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Erster Weltkrieg
Mentalitäten und Ideologien am Vorabend des Krieges

Was waren die großen geistigen Strömungen am Vorabend des Ersten Weltkrieges? Wie setzte sich das geistige Klima im Deutschen Reich um 1900 zusammen? Geschichtswissenschaftler gehen den Ideologien und Mentalitäten nach, die den Weg in den Krieg begleitet und vielleicht geebnet haben.

Von Matthias Hennies | 02.01.2014
    Versammelte Berliner Bürger warten am 01.08.1914 auf eine bevorstehende Rede des deutschen Kaisers Wilhelm II vor dem Stadtschloss in Berlin. Der Kaiser sprach kurz darauf zum Kriegseintritt Deutschlands und verkündete die allgemeine Mobilmachung.
    Rede des deutschen Kaisers Wilhelm II. vor dem Stadtschloss in Berlin am 1.8.1914. (picture alliance / dpa )
    "Es muss denn das Schwert entscheiden. Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Darum auf! Zu den Waffen! ... Wir werden uns wehren bis zum letzten Hauch von Mann und Ross. Und wir werden diesen Kampf bestehen gegen eine Welt von Feinden."
    Mit diesen Worten wandte sich Kaiser Wilhelm II. am 6. August 1914 an die Deutschen. Denselben Ton schlägt eine Propagandaaufnahme, ein gestelltes "Hörbild", aus demselben Jahr an.
    "Schwere Zeiten sind über uns hereingebrochen, Feinde ringsum, nach 44 Jahren zwingt man uns die Waffen in die Hand, um nach segensreichen Jahren des Friedens unser Hab und Gut und unsere Stellung als Großmacht zu verteidigen."
    Das Reich umgeben von Feinden, in existenzieller Not, gezwungen zur Selbstverteidigung: So verkauften Kaiser und Regierung ihren Bürgern die Mobilmachung - und so hatten Politiker und Professoren schon seit Jahren geredet.
    Nationalismus - eine Ursache der Urkatastrophe
    Der Nationalismus grassierte überall in Europa, doch im Deutschen Reich traf er mit einer eigenartigen "Underdog"-Mentalität zusammen und bekam eine spezielle, trotzige Ausprägung. Historiker sind sich weitgehend einig, dass die Wurzeln dafür zum Anfang des 19. Jahrhunderts zurückreichen - der Nationalstolz war damals aber mit einem starken Freiheitsdrang verknüpft. Gangolf Hübinger, Kulturhistoriker an der Universität Frankfurt an der Oder:
    "Der moderne Nationalismus ist ja, ganz grob besagt, ein Kind der Französischen Revolution. Freiheit, Emanzipation und Nationalismus sind zwei Seiten derselben weltgeschichtlichen Bewegungen von 1789 und gerade in den deutschen Staaten ist der Nationalismus auch als Reaktion auf Napoleon und seine imperialen Ausgriffe sehr heftig, sehr aggressiv."
    Und kommt aus einer defensiven Grundhaltung, denn 1813 stand dem mächtigen Kaiser der Franzosen eine Handvoll zerstrittener deutscher Kleinstaaten gegenüber.
    Die deutschen Patrioten forderten damals nicht nur den Kampf gegen die napoleonische Besatzung, sie wollten nicht nur nationale Freiheit und Einheit, sondern auch Freiheit von der Willkür der absolutistischen deutschen Herrscher. Nach dem Ende der Befreiungskriege und der Restauration der alten Verhältnisse 1815 auf dem Wiener Kongress hielten sie die nationalen und die emanzipatorischen Ansprüche aufrecht - beim Wartburgfest 1817, auf dem Hambacher Schloss 1832, in der Revolution von 1848. Die Verbindung imperialer und demokratischer Forderungen stellt die Grundform des Nationalismus im 19. Jahrhundert dar, meint Professor Hübinger:
    "Selbst die linkesten 48er wollten ein Großdeutschland, das bis an die holländische Küste reicht. Und sie haben das aber verbunden mit immer weiteren demokratischen Ansprüchen immer größerer Bevölkerungsteile, an der politischen Herrschaft mitzubestimmen."
    Ab Mitte des Jahrhunderts verlor die freiheitlich-liberale Bewegung an Bedeutung. Als die Industrialisierung allmählich neue unternehmerische Möglichkeiten eröffnete, spaltete sich ein wirtschaftlicher Liberalismus vom emanzipatorischen, politischen Flügel ab. Nach den Einigungskriegen in den 1860er-Jahren und der Gründung des Deutschen Reiches 1871 traten die alten freiheitlichen Ideale weiter in den Hintergrund. Nationale Themen beherrschten nun die politischen Debatten.
