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Erinnerungskultur
Stolpersteine zum Gedenken an NS-Opfer

Stolpersteine gibt es mittlerweile in 24 Ländern. Dieses dezentrale Denkmal erinnert an die Opfer der NS-Verbrechen und motiviert vor allem Jugendliche, sich mit Geschichte zu beschäftigen. Doch Kritiker betonen, die aufklärerische Wirkung sei begrenzt: Leicht könne man der Frage nach den Tätern ausweichen.

Von Andreas Beckmann | 28.02.2019
Gunter Demnig kniet auf dem Bürgersteig und klopft mit einem Hammer einen Stolperstein mit Messingplakette fest.
70.000 Stolpersteine gibt es weltweit, doch ausgerechnet in Polen funktioniert das Konzept nicht (dpa)
Es ist zum Ritual geworden, wenn Gunter Demnig, der Mann mit dem großen grauen Hut und Erfinder der Stolpersteine, mal wieder eine 10 mal 10 Zentimeter kleine Messingtafel im Boden festklopft. Auf der sind stets fünf Zeilen Text eingraviert. Der beginnt mit "Hier wohnte", dann folgen der Name und das Geburtsjahr des Opfers, das Datum der Deportation, wenn bekannt auch das des Todes und ein Hinweis, warum dieser Mensch von den Nationalsozialisten verfolgt wurde. 70.000 Stolpersteine liegen mittlerweile und bilden Europas größtes dezentrales Denkmal. Ungeplant begonnen hatte sein Aufbau vor 27 Jahren, als Gunter Demnig, damals noch illegal, in Köln den ersten Stein verlegte, berichtet der Historiker Harald Schmid von der Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten:
"Subversiv war, wie plötzlich Opfererinnerung in die Innenstädte kommt, vor die Häuser, wo sie gewohnt haben, häufig arisierte Häuser und häufig gab es Widerstand von den Personen, die über Arisierung die Häuser bekommen haben. Solche Elemente waren am Anfang Teil des Projekts."
Verbeugen vor den Opfern
Viele Deutsche verschanzten sich auch in den 90er-Jahren noch gerne hinter der Ausrede, von den NS-Verbrechen nichts gewusst zu haben. Aber Stolpersteine zeigen: die Opfer waren Nachbarn, jeder der nicht wegsehen wollte, musste ihr Verschwinden bemerken. Wer heute hinsieht, muss sich vor den Opfern verbeugen, um die fünf Zeilen zu lesen. Aber wer das nicht will, kann einen Stolperstein auch übersehen. Man könne buchstäblich darüber hinweg trampeln, moniert die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, Charlotte Knobloch. In Folge ihrer Intervention werden in der bayerischen Hauptstadt keine Steine verlegt, aber es gibt auch Stimmen aus dem Zentralrat der Juden, die die Aktion befürworten. Welche Wirkung die Stolpersteine auslösen, ist noch weitgehend unerforscht, betont Harald Schmid:
"Wir können gar nicht sagen, worin die Wirkung besteht, außer der quantitativen Dimension, außer der geografischen Ausdehnung, außer den Hunderten, über Tausend Initiativen, die sich gegründet haben. Der sechsstelligen Zahl von Menschen, die aktiviert wurden, allein in Deutschland, durch die Stolpersteinverlegungen und Projekte."
Oft sind es Schulklassen, die die Geschichte der Opfer recherchieren. Gedenken wird so individualisiert und damit nachfühlbar. Es tut auch den Nachfahren der Opfer gut, wenn ihre Verwandten so aus der anonymen Masse der Verfolgten herausgehoben werden, erzählt Andrea Hammel, Dozentin für deutsche Geschichte an der Aberystwyth University in Wales:
"Meine Forschungen haben eindeutig gezeigt, dass die Mitglieder der Second Generation, also die Kinder oder auch die Enkel der Überlebenden oder der Opfer, dass die Stolpersteine sehr wichtig finden, weil es wie ein Puzzleteil ihrer Familiengeschichte ist. Weil es doch die Manifestierung von etwas ist, eine Namenslegung, etwas physisch präsentes, was die Familiengeschichte irgendwie bezeugt."
