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Erster Weltkrieg
Die letzten Tage der alten Welt

An den Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren wird in zahllosen Gedenkveranstaltungen erinnert. Die Französische Nationalbibliothek in Paris rückt in ihrer Ausstellung "Été 14" (Sommer 14) die letzten Tage davor in den Mittelpunkt. Sie zeigt, wie groß der Schock für die Menschen war.

Von Kathrin Hondl | 27.03.2014
    Die ersten deutschen Soldaten überqueren zu Beginn des 1. Weltkriegs 1914 die französische Grenze.
    Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam für viele Menschen in Frankreich überraschend. (picture alliance / dpa)
    Der Sommer 1914 begann wie die anderen Sommer der so genannten Belle Epoque. Chansons, Fotografien und bunte Plakate illustrieren eine weitgehend sorgenfreie Welt - mit Werbung für die aktuelle Sommermode oder den neuen Service der nordfranzösischen Eisenbahnen, das Urlaubsgepäck kostenlos von den Pariser Stadtwohnungen in die Badeorte zu transportieren. Als am 28. Juni in Sarajewo ein serbischer Nationalist den österreichischen Thronfolger Franz-Ferdinand ermordet, interessiert man sich in Frankreich mehr für den Start der Tour de France. Am 14. Juli, dem Nationalfeiertag, wird getanzt wie eh und je. Man freut sich auf die Sommerferien. Auch anderswo in Europa sorgt das Attentat von Sarajewo kaum für Beunruhigung. Politische Krisen und Spannungen war man schließlich gewohnt, sagt der Historiker Frédéric Manfrin, Kurator der Ausstellung.
    "Warum also gerät in diesem Sommer 1914 auf einmal alles außer Kontrolle? Man könnte es mit einer Pokerpartie vergleichen, wo geblufft wird und dann alles eskaliert. Niemand will wirklich Krieg. Alle sind zwar grundsätzlich dazu bereit, haben aber allenfalls einen begrenzten Krieg im Sinn. Österreich will gegen Serbien vorgehen. Auch das Deutsche Kaiserreich favorisiert einen regionalen Konflikt. Es sagt aber auch: Wenn Russland Krieg will - dann lieber jetzt als später."
    Die so folgenreiche Pokerpartie begann fast einen Monat nach dem Attentat von Sarajewo, am 23. Juli, als Österreich-Ungarn Serbien ein Ultimatum stellte. Die folgenden 13 Tage bis zum Einmarsch der deutschen Truppen in Belgien am 4. August stehen im Mittelpunkt der Ausstellung in der Französischen Nationalbibliothek. Zu sehen sind die immer alarmierender werdenden Telegramme und Depeschen, die die französischen Botschafter aus St. Petersburg, Wien und Berlin der Regierung nach Paris schickten. Oder die Briefe des deutschen Kaisers Wilhelm II. an den russischen Zaren, den er zwar duzt, dessen Vorschläge zur Lösung der österreichisch-serbischen Krise er aber abblitzen lässt. Dass die Tage der "alten Welt" gezählt waren, dokumentiert auch der Tagebucheintrag des französischen Schriftstellers und Diplomaten Paul Claudel, der damals als Konsul in Hamburg lebte. Er beschreibt, wie er und seine Familie am 3. August ausgebuht und angespuckt wurden, als sie das Deutsche Kaiserreich Hals über Kopf verlassen mussten. Noch unerwarteter kam der Krieg für die ganz normalen Franzosen.
    "Es war ein Sommer wie alle anderen. Die Bauern waren auf dem Feld. Auf dem Land gab es kaum Zeitungen. Die Mobilmachung am 2. August war für die Leute eine große Überraschung."
    Mit einer Fülle von Dokumenten zeigt die Ausstellung, wie sich die Gesellschaft in Kriegsbefürworter und -gegner spaltet. Ein prominentes Beispiel sind die Brüder Thomas und Heinrich Mann, die sich im Sommer 1914 dauerhaft entzweien. Während Thomas Mann das Deutsche Kaiserreich auf dem Weg in den Krieg unterstützt, ist der frankophile Demokrat Heinrich Mann ein überzeugter Kriegsgegner. Wie der französische Sozialistenführer Jean Jaurès, der am 31. Juli in Paris von einem fanatischen Nationalisten ermordet wird.
    "Jean Jaurès war ein echter Pazifist, sagt Frédéric Manfrin. Aber er meinte auch, dass ein Volk, das angegriffen wird, sich verteidigen muss. Jaurès war also für eine Verteidigung, aber gegen jede Offensive. Er predigte einen Generalstreik der Proletarier aller Länder, um den Krieg zu verhindern. Gleichzeitig aber sagte er, wenn Frankreich angegriffen würde, müsse gekämpft werden. Nach dem Mord an Jaurès übernehmen die Sozialisten diese Position."
    In ihrer Konzentration auf die Ereignisse des Sommers 1914 macht die Ausstellung deutlich, wie rasend schnell eine Katastrophe Wirklichkeit wurde, die sich niemand hatte vorstellen können. Noch im selben Sommer, der wie alle anderen begonnen hatte, starben Zehntausende in den Schützengräben. Allein am 22. August fielen 27.000 Franzosen. "Der Schock" - so ist der letzte Teil der Ausstellung überschrieben.
    "Alles bricht auf einmal zusammen. Die Vorstellungen vom Krieg waren ja meist noch vom Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 geprägt, als auf Pferden mit Bajonett und Säbel gekämpft wurde. Doch diese Welt ist verschwunden. Und die Welt des industrialisierten Krieges, der Massen-Gewalt hatte sich niemand vorstellen können. Das war ein totaler Schock. Körperlich und psychisch."