    Hübinger: "Der gesamte Liberalismus gerät in die Opposition, aber dieser linke Strang, als Transformator von Ideen der Aufklärung, ist eigentlich nur eine qualifizierte Minderheit in der politischen Kultur des Kaiserreichs."
    Mit der Entwicklung Deutschlands zur führenden Industrienation gegen Ende des Jahrhunderts kam die Forderung nach Demokratie dann zunehmend von den Sozialisten - weiterhin mit eindeutig nationaler Färbung.
    In dieser zweiten Phase der Industrialisierung überflügelte das Reich mit sprunghaften Produktionszuwächsen in Schlüsselbranchen wie der Stahlherstellung und den neuen chemischen und elektrotechnischen Industrien sogar die Weltmacht Großbritannien, das Mutterland der industriellen Revolution. Entscheidenden Anteil daran hatten deutsche Wissenschaftler. Mit ihren unwiderlegbaren, zählbaren Erfolgen errangen Forscher und Gelehrte zunehmende Anerkennung in der Gesellschaft des Kaiserreiches.
    Deutsche Professoren gewannen viel größeren Einfluss, prägten die intellektuelle Kultur viel stärker als Forscher in Frankreich oder England. Doch national dachten alle, in allen Ländern: Die Nation galt ihnen als grundlegendes, nicht hinterfragbares Ordnungsprinzip - obwohl Geistes- wie Naturwissenschaftler intensiv über Ländergrenzen hinweg kooperierten und konkurrierten.
    Der deutsche Nationalismus war nach wie vor mit imperialen Ansprüchen verbunden - und mit der trotzigen Haltung eines zu Unrecht Zu-kurz-gekommenen. Das spiegelt sich in Äußerungen bis hinauf in die Reichsspitze. Bernhard von Bülow, der spätere Reichskanzler, prägte 1897 im Reichstag das bekannte Wort:
    "Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne!"
    Also beteiligte sich Deutschland am Wettstreit der Großmächte um Kolonien in den ärmeren Regionen der Erde, ergatterte einige Häppchen bei der Aufteilung Afrikas, begründete symbolische Stützpunkte in Ostasien und im Pazifik. Fast jeder im Land, egal ob Professor oder Arbeiter, war überzeugt, dass die Nation dringend Kolonien brauchte. Nur wenige besaßen eine geistige Unabhängigkeit wie der Humorist Otto Reutter, der sich 1911 mit scharfer Zunge über Imperialismus und Militarismus lustig machte:
    Ach wie fein, ach wie fein, wird's in hundert Jahren sein,
    dann siehts anders aus, das sieht nun jeder ein.
    Mancherlei ist dann neu, wie man sich wohl denken kann,
    Deutschland, Deutschland über alles, heißt es dann.
    Ja, in Asien, Australien und Amerika
    spricht man deutsch, denn es sind deutsch Kolonien da.
    Dazu braucht man selbstverständlich eine Menge Militär,
    Zivilisten gibt's dann überhaupt nicht mehr ...
    Die Haltung von Bürgerlichen und Sozialisten unterschied sich nur in der Frage, ob man um Kolonien kämpfen dürfe. Im Bürgertum sah man einen solchen Krieg als Akt der Selbstverteidigung an, sagt Gerd Krumeich, emeritierter Geschichtsprofessor der Universität Düsseldorf:
    "In diesem klitzekleinen Deutschland ist einfach nicht mehr genug Platz für die 70 Millionen, bald 80 Millionen, die wir sein werden. Wir müssen nach draußen, und wenn die anderen Nationen uns das nicht erlauben, weil die, bevor wir überhaupt eine Nation wurden, die Welt schon verteilt hatten, ja, dann müssen wir es erkämpfen! Das ist die Verteidigung unserer Zukunft. Wir werden erstickt werden, wir sind sowieso schon eingekreist von den Nachbarn, die drücken uns die Luft zum Atmen ab, das sagt der Reichskanzler Bülow 1906 ganz genau in einer Reichstagsrede."
    Dahinter steckte auch die Suche nach neuen Möglichkeiten wirtschaftlicher Expansion. Man glaubte, die Produkte der boomenden deutschen Fabriken könnten nur ins Ausland verkauft werden: Noch kaum jemand hatte erkannt, dass die Arbeiterschaft ein gewaltiges Potenzial an Konsumenten im Inland darstellte.
