Dienstag, 23. April 2024

Archiv

Ernst Piper
"Rosa Luxemburg. Ein Leben"

Der Biograph Ernst Piper eilt mit Rosa Luxemburg von Parteitag zu Parteitag, pariert mit ihr die Angriffe der Gegner, gibt jedes Flugblatt wieder. Ein präzises und umfassendes Buch über die Vorkämpferin der Arbeiterbewegung.

Von Henry Bernhard | 14.01.2019
Ein Porträt von Rosa Luxemburg (1871-1919)
Rosa Luxemburg, linke Sozialdemokratin und Mitgründerin der KPD. Sie wurde am 15. Januar 1919 in Berlin ermordet (imago stock&people)
Ernst Piper, ein äußerst quellengenauer versierter Historiker, schildert Rosa Luxemburgs Leben in allen Phasen; auch die Kindheit, soweit das möglich ist. Hier macht er aus der Not der dürftigen Materiallage eine Tugend und schildert das Umfeld, in dem Luxemburg aufwuchs: Das bildungsbürgerliche jüdische Milieu, das Polnisch und Deutsch, aber nicht Jiddisch sprach und sich vom traditionellen Judentum abgrenzte, wenn nicht distanzierte.
Geboren wurde sie als Rozalia Luksenburg 1871 im polnischen Zamość, das damals zum russischen Zarenreich gehörte. Ihre Eltern waren wohlhabend und konnten ihren Kindern eine gute Ausbildung ermöglichen. Die 16-jährige Rosa absolvierte ihr Abitur als Jahrgangsbeste, bekam jedoch von der Schule die ihr zustehende Goldmedaille nicht, weil sie durch aufmüpfige politische Gedichte aufgefallen war.
"Für diejenigen fordere ich Strafe,
die heute satt sind,
die in Wollust leben,
die nicht wissen,
die nicht fühlen, unter welchen Qualen Millionen ihr Brot verdienen."
Zum Studium ging Rosa Luxemburg nach Zürich, denn nur in der Schweiz gab es deutschsprachige Universitäten mit gleichen Möglichkeiten für Männer und Frauen. Sie studierte Zoologie, dann Nationalökonomie, dann Jura – mit großem Erfolg. Wie schon in Polen engagierte sie sich in linken Zirkeln.
Politisch engagiert und festgelegt
Ihr Freund, Mentor, Mäzen, Geliebter, illegitimer Mann wurde der litauische Revolutionär Leo Jogiches. Sie liebte ihn, arbeitete mit ihm und für ihn, verzweifelte immer wieder an seiner Kälte, da "die Sache" ihm über alles ging.
Nach Deutschland kam sie 1898, ging gar eine Scheinehe ein, um die Staatsbürgerschaft zu erlangen. Die deutsche Sozialdemokratie war für sie eine viel versprechende sozialistische Partei. Dort wollte sie wirken. Nationalismus war nicht ihre Sache, betont Piper immer wieder.
"Rosa Luxemburg war eine unduldsame Gegnerin der Wiedererrichtung des polnischen Nationalstaats, der, solange das kapitalistische System nicht überwunden war, immer nur ein Klassenstaat sein konnte, aber sie war deshalb, obwohl Polin, nicht heimatlos. Ihre Heimat war die Arbeiterbewegung, die nirgends so stark entwickelt war wie in Deutschland."
In Berlin wurde sie Mitglied der Sozialdemokratie und stürzte sich sofort erfolgreich in den Wahlkampf. Ihre Reden, ihr Auftreten sorgten für Bewunderung für die Frau, die nur 1,46 m groß war und hinkte. Sie schrieb für die Leipziger Volkszeitung und andere linke Zeitungen und wurde wahrgenommen als Theoretikerin, die auch zur Tat aufrief. Parallel engagierte sie sich in der polnischen Sozialdemokratie, reiste 1905 nach Russland und erlebte erstmalig einen Massenstreik.
"Für Rosa Luxemburg war die Revolution eine Voraussetzung für die Verwirklichung des Sozialismus, der Massenstreik eine revolutionäre Waffe. Und angesichts der Ereignisse in Russland war die Revolution nicht länger eine Frage der Theorie, sondern Realität."
Luxemburg wurde zur wortmächtigsten Repräsentantin des linken Flügels ihrer Partei. Ihre Scharfzüngigkeit und Unerbittlichkeit auf Parteitagen brachten ihr Respekt, aber nicht immer Sympathien ein.
"Die kleine linksradikale Gruppe, deren unbestrittenes Oberhaupt Luxemburg war, begann ihren Weg in die ideologische Exterritorialität, der in letzter Konsequenz zur Abspaltung von der SPD führte."
