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Erös: Pakistan müsste uns Sorgen machen

Der ehemalige Bundeswehrarzt Reinhard Erös, Leiter des Hilfswerks Kinderhilfe Afghanistan, hat angesichts der Entführungsfälle in Afghanistan davor gewarnt, Mitarbeiter aus dem Land abzuziehen. Das wäre ein fatales Signal für die Afghanen. Pakistan habe sich zum Nest des Terrorismus entwickelt, warnte Erös. Diese Entwicklung hätten sämtliche Politiker in den letzten Jahren unterschätzt.

Moderation: Jürgen Liminski | 24.07.2007
    Jürgen Liminski: Schon Alexander der Große wusste es - Afghanistan kann man durchqueren, erobern lässt es sich nicht. Die zerklüftete Bergwelt, die gnadenlosen Wüsten, die extremen Temperaturschwankungen - die Natur hat aus dem Land zwischen Zentralasien und dem Indischen Ozean eine uneinnehmbare Festung gemacht. Die Briten hatten sich im 19. Jahrhundert die Zähne an den Afghanen ausgebissen, die Russen im vergangenen Jahrhundert, die Amerikaner haben daraus gelernt, sie wollen das Land nicht besetzen, aber doch die Festungen des Terrorismus schleifen.

    Ob das gelingt, und ob das angesichts der Irakisierung des Landes überhaupt möglich ist, das fragt sich mancher angesichts der neuesten Geiselaffäre. Die Deutschen verfolgen auch eine ganz andere Strategie, sie wollen die Afghanen gewinnen, indem sie beim Wiederaufbau des Landes helfen. Einer der Pioniere dieser Strategie ist der ehemalige Bundeswehrarzt Reinhard Erös. Seit mehr als 20 Jahren ist er humanitär tätig. Er baut im Südosten Afghanistans Schulen für Mädchen, führt das Hilfswerk Kinderhilfe Afghanistan und ist jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Erös.

    Reinhard Erös: Guten Morgen, Herr Liminski!

    Liminski: Herr Erös, wann waren Sie denn das letzte Mal in Afghanistan und wo?

    Erös: Ja, ich bin vor knapp zwei Wochen aus dem Osten Afghanistans nach Deutschland zurückgekehrt und ich war dort, wo ich immer bin, wenn ich nach Afghanistan reise, nämlich in den Ostprovinzen. Wir haben dort in den letzten sechs Jahren jetzt seit dem Sturz der Taliban insgesamt 16 Schulen gebaut, zwei weitere sind gerade im Bau, zwei große Mädchenschulen, und deren Baufortschritte hab ich jetzt vor zwei Wochen eben inspiziert und bin mit guten Erfahrungen und mit großer Freude aus dem Land wieder nach Deutschland zurückgekehrt.

    Liminski: Die Ostprovinzen, das ist ja auch da etwa, wo die Deutschen entführt worden sind. Kommen Sie denn bei Ihrer Arbeit auch mit Taliban-Leuten zusammen?

    Erös: Also, Wardak, wo die Entführung wohl stattfand, das ist eher so Zentralafghanistan, südwestlich von Kabul gelegen. Wir sind also weiter im Osten in den Provinzen tätig, dir direkt an Pakistan grenzen. Also aus dem Land, aus dem ja nun der Taliban-Nachschub nach Afghanistan wohl einsickert. Und ich hab natürlich mit den Taliban oder mit ihrem Umfeld dort regelmäßig zu tun, sowohl in Pakistan, wir haben in Peshawar, in dieser westpakistanischen Großstadt am Fuß des Khyber-Pass seit sechs Jahren ein kleines Büro und dort kommt man zwangsläufig natürlich mit den Taliban in Kontakt. Und einige der Taliban-Führer kenne ich auch noch aus der 80er Jahren, denn damals war ich bereits als Feldarzt während der sowjetischen Besatzung im Land und der ein oder andere, dem ich damals medizinisch helfen konnte, ist eben jetzt bei den Taliban gelandet und insofern kommt es immer wieder zu Kontakten.

    Liminski: Würden Sie den Ausländern von Hilfswerken raten, abzuziehen in der jetzigen Lage? Wie machen Sie das denn mit Ihren Mitarbeitern?