    Die sozialistischen Parteien lehnten einen imperialistischen Aggressionskrieg um Kolonien ab. Sie wollten sich nicht zum Handlanger bürgerlicher Profiteure machen lassen. Aber auch sie waren keine Pazifisten. Wenn es um einen Verteidigungskrieg ging, um den Schutz ihrer Nation, dann standen sie bereit.
    Krumeich: "Die Nation geht ihnen über alles, die Internationale ist auch sehr wichtig, aber die Nation geht ihnen in Deutschland, in Frankreich, in England dann doch immer noch weiter als der Internationalismus und es ist ganz sicher so, dass ein Sozialist um 1910 den imperialistischen Krieg ablehnt, aber auf jeden Fall bereit ist, einzustehen für die nationale Verteidigung."
    Für die Konservativen, insbesondere die preußischen Junker auf den großen Landgütern im Osten Deutschlands, stand die Bereitschaft zum Krieg schon gar nicht infrage. Sie sahen darin auch ein Mittel, um die Monarchie zu erhalten und den Ansturm der neuen Zeit abzuwehren: die Technisierung der Welt, die Demokratisierung, die Massengesellschaft.
    Krieg als Naturgewalt
    Die Überzeugung, Krieg gehöre zur Politik, ja, zum Leben dazu wie durch ein Naturgesetz, war in allen Schichten Europas verbreitet. Das hing nicht zuletzt mit einer geistigen Strömung zusammen, die den Kontinent nach heftigem, hoch-emotionalem Widerspruch schließlich wie im Sturm erobert hatte: Darwins Lehre von der menschlichen Abstammung und dem Überleben der Fähigsten. So leidenschaftlich viele den Darwinismus zuerst abgelehnt hatten, so radikal wandelte sich das Bild ab den 1880er-Jahren: Darwins Theorien wurden, verkürzt und missverstanden, auf alles und jedes angewandt - nicht zuletzt auf die Beziehungen zwischen Rassen und Völkern.
    Krumeich: "Jeder, die Sozialisten, die Konservativen, alle dachten, dass Darwin ihre Art zu leben und zu denken gut spricht und dass das die Zukunft ist. Das sozialistische 'Mit uns zieht die neue Zeit' geht genau in die Richtung. Darwinismus ist mehr oder weniger aggressiv, der Kampf ums Überleben - in linken oder intellektuellen Kreisen gab's auch Theorien, dass die Natur sich gegenseitig hilft, dass nicht alles nur Kampf ist, aber dass am Ende der Stärkere siegt und dass es Entwicklungsgesetze der Natur gibt, an denen der Mensch nicht vorbei kommt, sondern sogar seine Gesellschaft darauf ausrichten sollte, das ist die Religion jener Zeit."
    Das sozialdarwinistische Gedankengut befeuerte den Nationalismus in Europa und gab ihm eine aggressive Richtung. Auch in Frankreich gerieten die Erben der Aufklärung in die Defensive. Die heftigen Auseinandersetzungen um den unrechtmäßig verurteilten jüdischen Hauptmann Dreyfus zeigten, wie tief das Land in zwei Lager gespalten war, erklärt der Kulturhistoriker Gangolf Hübinger:
    "Die eine schlägt sich nieder rund um Emil Durkheim, also die die Aufklärung transportieren, den Individualismus, das Individuum auch in das Zentrum des sozialen Denkens stellen will, Freiheit des Individuums, die andere Richtung, die das scharf attackiert, die Action Française, postulieren die Gemeinschaft mit dem Vorrang vor dem Individuum und Gemeinschaft ist natürlich immer die nationale Gemeinschaft."
    Nach 1900 war die Stimmung in Europa von der Erwartung des Krieges bestimmt, sagt Hübinger. Überall war man, zumindest in den nationalistischen Bewegungen, überzeugt. Hübinger:
    "Es ist keine Frage, ob der nächste Krieg kommt, sondern nur, wann er kommt."
    Eine Ausnahme stellte am ehesten Großbritannien dar. Unter den Eliten des viktorianischen Königreichs gab es nicht das fatale Gefühl einer kollektiven Demütigung, das vor allem in Deutschland, seit der Niederlage von 1871 aber auch in Frankreich herrschte: England war schließlich die führende Weltmacht. Zudem relativierten immer wieder aufflackernde Unruhen in Irland, Südafrika und anderen Winkeln des Weltreichs das nationalistische Getöse auf dem Kontinent.
