immer."
    Das sei das Schlimmste gewesen, meint sie: Die Menschen hätten ihre Heimat verloren. Niemand durfte zurückkehren. Bis heute sind Pripjat und die 30 Kilometer um das Kraftwerk herum Sperrzone – Häuser verfallen, die Natur holt sich die Orte zurück. Insgesamt wurden Hunderttausende Menschen in den Jahren nach der Katastrophe umgesiedelt.
    Paulina Zerluk steht auf und holt alte Fotos aus dem Schrank.
    "Das ist Filonchik…"
    Ein Bild mag sie besonders. Es ist ihr 55. Geburtstag, 1985. Sie und ihre Freunde sitzen fröhlich zusammen, in der Mitte ein reich gedeckter Tisch – neben ihr: Alexander Filonchik, ihr guter Freund und Chef.
    "Viele unserer Ärzte in den nächsten zwei Jahren sind gestorben, einschließlich mein Hauptarzt Filonchik, Alexander. Er hat Tumor Schilddrüse. Und jeder von uns fragte: Wer ist nächster?"
    Alexander Filonchik hat den Einsatz nicht überlebt. Viele der Hunderttausend Liquidatoren sind an Schilddrüsenkrebs erkrankt.
    "Filonchik, immer bei mir… hier bin ich … Er liebt mich, das ganze Leben."