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Erste Missbrauchsstudie des Erzbistums Berlin
Viel Leid, viele Fragen

Nun hat auch das katholische Erzbistum Berlin eine Missbrauchsstudie vorgelegt. Demnach wurden in rund 70 Jahren über 60 Geistliche zu Tätern. Rund 120 Minderjährige waren betroffen von sexuellem Missbrauch. Das Gutachten wurde aber nur teilweise veröffentlicht. Zwei Drittel bleiben unter Verschluss.

Von Thomas Klatt | 02.02.2021
Peter-Andreas Brand (l) und Sabine Wildfeuer, Anwälte der Kanzlei Redeker Sellner Dahs, stellen bei einer Pressekonferenz in Anwesenheit von Erzbischof Heiner Koch (M), Bischof des Erzbistums Berlin, das Gutachten «Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich des Erzbistums Berlin seit 1946» im Tagungszentrum Katholische Akademie vor.
Peter-Andreas Brand und Sabine Wildfeuer haben ein erstes Gutachten über sexuellen Missbrauch im Erzbistum Berlin vorgestellt (Picture Alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)
"Das Gutachten ist nicht vollständig veröffentlicht. Der Teil C der Darstellung, der neben der Darstellung der Beschuldigungen auch die personenbezogenen Daten der Beschuldigten enthält und zudem möglicherweise auch Rückschlüsse auf die Identität der im Gutachten anonymisierten Betroffenen zulassen könnte, wird aus Gründen des Persönlichkeitsrechtsschutzes, der Gefahr der Retraumatisierung der Betroffenen und um eine voyeuristische Darstellung zu vermeiden, nicht der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt, sondern dient der Fortführung der innerkirchlichen Aufklärungs- und Aufarbeitungsbemühungen im Erzbistum," sagt der Pressesprecher des Berliner Erzbistums Stefan Förner.
Der größte Teil der Studie "Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich des Erzbistums Berlin seit 1946" bleibt auf Geheiß des Berliner Erzbischofs Heiner Koch also unter Verschluss.

Das Geheimarchiv

Und das Wenige, was nun veröffentlicht wurde, geht allein aus den Personalakten hervor, die das Erzbistum zwei Rechtsanwälten zur Begutachtung übergab. Diese Personalakten wiederum sind offenbar nur begrenzt aussagefähig. Wörtlich heißt es dazu im Gutachten: "Die Aktenführung über die im Erzbistum tätigen Kleriker ist unordentlich und uneinheitlich, sie folgt keiner erkennbaren und stringenten Ordnung (…) und (ist) offensichtlich unvollständig."
Was die Begutachtung weiter erschwert hat, so die Rechtsanwälte: Es gebe ein sogenanntes "Geheimarchiv", einen verschlossenen Schrank im Büro des Generalvikars. Der sei nicht zugänglich und einsehbar für externe Gutachter.
Sexueller Missbrauch im Erzbistum Köln - Der Priester, der Kardinal und die Kinder
Ein Pfarrer, so der Verdacht, soll sich mehrfach schwer an Kindern vergangen haben – zum ersten Mal 1986. Sollte der Vorwurf zutreffen, war die Bestrafung milde: Er war weiter als Seelsorger tätig, hielt Vorträge, schrieb Bücher.
Gesprächsvermerke, sofern Gespräche stattfanden, wurden demnach entweder überhaupt nicht gefertigt oder zumindest nicht zu den Akten genommen. So grenzt es fast an ein Wunder, dass die beiden beauftragten Rechtsanwälte Sabine Wildfeuer und Peter-Andreas Brand überhaupt etwas gefunden haben - Fälle sexuellen Missbrauchs. Mindestens 61 beschuldigte Geistliche und 121 Betroffene.
Die Dunkelziffer dürfte jedoch weit höher liegen. Dass sich die Opfer erst allmählich melden, erklärt Rechtsanwältin Sabine Wildfeuer damit, "dass die Bekanntmachung am Berliner Canisius-Kolleg im Frühjahr 2010 und die sich daran anschließende öffentliche Debatte über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland viele Betroffene ermutigt hat, über ihre eigenen Missbrauchserfahrungen zu berichten."

"Es gibt keine verbindlichen Curricula"