    Erös: Ja, also zunächst mal, wir beschäftigen in Afghanistan keine Deutschen, überhaupt keine ausländischen Mitarbeiter. Das unterscheidet uns wahrscheinlich von den meisten, wenn nicht von allen großen Hilfsorganisationen. Wir arbeiten ausschließlich mit afghanischem Personal. Und das funktioniert auch, das funktioniert vielleicht sogar besser, insbesondere in jetzigen Zeiten, als wenn wir da auf in der Regel ja teuer zu bezahlende Ausländer setzen würden.

    Der erste Teil Ihrer Frage, was würde ich den deutschen Hilfsorganisationen jetzt raten? Also abzuziehen, die Sache hinzuschmeißen, wäre das fatalste Signal sowohl gegenüber den guten Afghanen, also denen, die auf uns setzen, und das ist ja die überwältigende Mehrheit der Afghanen, und es wäre ein ebenso fatales Signal an die bösen Buben in Afghanistan, also an die Gegner eines friedlichen Wiederaufbau des Landes. Also ich kann allen Hilfsorganisationen nur raten, im Land zu bleiben, die Projekte weiter zu betreiben und natürlich jetzt in dieser heißen Phase, im wahrsten Sinne des Wortes, es ist dort auch sehr heiß, was die Temperaturen angeht und auch politisch sehr heiß, sich natürlich so entsprechend zu verhalten, dass die Gefahr von Anschlägen oder von Entführungen auf ein Minimum reduziert werden kann.

    Liminski: Wie beeinträchtigt denn der Krieg Ihre Arbeit? Wie schätzen Sie überhaupt die Lage für die ISAF ein? Ist dieser Krieg überhaupt zu gewinnen?

    Erös: Also, wir haben in den Ostprovinzen mit ISAF ja fast gar nichts zu tun. Denn der Osten Afghanistans ist ja das Gebiet der Amerikaner, also der Operation-Enduring-Freedom-Soldaten, da wo tatsächlich jeden Tag gekämpft wird. Meistens finden die Kämpfe von, aus Luftsituationen statt, das heißt, die Amerikaner bombardieren im Osten regelmäßig, fast täglich, sie greifen mit den Kampfhubschraubern ein, Bodengefechte finden dort nur sehr selten statt.

    Wir selber, unsere Projekte, die eben angesprochenen Schulen und die Krankenstationen und das Waisenhaus usw., was wir dort in den letzten sechs Jahren gebaut haben, waren in den letzten Jahren, und das gilt bis zum heutigen Tag, nie bedroht. Sie sind nie angegriffen worden, auch nicht wie andere Schulen eben angezündet worden und auch unsere Mitarbeiter nicht. Ich sage noch mal, über 1.800 Mitarbeiter, die wir dort haben. Großteil davon sind übrigens Frauen, weil wir vorwiegend in Mädchenschulen arbeiten. Auch diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden nie bedroht.

    Liminski: Sie nannten eben das Stichwort Pakistan. Für wie weit fortgeschritten halten Sie denn die Destabilisierung des Nachbarlandes?

    Erös: Afghanistan ist nicht der Hort des Widerstandes gegen den friedlichen Aufbau, er ist nicht das Nest der Terroristen, oder wie immer man sie nennen mag, sondern das ist Pakistan. Und das ist es seit Anbeginn. Seit dem Sturz der Taliban und dem Rückzug der Taliban in die Westprovinzen Pakistans ist es Pakistan, was uns Sorgen machen müsste. Darauf haben in den letzten Jahren leider unsere Politiker, und da schließe ich alle ein, entweder überhaupt nicht reagiert oder es unterschätzt. Und in den letzten Monaten ist das natürlich in Pakistan dramatisch eskaliert. Ich erinnere an die Rote Moschee in Islamabad. Man muss sich das vorstellen, wenige hundert Meter vom Präsidentenpalast, von Musharraf, dem pakistanischen Militärdiktator, haben über mehrere Wochen es radikale militante Fundamentalisten geschafft, Pakistan und die westlichen Medien zum zentralen Thema letztlich zu gestalten. Und es ist in pakistanischen Spezialtruppen, also der Elite der pakistanischen Armee, erst nach Tagen gelungen, diese Rote Moschee von den radikalen militanten Islamisten zu befreien.

