Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Erler: Rechtsansprüche Vertriebener erloschen

Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Gernot Erler, hat Verständnis für den Unmut Polens über die Entschädigungsklagen der Preußischen Treuhand geäußert. Es gebe aber weder für die Regierung in Warschau noch für die Bürger des Nachbarlandes Grund zur Sorge, sagte der SPD-Politiker. Mehr als 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges bestünden keine Individualansprüche mehr. Darüber lägen umfangreiche Rechtsgutachten vor.

Moderation: Jochen Spengler | 21.12.2006
    Jochen Spengler: Bevor wir uns diesem Thema zuwenden, möchte ich kurz reden über die NATO-Anfrage nach deutschen Luftaufklärungstornados in Afghanistan. Ist da schon eine Entscheidung der Bundesregierung gefallen?

    Gernot Erler: Eine formale Entscheidung der Bundesregierung nicht, aber ich glaube, dass es eine Bereitschaft, eine grundsätzliche Bereitschaft gibt, eine solche Aufklärungsfunktion auch tatsächlich zur Verfügung zu stellen.

    Spengler: Der Grünen-Verteidigungspolitiker Nachtwei sagt, dass ein Tornado-Einsatz vom Parlament genehmigt werden müsste, weil er nicht vom bisherigen Mandat gedeckt sei. Teilt die Bundesregierung diese Sicht?

    Erler: Da hat der Kollege Nachtwei recht, denn es ist bei uns üblich, dass bei dieser Billigung durch das Parlament auch sehr genau aufgeführt wird, welche Kräfte und auch welche Mittel zur Verfügung [stehen]. Also hier ist ein entsprechender Beschluss des Bundestages notwendig.

    Spengler: Kommen wir zum Thema Polen: Die Vertriebenenorganisation Preußische Treuhand klagt: 22 Einzelklagen hat sie vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eingereicht. Entschädigung oder auch Rückgabe der 1945 enteigneten Besitztümer ist das Ziel. Die Bundesregierung hat sich von der Klage distanziert. Sie sei gegenstandslos und werde nicht unterstützt, heißt es. Heißt das, Herr Erler, dass die Vertreibung von Deutschen aus dem deutschen Osten des ehemaligen Deutschen Reiches kein Unrecht war?

    Erler: Nein, es heißt, dass aus der Sicht der Bundesregierung alle diese Fragen ausreichend geklärt sind und dass solche privaten Anrechte oder Individualansprüche aus der Sicht der Bundesregierung jetzt über 60 Jahre nach dem Krieg nicht mehr bestehen und dass wir deswegen das Vorgehen der Preußischen Treuhand als schädlich für die Aussöhnung mit Polen und die guten Beziehungen, die hier hergestellt worden sind, ansehen und deswegen uns eindeutig davon distanzieren.

    Spengler: Herr Erler, was soll ein von dort Vertriebener tun, der vielleicht mit den Nazis gar nichts zu schaffen hatte, der aber alles verloren hat, eben weil er Deutscher war? Soll der noch nicht mal klagen dürfen?

    Erler: Sie wissen, dass es hier längst einen Lastenausgleich gegeben hat in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg und dass darüber hinaus eben keine Rechtsansprüche mehr bestehen. Ich bitte auch, kein falsches Bild zu zeichnen: Wir haben es ja hier mit Ansprüchen jetzt, die formuliert werden, zu tun, die über 60 Jahre nach diesen Vorgängen erhoben werden. Also da kann man ja jetzt nicht von einer unmittelbaren Betroffenheit sprechen.

    Spengler: Also das, was die Polen jetzt fordern und wo der deutsche Staat hätte vielleicht die Vertriebenen nachhältiger entschädigen sollen, dafür sehen sie auch keinen Grund?

    Erler: Nein, denn es gab ja hier ein Kriegsgeschehen, von dem sehr, sehr viele Menschen betroffen worden sind in der unterschiedlichsten Weise. Es hat Millionen von Kriegsopfern gegeben und es hat hier Entschädigungs- und Lastenausgleichmaßnahmen gegeben. Und das Ganze jetzt noch mal eine Generation später aufzurollen, das hat auch nach Auffassung von vielen rechtskundigen Fachleuten überhaupt keine Chance.

    Spengler: Das heißt, diese Klage ist für Polen weder moralisch noch politisch akzeptabel und genauso wenig für die Bundesregierung?

