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Erster Weltkrieg
Das Zeitalter internationaler Unordnung

Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs vor fast 100 Jahren bricht die bisherige Ordnung der Welt zusammen. Ein Symposium hat sich mit den Folgen dieser Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts beschäftigt und auch Schlüsse für die Eurokrise daraus gezogen.

Von Julian Ignatowitsch | 17.11.2013
    Der Erste Weltkrieg erlebt im gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskurs eine Renaissance. Das mag zum einen am 100. Jubiläum liegen. Im Sommer 1914 nahm die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts ihren Anfang. Zum anderen aber - und das ist viel aufschlussreicher - ist das wieder aufkeimende Interesse an diesem historischen Wendepunkt auf die neuen Perspektiven und Interpretationen zurückzuführen, die mit ihm verbunden sind.
    Christopher Clarks Bestseller "Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog" zeigt das exemplarisch, auch über die Wissenschaft hinaus. Darin wagt der britische Historiker australischer Herkunft - vereinfacht gesprochen - die These, dass Deutschland nicht mehr Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges trage als alle anderen beteiligten Akteure. Clark geht es um die Komplexität der Ereignisse und um die Notwendigkeit eines multiperspektivischen Narrativs.
    Die Konferenz am Institut für Zeitgeschichte in München, die sich mit dem Ersten Weltkrieg unter dem Aspekt des Zusammenbruchs und der Neukonstitution von „Ordnung“ befasste, betrachtete diesen naturgemäß in erster Linie als ein Exempel für den Zusammenbruch von Ordnung. Direktor Andreas Wirsching zu den größeren Linien des Themas:
    "Es gibt natürlich auch Ordnungen, die sich durchhalten; Ordnungen, die neu konstituiert werden; denken sie an die großen totalitären Entwürfe: Etwa der Kommunismus ist eine neue Ordnung, die aus dem Ersten Weltkrieg hervorgeht. Aber was zusammenbricht 1914 ist eindeutig die internationale Ordnung des 19. Jahrhunderts, die letztlich im Wiener System von 1815 wurzelt, die ja gerade erfunden wurde, um die vorwärtsdrängenden Kräfte des Nationalismus, insbesondere aber auch des freien Marktes, des Liberalismus, eben auch zu bändigen. Und mit dem Krieg bricht dieses alte System eines Konzerts der Mächte zusammen und es ist dann nach 1918 schon so, dass nichts an die Stelle des alten Europas gesetzt werden kann."
    Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts als ein Zeitalter internationaler Unordnung - in den Sozialwissenschaften, insbesondere den systemischen Denkschulen, bedeutet die Abwesenheit einer stabilen Ordnung generell Gefahr. Aus ihr resultieren Konflikte und Kriege. Insofern sind Friedensforscher lapidar gesprochen Ordnungsfanatiker, immer auf der Suche nach Stabilität. Wovon internationale Ordnung abhängt, darüber referierte Bernd Greiner vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Seiner Meinung nach sind insbesondere drei politische Ebenen für die Aushandlung von internationaler Politik essenziell:
    "Das eine sind Verfahren, das andere sind Institutionen, und das dritte sind Werte und Normen - darüber entscheidet sich in hohem Maße, ob Konflikte beigelegt werden oder eben nicht."
    Bezüglich des historischen Falls 1914 kommt Greiner damit zu einer plausiblen Erklärung des Kriegsausbruchs:
    "Auf all diesen Politikebenen hat man 1914 eklatante Defizite. Auf der Ebene der Werte und Normen dahingehend, dass alle Akteure von einem abgrundtiefen Misstrauen gegeneinander geprägt waren. Auf der Ebene der Institutionen ist zu sehen, dass die Idee von Machtteilung oder Supranationalität noch nicht mal am Horizont erkennbar war. Und das dritte ist, dass auf der Ebene der Verfahren es keine Gegengewichte gegeben hat gegen die etablierten politischen und militärischen Eliten, wie wir sie insbesondere nach 1945 beobachten, zum Beispiel in Gestalt von zivilgesellschaftlichen Akteuren oder NGOs, also Nichtregierungsorganisationen, die sich unter anderem für Fragen wie Abrüstung stark machen."
    In dieser Argumentation klingt der Bezug zum Europa des Jahres 2013 bereits implizit heraus. Die Europäische Union gilt nicht nur in der Wissenschaft als das Musterbeispiel einer zwischenstaatlichen Wertegemeinschaft mit den entsprechenden Institutionen und Regeln – oder soll man besser sagen galt? Denn die Finanz- und Eurokrise hat vielerorts das Vertrauen zwischen den europäischen Partnern erschüttert, was zum Beispiel an deutschlandfeindlichen Parolen in Griechenland oder umgekehrt Forderungen hierzulande nach Ausschluss der südeuropäischen Länder aus dem Währungsraum deutlich wird. Diese und andere Parallelen von 1913 und heute wurden in München immer wieder warnend thematisiert – und zumeist mit einem Appell für ein geeinigtes Europa verknüpft. Denn die EU-Integration unter Voraussetzung der Kopenhagener Kriterien von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde, der gemeinsame Währungs- und Binnenraum - all das lässt sich wieder einem Schlagwort zuordnen:
    "Das ist eine Ordnungsleistung, die verhindert hat, dass der Kontinent, kaum ist die Mauer beziehungsweise der Eiserne Vorhang gefallen, wieder durch eine neue Kluft beziehungsweise eine neue Mauer, die dann ökonomisch und politisch mental gewesen wäre, ersetzt worden ist."
    Man habe in Europa aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt, so der allgemeine Standpunkt in München. Gerade während der jetzigen Krise gelte es, an diese Lehren nach wie vor zu erinnern, damit es zu keiner neuen Katastrophe kommt. Vielleicht liegt auch darin der tiefere Grund für das aktuelle Revival der Vorkriegszeit. Alles eine Frage der Ordnung.