Vorher jedoch überwog bei den Berliner Klerikern die Empathie für die beschuldigten Mitbrüder.
"Ist in den Akten zwischen den Zeilen zu lesen, dass es das wesentliche Bemühen der Verantwortlichen im Ordinariat war, Schaden von der Institution abzuwenden. Dass Personaldezernenten zeitgleich mit späteren Missbrauchstätern gemeinsam im Priesterseminar gewesen sind und sich deshalb persönlich gut kennen."
Erzbischof Heiner Koch, Bischof des Erzbistums Berlin, äußert sich bei einer Pressekonferenz zur Vorstellung des Gutachtens «Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich des Erzbistums Berlin seit 1946» im Tagungszentrum Katholische Akademie.
Erzbischof Heiner Koch hat entschieden, den Großteil des Gutachtens nicht zur Veröffentlichung freizugeben (Picture Alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)
Die meisten Opfer waren zwischen 8 und 16 Jahre alt, in der Regel Ministranten oder Firm- und Kommunionkinder. Hier nutzten die Geistlichen ihre Vertrauensstellung aus.
Rechtsanwalt Peter-Andreas Brand: "Nach Mitteilung des erzbischöflichen Ordinariats gibt es bis heute keine verbindlichen Curricula für den Kommunionunterricht und für die Katechese, so dass offenbar jeder Priester nach eigenem Ermessen den Unterricht gestaltet. Das hat zur Folge, dass Kleriker unkontrolliert Sexualkundeunterricht erteilt haben. Zudem sollte erörtert werden, ob Sexualkundeunterricht überhaupt Inhalt der Kommunion- und Firm-Vorbereitung sein darf."

Die Kirche hat das Kirchenrecht nicht umgesetzt

Die vom Erzbistum beauftragen Anwälte sagen, das Erzbistum hätte durchaus die Möglichkeit gehabt, kirchenrechtlich einzuschreiten. Doch das Kirchenrecht sei im Erzbistum schlicht nicht angewandt worden. Wobei Rechtsanwalt Brand offensichtlich nicht einmal sagen darf oder kann, um welchen Bischof es sich handelt.
"Dass die von der Glaubenskongregation angeordnete Sanktion von dem Bischof von Berlin und dem Ordinariat nicht umgesetzt wurde. Die Sanktion der Glaubenskongregation wurde schlicht missachtet. Gleiches gilt für Dekrete des Erzbischofs, die nicht umgesetzt wurden. Diese Großzügigkeit bei der Beachtung von kirchlichen Normen ist bemerkenswert. Dass offensichtliche Zölibatsverstöße vom Erzbischöflichen Ordinariat bestenfalls zur Kenntnis genommen wurden, keinesfalls jedoch geahndet wurden. Die Veröffentlichung einer neuen Handreichung der Glaubenskongregation zur kirchenrechtlichen Behandlung von Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs im Sommer 2020 verdeutlicht, dass auch auf Ebene der Weltkirche erkannt worden ist, dass das kirchliche Strafrecht nur unzureichend angewandt wird."

Die Aufarbeitung steht noch am Anfang

Aufgabe der beiden Rechtsanwälte war es aber auch, Verbesserungsvorschläge für das Erzbistum und seine mehr als 2700 Beschäftigten zu machen. Sabine Wildfeuer rät zum Beispiel.
"Notwendig scheint die Bestimmung klarer Kompetenzverteilungen. Grundsätzlich ist deshalb die Frage zu erörtern, ob die Verwaltungsleitung insbesondere auf Personalebene in der Hand von Klerikern liegen soll. Kleriker sind nach ihrer Ausbildung keine Verwaltungsspezialisten. Ebenso wenig sind sie in der Personalführung oder Personalpolitik ausgebildet."
Katholischen Kirche - Streit um die Namen der Vertuscher
Im Bistum Limburg wurde ein ambitioniertes Aufklärungsprojekt zum Thema sexueller Missbrauch angegangen, in dem sogar die Namen der Vertuscher genannt werden. Doch Opfer kritisieren, dass sie bei Aufklärungsprozessen der Kirche kaum eingebunden sind.
Inwieweit heute noch lebende Bischöfe und Kleriker für Fälle sexuellen Missbrauchs verantwortlich sind, geht aus den veröffentlichten Passagen der Studie nicht hervor. Zudem wurden weder Betroffene interviewt noch andere Fachleute wie zum Beispiel Trauma-Therapeuten zu Rate gezogen.
Ob die katholische Sexualmoral oder ein verfehltes Verständnis kirchlicher Moral eine Ursache für sexualisierte Gewalt darstelle – auf solche Fragen gibt es keine Antwort. Das sei auch nicht ihre Aufgabe gewesen, erklärt Rechtsanwalt Peter-Andreas Brand.
"Dazu fehlt uns als evangelischen Rechtsanwälten auch die Kompetenz. Unsere Aufgabe war, festzustellen, was sich aus den Akten ergeben hat. Also beispielsweise im Bistum Limburg gibt es ein Gutachten, an dem, glaube ich, über 60 Gutachter mitgewirkt haben, multidisziplinär, die aus vielen Blickwinkeln die Dinge begutachtet haben. Wir waren nur zwei, nicht 60, sondern nur zwei, die Akten durchzusehen und welche Schlüsse sich daraus ziehen lassen."
Das Berliner Erzbistum betont aber, dass die Missbrauchsstudie nur ein erster Schritt sei. Nun sollen ein Betroffenenbeirat und eine unabhängige Aufarbeitungskommission ins Leben gerufen werden.

[*] Anmerkung der Redaktion: Aus redaktionellen Gründen haben wir die erste Zwischenüberschrift geändert.