    Erler: Wir haben Verständnis dafür, dass in Polen hier Unverständnis und auch Unmut über solche Klagen herrscht. Wir glauben aber, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gibt, weil hier gibt es ja auch umfangreiche Rechtsgutachten zum Beispiel die von Frowein und Barcz, also von einem deutsch-polnischen Team von Spezialisten, woraus hervorgeht, dass egal, ob das national, international oder europäisch geltend gemacht wird, dass solche Klagen rechtlich überhaupt nicht durchsetzbar sind und insofern besteht auch abgesehen mal von dem Ärger, den die Bundesregierung teilt, hier keine Veranlassung zur Beunruhigung.

    Spengler: Dennoch sieht Polens Botschafter die deutsch-polnischen Beziehungen in einer Vertrauenskrise. Würden Sie auch dieses Wort Vertrauenskrise wählen?

    Erler: Nein, das würden wir nicht tun. Denn ich könnte jetzt eine ganze Reihe von positiven Aktivitäten zwischen beiden Regierungen hier aufführen, die eigentlich völlig auf der Linie auch der beiderseitigen Interessen liegen, nämlich eng zusammenzuarbeiten und auch die deutsch-polnische Freundschaft zu pflegen. Von dieser Linie geht auch die jetzige Regierung in Warschau nicht ab.

    Spengler: Es war kurzzeitig seitens der Regierung in Warschau sogar von einer Neuverhandlung des deutsch-polnischen Grenzvertrages von 1990 die Rede. Was sagen Sie zu solchen Aufgeregtheiten?

    Erler: Ja, ich meine, das ist in der Tat eine kurzfristige Irritation gewesen, die sicherlich damit zu tun hat, dass natürlich diese Nachricht von dem Vorgehen der Preußischen Treuhand auch in der polnischen Öffentlichkeit einige Aufregung und erheblichen Ärger ausgelöst hat. Aber diese Idee, dort irgendetwas neu zu verhandeln, ist vom Tisch. Wir hatten auch die Chance, dass Harald Ringstorff, der Ministerpräsident vom Mecklenburg-Vorpommern, zufällig gerade in Warschau war, der viel dazu beigetragen hat, hier auch noch mal den deutschen Standpunkt überzeugend darzulegen. Und das hat dazu beigetragen, dass solche Ideen überhaupt nicht mehr verfolgt werden.

    Spengler: Keine offizielle Stelle in Deutschland unterstützt also die Rückgabe- oder Entschädigungsforderungen ...

    Erler: Nicht mal die Vertriebenen!

    Spengler: ... nicht mal die Vertriebenen selbst, jedenfalls nicht in der Führung. Verstehen Sie dennoch die Aufgeregtheit in Polen, wo dann viele sagen: Wer die Rechtmäßigkeit der polnischen Ansiedelung und die Vertreibung der Deutschen von dort infrage stellt, der relativiert damit die deutsche Schuld für den Zweiten Weltkrieg.

    Erler: Also ich meine, natürlich muss man Verständnis dafür haben, weil, das ist doch völlig klar, wenn solche Dinge in die Presse kommen, zunächst einmal nicht jeder darüber unterrichtet ist, dass solche Versuche völlig chancenlos sind und dass kein Gericht, auch nicht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diesen Klagen stattgeben wird. Aber zunächst einmal weiß das ja nicht jeder. Und vor diesem Hintergrund einer, sage ich mal, unzureichenden Information über die Chancenlosigkeit dieses Vorgehens kann man auch Verständnis für die Aufregung und für den Unmut haben. Aber man muss dann eben mit entsprechender Aufklärung sich dagegen wenden und das haben wir versucht. Wir haben den Eindruck, dass jetzt auch die polnisches Seite das intensiv tut, um jetzt eine Störung des deutsch-polnischen Verhältnisses - und das ist unser gemeinsames Interesse -, zu vermeiden.

    Spengler: Ich meinte es noch etwas grundsätzlicher, Herr Erler: In Polen herrscht ja die Auffassung vor, das ist sozusagen, die Vertreibung, die man dort nicht Vertreibung nennt, ist eine Art kollektive Strafe für die Deutschen, die eben den Zweiten Weltkrieg angefangen haben. Verstehen Sie diese Sicht?

    Erler: Ich würde sagen, es gibt von uns keinen Grund, sich da eine bestimmte Interpretation dieses Geschehens, was ja mit dem Verhalten des Deutschen Reiches in Bezug auf die Nachbarn zu tun, mit der Aggression, die von Deutschland ausgegangen ist und mit dem schrecklichen Unglück, was damit für die meisten Völker Europas verbunden war. Das darf man ja nie vergessen, dass das der Hintergrund auch dann von der Vertreibung gewesen ist. Und insofern braucht man sich also eine bestimmte Interpretation nicht zu eigen zu machen, um doch zu demselben Schluss zu kommen, dass hier keine Ansprüche mehr bestehen.