    Im Deutschen Reich verschärfte sich der Ton der geistigen Auseinandersetzung, der "Ideenkampf", wie es Gangolf Hübinger nennt, mit dem Doppeljubiläum von 1913: Gefeiert wurden der 100. Jahrestag der Befreiungskriege und das 25-jährige Thronjubiläum Kaisers Wilhelms II.:
    "An allen Universitäten halten die Geschichtsprofessoren oder die Rektoren flammende Reden über die nationale Verteidigung gegen Napoleon und das Volk in Waffen von 1813, immer mit dem Subtext: Passt auf, Franzosen, vor allem Franzosen, jetzt im Jahr 1913 wir sind wachsam, präsent, kriegsbereit, so wie wir es 1813 waren und wenn es zum großen Kladderadatsch kommt, dann seht euch vor, wir sind wehrhaft."
    Dass es tatsächlich dazu kam, war dennoch nicht unvermeidlich. Darin ist sich die überwiegende Mehrheit der Historiker heute einig. Europa war seit Jahren von einer Krise zur nächsten getaumelt, ob es um Kolonialbesitz in Marokko ging oder das Pulverfass auf dem Balkan, doch man hatte immer wieder Kompromisse gefunden. Woran lag es, dass 1914 tatsächlich mobilgemacht wurde? Waren die großen Waffenproduzenten die Scharfmacher, Krupp in Essen oder Schneider in Le Creusot etwa, die am Krieg prächtig verdienen konnten? Vor allem Historiker in der DDR haben diese These lange vertreten, aber Gerd Krumeich widerspricht:
    "In Wirklichkeit ist schlicht nicht nachweisbar, was auf der Linken vor 1914 und auch nach 1918 ein Axiom war, eine einfache Wahrheit, dass die Waffenfirmen auf den Krieg gedrängt hätten. Genau das lässt sich historisch nicht nachweisen."
    Das Versagen der Politik
    Die Kriegsbereitschaft war in allen Großmächten stark, das Militär genoss hohe Wertschätzung und die wenigen warnenden Stimmen gingen unter. Jürgen Osterhammel, Historiker in Konstanz, meint, dass die Regierungen in Berlin und Wien am meisten dazu neigten, einen europäischen Konflikt zu wagen. Die deutsche Reichskanzlei und das Auswärtige Amt hatten seit Langem das bedrohliche Bild vom eingekreisten Reich verbreitet. Und viele Militärs drängten, dass man einer Verschlechterung der Lage dringend mit einem Präventivschlag zuvorkommen müsse.
    Als die Regierungen im August 1914 tatsächlich Befehl zur Mobilmachung gaben, ahnten die Politiker allerdings weder in London oder Paris noch in Wien, Berlin oder Petersburg, welche Katastrophe sie auslösten.
    "Das hättest du mal einem vor 1914 erzählen sollen, dass auch die Pferde noch Gasmasken kriegen. Nein, das war ein anderer Krieg, als sie sich vorgestellt hatten."
    Dabei hätten sie es wissen können, betont Krumeich. Im amerikanischen Bürgerkrieg war bereits die grausame neue Taktik der verbrannten Erde zu beobachten gewesen. Im Russisch-Japanischen Krieg konnte man sehen, welches Blutbad die neuen Maschinengewehre anrichteten. Doch die Generäle lernten die Lektionen nicht. In einer eklatanten Fehleinschätzung meinten sie, in Frankreich genauso wie in Deutschland, den Krieg mit wenigen Schlachten in ein paar Monaten beenden zu können. Aber das Morden geriet außer Kontrolle - und die Regierungen vermochten es nicht mehr einzudämmen. Krumeich:
    "Das ist das größte Versagen der Politik und das ist etwas, wenn man mich fragt, was müsste eigentlich an der Kriegsgeschichte noch geschrieben werden im Ersten Weltkrieg, dann ist es genau dieser Punkt: Dass wir in der Feinstruktur mal erkennen, was eigentlich dazu führt, dass sich dieser Krieg immer weiter beschleunigt!"
    Nicht alle, aber viele Historiker meinen, dass sich Europas Regierungen offenen Auges auf den Krieg einließen. In grober Selbstüberschätzung gaben sie dem aggressiven Nationalismus, der lange schwelenden Kriegsbereitschaft nach, weil sie glaubten, den Konflikt beherrschen zu können. Dass sie wie Schlafwandler handelten, wie es der australische Wissenschaftler Christopher Clark kürzlich dargestellt hat, bezweifelt auch Gangolf Hübinger:
    "Mein Bild ist eher das von ungebremsten Zügen, in denen man immer mehr die Gaspedale ölt, dass die immer stärker in diesem rivalisierenden Denken aufeinander zu fahren und dass die Intellektuellen oder die Kultureliten das mit entsprechenden Zivilisationstheorien flankieren."