Heinlein: Wer ist denn besonders anfällig für diese antisemitischen Tendenzen? Ist es die neue Rechte in Europa oder muslimische, arabische Jugendliche, die hier bei uns in Europa leben?
Benz: Es gibt mehrere Strömungen. Die eine besteht aus traditionellen Judenfeinden, das ist das osteuropäische Modell, wo noch ein erheblicher Nachholbedarf an Aufklärung ist. In Osteuropa ist Antisemitismus noch politisch salonfähig, etwa in Weißrussland, in Russland, in der Ukraine, in den baltischen Staaten. Und es gibt neue Träger von Judenfeindschaft, das sind islamistisch gestimmte Einwanderer. Das ist ein Problem derzeit vor allem in Frankreich, Belgien und den Niederlanden.
Heinlein: Wie ist denn Antisemitismus, der Zuwachs dieser Tendenzen nachzuweisen? Wie ist das zu messen? Ist es allein die Zahl an Hakenkreuzschmierereien und ähnlichen Dingen?
Benz: Wir müssen da unterscheiden. Da gibt es einerseits den manifesten Antisemitismus, also kriminelle Delikte, brachiale Gewalt, Hakenkreuzschmierereien, Friedhofschändungen. Das misst der Verfassungsschutz nach den Polizeiberichten. Da wird aufgelistet, was alles passiert ist. Das hält sich mindestens in Deutschland einigermaßen in Grenzen. Das andere Problem, die Einstellung der Bürger gegenüber den Juden, wird von Demoskopen gemessen. Das ist der latente Antisemitismus, und das ist ungleich schwieriger zu interpretieren, was sich dahinter verbirgt, wenn dann eine Endzahl herauskommt, 20 Prozent der Deutschen beispielsweise sind Antisemiten. Das ist das grobe Schlagwort. Dahinter verbirgt sich, bei 20 Prozent der Deutschen gibt es Vorbehalte gegen Juden in ihrem Weltbild.
Heinlein: Wie eng ist denn dieser latente Antisemitismus verknüpft mit dem Nahostkonflikt? Gibt es da überhaupt Verbindungen?
Benz: Natürlich gibt es Verbindungen, und in unserer politischen Kultur werden ja Juden in erster Linie als Opfer wahrgenommen, denen Empathie zusteht. Es ist politisch in der Bundesrepublik Deutschland vollkommen inopportun, sich antisemitisch, judenfeindlich zu zeigen. Kritik an Israel bietet scheinbar einen Ausweg aus dieser Enge, die manche Menschen, die judenfeindliche Einstellungen haben, empfinden. Sie glauben nun, damit ihren Gefühlen Luft machen zu können. Nun ist es ganz selbstverständlich: Kritik an der israelischen Politik ist genauso erlaubt wie Kritik an der deutschen oder an der amerikanischen Politik. Die Grenze zum Antisemitismus ist dann überschritten, wenn man jetzt unzulässige Verallgemeinerungen anstellt und sagt, die Regierung Scharon macht eine falsche Politik, aber Juden sind eben so und Juden machen immer die falsche Politik, oder: Juden sind bösartig. Das sieht man ja an der Politik von Scharon. Damit ist der Rubikon überschritten, und Israelkritik hat dort längst aufgehört und ist längst in Antisemitismus umgeschlagen, wenn man dem Staat Israel das Lebensrecht abspricht und wie seine arabischen Feinde die Juden dann am liebsten ins Meer treiben möchte.
Heinlein: Dennoch: Muss man Ariel Scharon den Vorwurf machen, dass er mit seiner harten Politik gegenüber den Palästinensern, den Morden an Hamasführern, der alltäglichen Gewalt der israelischen Armee in Gaza den Nährboden bereitet für antijüdische Ressentiments in Deutschland und Europa?
