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Erlebnis einer Reise

Peter und Maria, ein Liebespaar Mitte bis Ende zwanzig, fahren im Urlaub durch die Dolomiten. Sie nehmen einen Teenager mit, der beide verstört, der sich zwischen sie drängt und vor allem Peter den Kopf verdreht. "Pan", denkt der, als er den Jungen zufällig nackt sieht: Er sieht "einen Gott, der ebensogut ein Teufel sein konnte." Gemeinsam unternehmen die drei eine gefährliche Bergtour, die beinah böse ausgeht. Am Ende reist Maria allein nach Hause, Peter und der Junge bleiben in Italien zurück.

Detlef Grumbach | 22.11.1999
    Die Geschichte der damals noch jungen Autorin stammt aus dem Jahr 1932. Sie atmet ein Lebensgefühl, dass wir auch aus Hermann Kestens oder Klaus Manns Romanen jener Jahre kennen, den Geist einer Zeit, "in der alles nur Übergang ist". Erwartungen an das Leben, Hoffnungen, Bedrohungen und Ängste spiegeln sich in den Bildern der Natur. Die schnörkellose Sprache lässt eine dichte Atmosphäre entstehen, fesselt den Leser und überträgt die innere Spannung der Figuren auch auf ihn. "Erlebnis einer Reise" - so der Titel der Erzählung - ist der einzige Text Grete Weils, der aus der Zeit vor 1933 - während der Nazi-Zeit hat sie nicht geschrieben - erhalten geblieben ist. Wenige Monate nach ihrem Tod ist er jetzt erstmals erschienen - zusammen mit zwei bereits veröffentlichten Erzählungen aus den sechziger Jahren.

    Einem größeren Publikum bekannt wurde die Autorin mit ihrem 1963 erschienenen Roman "Tramhalte Beethovenstraat", doch erst als 1980 "Meine Schwester Antigone" erschien, hat sie sich zum ersten Mal in einem Hotel mit der Berufsbezeichnung "Schriftstellerin" eingetragen. Sie war immerhin schon 74 Jahre alt. "Ich bin Schriftstellerin", notiert sie einundneunzigjährig in ihren Lebenserinnerungen mit dem Titel "Leb ich denn, wenn andere leben". Dort schreibt sie "Habe nie etwas anderes sein wollen. Gedachtes in Form bringen, das ist es. Das Glück, wenn es gelingt." Geboren wurde Grete Weil 1906 in Rottach-Egern. Ihr Vater mahnte sie, dass sie nicht vor ihrem Jüdischsein davonlaufen könne. Dass die Judenverfolgungen durch die Nationalsozialisten dies tatsächlich für immer unmöglich machten, bestimmt ihr spätere Leben. 1932 heiratet sie Edgar Weil, Dramaturg an den Münchner Kammerspielen. 1936 folgt sie ihm ins Exil nach Amsterdam, wo sie die Zeit der deutschen Besatzung, die Verfolgung der Exilierten, die Deportation der holländischen Juden und den Krieg erlebt. Ihr Mann wird 1942 im KZ Mauthausen ermordet. Sie selbst taucht unter und überlebt die schrecklichen Jahre in der Illegalität.

    Stärker als 1933 wird aber das Jahr 1947 zu einem Wendepunkt in ihrem Leben, denn anders als viele jüdische Emigranten kehrt sie in die Heimat nach Deutschland zurück, lebt in der Nachbarschaft der Mörder. Nüchtern und authentisch betrachtet Grete Weil Opfer und Täter, benennt sie Verbrechen und Leid. Die Geschichten "Gloria Halleluja" und "B sagen" führen nach Harlem und nach Mexiko. Die Erzählerin begegnet dort Rassismus und religiösem Fanatismus, dem Erbe des Kolonialismus und der Haltung derer, die sich aus der Geschichte stehlen, die sich keiner Verantwortung stellen und sich stets auf die Seite der Stärkeren finden. Ein Fremdenführer in Mexiko kommt ihr bekannt vor. Ist er nicht jener SS-Mann, der die Deportation der Juden aus Amsterdam betreut hat?

    Realität und Imagination gehen ineinander über, im anderen entdeckt sie immer auch die eigene Geschichte. Das Gefühl der Ohnmacht vermischt sich mit dem Bewußtsein eigener Schuld, mit der Erkenntnis, dass die Menschen aus Mord und Barbarei keine Lehren ziehen. Eine Jüdin in New York - die KZ-Nummer auf den Arm tätowiert - sieht in ihr nur die Deutsche, die nach Deutschland zurückgekehrt ist, die dort lebt. "Fünfundachtzigachtundneunzigelf" brüllt sie ihr entgegen und schmeißt sie aus der Wohnung. "Ja ich weiß", antwortet die Erzählerin. "Ich will es nicht wieder tun. Nicht noch einmal überleben."

    Wenn die drei Erzählungen jetzt in einem Band vorliegen, verweist der Titel "Erlebnis einer Reise" auch den Weg, den die Autorin zurückgelegt hat: vom schwankenden Boden der Weimarer Republik in die Nachkriegsära, von den Anfängen einer Schriftstellerlaufbahn über die Zäsur des Nationalsozialismus in die Zeit des "Überlebt habens". Sie berühren durch ihren genauen Blick und zeigen auf faszinierende Weise, wie Grete Weil zu der Autorin geworden ist, die wir kennen.