    Reinhard Erös: Sie sind Arzt. Könnte man das Bild von einem Weisheitszahn heranziehen, irgendwann ganz plötzlich ist die Krise da, aber es kann auch noch jahrelang gut gehen?

    Liminski: Ja gut, den Weisheitszahn könnte man gegebenenfalls sofort ziehen, damit wäre der Weisheitszahn weg, aber auch die Schmerzen. Pakistan kann ich ja nicht einfach entfernen, sondern dort stehen jetzt im Winter Neuwahlen an. Der Präsident Musharraf will neu kandidieren und wir hätten da in den letzten Jahren Einfluss nehmen können auf die Militanten, die sich im Westen Pakistans in unzähligen, die Geheimdienste sprechen von über 15.000 radikalen Koranschulen, den Madrasen, die sich in dutzenden von immer noch vorhandenen Flüchtlingslagern dort rekrutieren, dort hätte man einsteigen müssen.

    Also, man muss die Wurzeln des Widerstandes in Afghanistan gegen einen friedlichen Aufbau, diese Wurzeln muss man an der Produktionsstätte bekämpfen und nicht am Wirkungsort. In den letzten sechs Jahren hat ISAF, hat Operation Enduring Freedom ja ausschließlich am Wirkungsort, das heißt in Afghanistan versucht, diese Militanten zu bekämpfen und hat nichts getan. Und damit meine ich jetzt natürlich nicht, was die Amerikaner ja heute zum ersten Mal sehr deutlich angedroht haben, dass man jetzt auch in Pakistan militärisch eingreift. Sondern meine Vorstellung war, in Westpakistan neben jede dieser radikalen Koranschulen eine säkulare gut ausgestattete, die Lehrer gut bezahlende zivile Schule hinzubauen. Denn die bauen in Westpakistan und das sind nun wirklich die Ärmsten in diesem Land. Die haben gar keine Alternative, ihre Söhne, wenn sie sie überhaupt noch in die Schule schicken zu wollen, als auf eine Koranschule zu schicken. Es gibt dort keine zivilen säkularen Schulen. Und das ist die Crux, die hätte man mit sehr, sehr viel weniger Geld, als das was uns bisher militärisch der Einsatz in Afghanistan gekostet hat, hätte man das kompensieren können.

    Erös: Die deutsch-afghanische Verbindung ist legendär. Wird sie durch die Ereignisse Schaden nehmen?

    Liminski: Ich glaube nicht. Die ist so tief verwurzelt in den Köpfen der Afghanen, der älteren Generation, aber auch der jungen. Die Deutschen haben sich in Afghanistan in den letzten 80 Jahren, soweit geht ja etwa die Zusammenarbeit Deutschland-Afghanistan zurück, dort stets hervorragend verhalten. Sie haben großartige Aufbau- und Entwicklungsarbeit in den 60ern, in den 70ern geleistet, tausende von Afghanen haben über die Jahrzehnte in Kabul deutsches Abitur gemacht an der berühmten Armani-Schule. Sehr viele davon haben in Deutschland studiert, sind jetzt entweder wieder nach Afghanistan zurückgekehrt, oder kümmern sich jetzt um Afghanistan. Das heißt, ich glaube nicht, dass die hervorragenden Beziehungen zwischen Deutschland und Afghanistan, die hervorragenden historischen und politischen Beziehungen, dass die durch solche Attentate oder Entführungen, wie wir sie jetzt in den letzten Tagen erlebt haben, dass die ernsthaft gefährdet wären. Aber natürlich kann man die Beziehungen durch falsche Politik Deutschlands in die Bredouille bringen. Und da müssen unsere Politiker sowohl in Deutschland selber, was die Sicherheitsgesetze angeht, als auch das Auswärtige Amt bzw. das Verteidigungsministerium schon aufpassen, dass man nicht quasi im Windschatten der US-Außenpolitik jetzt auch mit in das sehr, sehr negative Bild, was die USA in Afghanistan und in Pakistan haben, mit hineingerät.

    Erös: Unsicheres, aber deutschfreundliches Afghanistan. Das war Reinhard Erös, Chef des Hilfswerks Kinderhilfe Afghanistan. Besten Dank für das Gespräch, Herr Erös.

    Reihard Erös: Ich bedanke mich, Herr Liminski.