Das Protokoll eines Lebens
Auch ihr sehr kleines privates Glück ging in die Brüche. Als sie 35 Jahre alt war, scheiterte das wacklige Verhältnis zwischen Luxemburg und Leo Jogiches endgültig. Dennoch bestand er auf ihrer Treue und machte ihr das private Leben zur Hölle wie Piper ausführt. In ihren Briefen, die sie "unreflektierte Herzensergießungen" nannte, habe sie ihren Gefühlen freien Lauf gelassen.
"Es gibt immer wieder Äußerungen, die erkennen lassen, dass Luxemburg eigentlich ein ganz anderes Leben hätte führen wollen. Da ist der Kinderwunsch, der sich steigerte bis hin zu Entführungsfantasien, der Wunsch nach einem richtigen Eheleben, der Wunsch nach Verbindung mit der Natur. All das blitzte immer wieder einmal auf, bevor die Selbstdisziplin die Oberhand gewann."
Ernst Piper eilt mit Luxemburg von Parteitag zu Parteitag, analysiert ihre Texte, pariert mit ihr die Angriffe der Gegner, die sie sich zuhauf machte durch ihre kompromisslose Art. Er protokolliert ihr Leben buchhalterisch genau, gibt jedes Flugblatt wieder, jeden Streit. Für Historiker ein ungemein präzises Angebot. Der Laie jedoch vermisst einen gelegentlichen Perspektivwechsel, den Draufblick aus größerer Entfernung, der das ganze Bild im Auge hat – ebenso wie den ganz nahen Blick auf den Menschen Rosa Luxemburg. Deren zarte, schwärmerische Seite wird zwar gelegentlich anhand von Dokumenten vorgeführt, aber doch kaum in Beziehung gesetzt zu der radikalen Kämpferin. Die Spaltung der SPD im Streit über die Kriegskredite war für Luxemburg nach Pipers Einschätzung
"...die größte Katastrophe ihres Lebens. Alles, woran sie geglaubt hatte – der bedingungslose Internationalismus, die grundsätzliche Systemopposition, der kompromisslose Kampf gegen den Krieg –, war dahin. Sie, die sich in Deutschland nie besonders wohlgefühlt, aber geglaubt hatte, in der SPD eine Heimat gefunden zu haben, stand nach Jahren der wachsenden Entfremdung unversehens als eine Entwurzelte, eine Heimatlose da."
Das Subjekt im revolutionären Prozess
Sehr ausführlich untersucht Pipers umstrittene Luxemburgs Schrift "Die russische Revolution", worin sie auf Distanz zu Lenin geht.
"Allerdings war ihre Argumentation in den wenigen unruhigen Wochen, die sie nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis noch zu leben hatte, nicht immer konsistent, sondern abhängig von aktuellen Ereignissen [...] Es ging Luxemburg nicht um die Meinungsfreiheit im Sinne des durch eine bürgerliche Revolution erkämpften Grundrechts, sondern um das historische Subjekt im revolutionären Prozess, das volle Handlungs- und Entfaltungsfreiheit haben sollte."
In einem Exkurs umreißt Piper den Umgang mit dieser Schrift bis zum heutigen Tag. Leugnung, Verbot, Umdeutung, Verriss, Verdammnis, Preisung - alles war dabei - in Ost und West. Nur seltsam, dass Piper diesen Ausblick auf Luxemburgs Nachwirkung nicht an das Ende seiner Biographie stellt, sondern mitten hinein. Luxemburgs Ermordung, deren Ablauf und die Verantwortlichkeiten handelt er verblüffend knapp auf drei Seiten ab.
Ernst Piper hat eine quellensatte, umfangreiche Biographie geschrieben, an der zukünftige Historiker nicht vorbeikommen. Gerade Luxemburgs Verortung zwischen der reformerischen SPD und dem radikalen, in eine totalitäre Zukunft weisenden Lenin ist ihm glänzend gelungen. Wichtige Fragen jedoch stellt er nicht oder nicht dringlich genug: Wie ist es für Luxemburg gewesen, als jüdische Frau in einem Land, das nicht ihre Heimat war, sich über alle Hindernisse hinwegzusetzen, über Vorurteile, rechtliche Einschränkungen, Ressentiments? Hier ist noch Raum für kommende Biographen.
Ernst Piper: "Rosa Luxemburg. Ein Leben",
Blessing Verlag, 832 Seiten, 32 Euro.