Begegnung mit den Angehörigen
Die Hinterbliebenen möchten aber gern vor einer Stolpersteinverlegung gefragt werden:
"Manche Leute googeln einfach mal den Namen ihrer Eltern oder Großeltern und finden so die Stolpersteine. Ungefähr die Hälfte der Berichte, die ich gelesen habe von der Second Generation, war nicht dabei, als die Stolpersteine verlegt wurden. Da gibt es natürlich schon Leute, die sehr enttäuscht sind, die gerne dabei gewesen wären."
Wenn niemand sie vorher kontaktiert, haben manche das Gefühl, ihre Verwandten könnten ein zweites Mal benutzt und zum Opfer gemacht werden:
"Für wen ist dieses Projekt? Da gibt es durchaus auch Leute, die sagen, es ist einfach nur, damit die Deutschen mit ihrer Schuld zurechtkommen können. Also die sehen das durchaus kritisch. Aber wenn es persönliche Involvierung mit Stolperstein-Initiatoren gibt, die die Leute ja auch manchmal betreuen, wenn sie die Städte besuchen und die Stolpersteine ihrer Verwandten angucken, finden die meisten es sehr gut."
Internationale Verbreitung des Projekts
In 24 Ländern liegen mittlerweile Stolpersteine. Manchmal geht die Erinnerung über Opfer des Nationalsozialismus hinaus. Die Initiative "Die letzte Adresse" etwa bringt in Russland, der Ukraine und Tschechien kleine Tafeln für Opfer des Stalinismus an. Kritiker sprechen deshalb schon von einer inflationären Form des Gedenkens. Andererseits funktioniert das Konzept ausgerechnet in einem Land nicht, das ganz besonders unter den Nationalsozialisten gelitten hat, in Polen, sagt Florian Peters vom Deutschen Institut für Zeitgeschichte:
"Es gibt einen gewissen Vorbehalt dagegen, dass man ein Konzept, das aus dem Land der Täter kommt, in das Land der Tatorte verpflanzt."
Polen, ergänzt Florian Peters, hat eine der beeindruckendsten Gedenkstättenlandschaften der Welt. In ihrem Zentrum steht Auschwitz. Dort wird vor allem an die jüdischen Opfer erinnert, andernorts auch an die vielen nicht-jüdischen Polen, die aus rassistischen Motiven von der Besatzungsmacht ermordet oder zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt wurden. Stolpersteine gibt es im ganzen Land aber nur zwanzig. Die konzentrieren sich auf Wroclaw, das frühere Breslau, und Slubice, das bis 1945 Teil von Frankfurt an der Oder war. Die Initiative ging meist von Kindern oder Enkeln ermordeter Juden aus, die die Idee aus Westeuropa kannten. In Polen lösen sie damit Befremden aus:
"Die Erinnerung an den Holocaust ist in Polen natürlich sehr stark auf die Orte der Verbrechen, auf die Vernichtungslager konzentriert und in dem Moment, wo man die Erinnerung auf die Wohnorte fokussiert, rückt man den Fokus ein Stück weit hin zu dem Leben vor dem Holocaust. Auf den Ort und das Haus, das ehemalige Eigentum der Ermordeten, das natürlich in vielen Fällen dann anschließend von Polen angeeignet wurde und das sind unangenehme Fragen, mit denen man sich in Polen bisher nicht so gerne auseinander setzt."
Wichtige Fragen bleiben offen
Wer waren die Täter, wer waren die Profiteure, war hat teilnahmslos zugesehen - diese Frage beantworten Stolpersteine nicht, weder in Polen noch in Deutschland oder anderswo. Deshalb bleibt ihre aufklärerische Wirkung begrenzt, kritisiert Harald Schmid von der Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten:
"Gibt es eigentlich eine Bildungsidee, die verbunden ist mit den Stolpersteinen? Was lernen wir aus diesen fünf Zeilen auf der Messingplatte des Stolpersteins?"
Stolpersteine erleichtern die Identifikation mit den Opfern. So motivieren sie vor allem Jugendliche, sich mit Geschichte zu beschäftigen. Sie erlauben es aber auch dem Betrachter, der Frage auszuweichen, wie weit die eigenen Landsleute oder Nachbarn, vielleicht sogar die eigenen Eltern oder Großeltern in die Verbrechen verstrickt waren. Genau in dieser Mischung liegt für viele Historiker der Grund, warum sie so erfolgreich sind und im Mainstream der Erinnerungskultur ankommen konnten.