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"Erst der Mauerfall brachte Deutschland Souveränität"

Müller: Heute ist der 9. November. Mit Konzerten, Andachten und Diskussionsforen wird ganz Deutschland an den Fall der Mauer vor 15 Jahren erinnert, wie auch an die Reichspogromnacht vor 66 Jahren. Der Zusammenbruch der DDR, die Freiheit für 15 Millionen Ostdeutsche, die deutsche Einheit – eine Entwicklung, die längst ihren Glanz eingebüßt hat, zumindest im Bewusstsein vieler Deutscher. Nur jeder Dritte weiß mit dem Datum 9. November etwas anzufangen, die Wessis weitaus weniger als die Ossis und bei den Jungen unter 30 Jahren sind es fast nur noch die Hälfte. Gleichgültigkeit oder Frustration? Darüber wollen wir nun reden mit dem Theologen Richard Schröder, Mitbegründer der Ost-SPD und sozialdemokratischer Fraktionschef in der letzten DDR-Volkskammer. Guten Morgen.

    Die Berliner Mauer in Kreuzberg, 1962
    Die Berliner Mauer in Kreuzberg, 1962 (Deutschlandradio)
    Schröder: Guten Morgen, ich grüße Sie.

    Müller: Herr Schröder, 15 Jahre Mauerfall: Haben Sie heute Nacht von der Mauer geträumt?

    Schröder: Geträumt habe ich nicht von der Nacht, aber ich habe mir schon überlegt, was Sie denn wohl fragen werden. Insofern war es eine Nacht des Gedenkens an die Mauer und ihren Fall.

    Müller: Im Schlaf oder bei Bewusstsein?

    Schröder: So Halbe Halbe.

    Müller: Sind Sie manchmal lieber eher ein Wessi?

    Schröder: Ich habe da gar keine Probleme. Ich habe in Ostdeutschland gelebt, ich habe – übrigens wie meine Familie überhaupt – von der deutschen Einheit geträumt und sie für nicht so schnell möglich gehalten und dann ist sie gekommen. Da sind natürlich die Daten, das Erlebnis und das ist für alle, die es erlebt haben unvergesslich im Osten. Da ist schon ein Unterschied. Für uns war das eben die Öffnung eines Gefängnistores, für die Westdeutschen war das ein ebenso überraschendes und erfreuliches Ereignis, aber keine Öffnung eines Gefängnistores. Das ist ein Unterschied.

    Müller: Sie sind ja als Realist bekannt. Jedenfalls werden Sie so in der einschlägigen Literatur häufig bezeichnet. Sind Ihre Erwartungen eingetroffen?

    Schröder: Ich sage immer, die Demokratie ist nicht nur überall in jeder Kommune im Osten praktiziert, sondern auch akzeptiert. Der Ärger, den es im Osten gibt bezieht sich nach wie vor auf die große Arbeitslosigkeit, auch auf andere Punkte, wo sie sich nicht richtig ernst genommen fühlen. Aber wissen Sie, das nationale Zugehörigkeitsgefühl dürfte im Osten sogar stärker sein als im Westen. Wir haben nämlich keine Probleme zu sagen, wir sind Deutsche. Warum? Die SED hatte es uns verboten, da wollten wir es gerade sein.

    Müller: Sind die Ossis fähig zur Selbstkritik?

    Schröder: Ja. Es ist auch die Erfahrung vieler, die diskutieren. Sie maulen zunächst viel, auch, ich sage mal Unsortiertes, und sind sehr offen in Gesprächen und alle Leute, die das versucht haben merken, dass solche Gespräche dann sehr intensiv sind und da ist auch eine beachtliche Bereitschaft, sich neue Aspekte sagen zu lassen. Auch Matthias Platzeck erzählt das vom Wahlkampf, wenn man sich Zeit genommen hat unter dem Hartz-IV-Gewitter, hat man aufmerksame Zuhörer gehabt. Und das müsste viel mehr geschehen.

    Müller: Herr Schröder, wissen Sie, warum viele Wessis, die in den Osten kommen permanent das Gefühl haben, sich entschuldigen zu müssen?

    Schröder: Mir ist es in dem Maße noch gar nicht aufgefallen. Wir kennen natürlich auch andere, die sagen: "Hier bin ich und sage, wie es gemacht wird." Aber sich entschuldigen müssen, das kann ich mir gut vorstellen. Die 40 Jahre Bundesrepublik waren natürlich ein angenehmeres Leben in jeder Hinsicht als 40 Jahre DDR. Aber wissen Sie, es ist verkehrt, sich so etwas zum Vorwurf zu machen. Wie es umgekehrt natürlich auch verkehrt ist, dass manche den Ostdeutschen vorwerfen, warum habt ihr die Diktatur so lange ertragen oder so etwas. Also ich finde, man soll auch immer mal das Moment der Dankbarkeit, "Ein Glück, dass ich im Westen gelebt habe", das kann man doch ohne rot zu werden sagen. Und ich sage eben "Ein Glück, dass die DDR vorbei ist." Mit ein bisschen mehr Dankbarkeit würde man ja auch die Probleme, die wir vor uns haben und bewältigen müssen bestimmt besser angreifen.