Benz: Diesen Vorwurf kann man machen. Man muss aber sich von diesem Nährboden nicht nähren lassen. Es ist immer die Entscheidung des einzelnen, ob er jetzt Scharon kritisiert, was legitim und sein gutes Recht ist, oder ob er dann den Schritt weitergeht und sagt, die Juden sind einfach so; dann ist es Antisemitismus und dann kollidiert es mit unserem gesellschaftlichen Konsens.
Heinlein: Ist etwa der oft zitierte Hinweis, dass der US-Präsident George Bush innenpolitisch Rücksicht nimmt auf die großen jüdischstämmigen Wählerschichten bei ihm daheim in den USA, bereits Antisemitismus?
Benz: Nein, das ist eine politologische Feststellung.
Heinlein: Wird der Vorwurf des Antisemitismus nicht allzu gern und allzu rasch erhoben, um gerade hier in Deutschland Kritiker an der Politik Israels mundtot zu machen?
Benz: Dieser Vorwurf wird aus Ängstlichkeit, aus Furcht, aus überschäumender Betroffenheit gerne und rasch erhoben, und er ist so wirksam, weil es ungefähr der politisch absolute und endgültige Vorwurf ist, den man einem Gegner machen kann. Also man sollte mit diesem Vorwurf auch sehr vorsichtig umgehen und ihn nicht leichtfertig gebrauchen.
Heinlein: Besteht die Gefahr, dass dieser Vorwurf des Antisemitismus auch politisch instrumentalisiert wird.
Benz: Ja, natürlich. Antisemitismus ist das älteste politische, kulturelle, soziale Vorurteil, das die Welt kennt, und Antisemitismus ist immer politisch instrumentalisiert worden, in der Regel fast immer natürlich gegen die Juden, aber es lassen sich auch andere Kreise vorstellen, gegen die man den Vorwurf erheben kann, und in Deutschland ist er auch zum Totschlagargument geworden, um jemanden mundtot zu machen.
Heinlein: Vor dem Hintergrund des wachsenden islamistischen Terrors haben in Europa oder auch in den USA die Vorurteile gegenüber Muslime, gegenüber dem Islam insgesamt nicht schon längst dem Antisemitismus den Rang abgelaufen? Ist dieses Phänomen vielleicht ganz aktuell, viel aktueller?
Benz: Das Phänomen ist aktuell, aber nicht aktueller. Bisher hat noch kein Vorurteil gegen eine ethnische oder soziologisch definierte Gruppe dem Antisemitismus den Rang abgelaufen. Es gibt keine so verbreitete Feindlichkeit gegen Muslime wie es sie als Kultursubstrat gegen Juden gibt.
Heinlein: Sind die Äußerungen des CDU-Politikers Martin Hohmann ein Beispiel für diese antisemitische Tendenz, die Sie gerade zum Schluss geschildert haben?
Benz: Die Äußerungen des Politikers Hohmann sind ein Beweis dafür, dass immer wieder versucht wird, Judenfeindlichkeit zu stimulieren, Antisemitismus zu instrumentalisieren, um damit irgendwelche patriotischen oder andere politischen Projekte zu befördern.
Heinlein: Ist der Umgang der CDU mit Martin Hohmann der richtige Weg, um auf diese antisemitische Äußerungen zu reagieren?
Benz: Ja, das ist der richtige Weg, denn wenn eine bestimmte Grenze überschritten ist, dann wird es undemokratisch, und eine demokratische Partei muss dann auf Sauberkeit in ihren Reihen achten.
Heinlein: Morgen beginnt diese große OSZE-Konferenz in Berlin, die zweite innerhalb eines Jahres. Was versprechen Sie sich denn an konkreten Ergebnissen von dieser Konferenz? Was bringt eine solche Tagung?
Benz: Eine solche Konferenz, an der 50 Außenminister, 50 Botschafter und eine riesige Zahl von Delegationen teilnehmen, kann keine konkreten Ergebnisse haben. Aber diese Konferenz kann den Konsens der zivilisierten Welt, dass Antisemitismus kein politisches Kampfmittel sein darf, stärken, und darin liegt ihr Sinn.
Heinlein: Vielen Dank für das Gespräch.