    Müller: Herr Schröder, bleiben wir doch bei der egoistischen Perspektive. Was hat der Wessi in den vergangen 15 Jahren gewonnen?

    Schröder: Sie haben gemerkt, dass Weimar nicht nur ein Ort ist, der in der Literaturgeschichte vorkommt, sondern dass er wirklich existiert, dort ist das Goethe-Haus. Sie haben gemerkt, dass der Thomas-Chor, der Werk von Johann Sebastian Bach pflegt, tatsächlich in Leipzig anzutreffen ist. Kurz gesagt: Sie haben den Teil ihrer Kultur, der ihnen in der Schule in allen Fächern entsprechend präsent ist, den können sie bereisen und sie können sehen, dass es Kulturlandschaften sind, die in nichts den großen Kulturlandschaften des Westens nachstehen. Aber der wichtigste Punkt, der am wenigsten gesehen wird ist: Auch die Westdeutschen sind erst mit dem 3. Oktober in die Mündigkeit gekommen. Ost und West standen unter Vorbehaltsrechten der Alliierten, die sie erst am 3. Oktober eingezogen haben. Seitdem sind auch die Westdeutschen erst vollständig souverän. Sie haben das nicht so gemerkt, weil es ihren Alltag nicht betraf. Wir haben das deutlicher gemerkt, 450.000 russische Soldaten sind deshalb dann abgezogen.

    Müller: Nun ist historisches Bewusstsein, Herr Schröder, ja individuell. Das heißt es ist verschieden ausgeprägt und man hat auch verschiedene Strömungen und Zugehörigkeiten. Was antworten Sie, wenn Wessis - vor allem auch junge - sagen: "Uns kommt das so vor, als sei die Einheit in erster Linie ein Verlustgeschäft."

    Schröder: Ich würde sagen, es gibt nichts auf der Welt, das nicht etwas kostet, aber man guckt, ob der Preis vertretbar ist. Und die Preise, die wir gezahlt haben, sind Geld und nicht Blut.

    Müller: Ist das für Sie viel Geld, was in den Osten geflossen ist?

    Schröder: Natürlich ist das viel Geld, das ist sogar sehr viel Geld, das kann man gar nicht bestreiten. Und man könnte sagen, "Ein Glück, dass wir es hatten" oder man kann sagen "Wo ist das schöne Geld geblieben?"

    Müller: Was sagen Sie?

    Schröder: Das brauchen Sie mich ja gar nicht zu fragen. Im Übrigen, weil jetzt manchmal dieser Ton aufkommt, die deutsche Einheit hat uns so viel gekostet, dass es uns jetzt schlecht geht: Ich höre von den Fachleuten, dass Wirtschaftsreformen im Westen, weil der Motor nicht mehr richtig lief, sich auch bereits 1988 als notwendig angedeutet haben. Also da muss man aufpassen, dass man der deutschen Einheit nicht die Schuld für etwas gibt, das man sowieso bewältigen musste.

    Müller: Zum Thema Geld: Wissen die Ossis, dass viel Geld geflossen ist?

    Schröder: Ja, sie wissen, dass viel Geld geflossen ist, aber ich muss Ihnen sagen, die Zahlen, mit denen da manche arbeiten, die verschnupfen uns natürlich auch. Denn gucken Sie mal, bei der Riesentransfersumme werden die Kosten der im Osten stationierten Bundeswehr einbezogen. Dann können wir ja auch mal eine Transfersumme nach Bayern ausrechnen. Da gucken wir dann auch, wie viel hat der Autobahnbau in Bayern gekostet, wie viel hat die Bundeswehr gekostet, wie viel haben Bundesangestellte gekostet und dann sagen wir: "Ein gewaltiger Transfer nach Süden." Das muss man abziehen.

    Müller: Herr Schröder, könnte es dennoch besser werden?

    Schröder: Natürlich kann das besser werden, ich meine wir haben Wirtschaftsprobleme, wir haben im Osten 18 Prozent Arbeitslosigkeit, wir haben in Bremen zehn Prozent Arbeitslosigkeit. Zehn Prozent Arbeitslosigkeit sind auch ein Ärger. Das heißt, wir haben gesamtdeutsche Wirtschaftsprobleme, besonders ausgeprägt im Osten und dann müssen wir das mal anpacken.

    Müller: Der ostdeutsche Theologe Richard Schröder war das. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Schröder: Wiederhören.