Simon: Sie sind zuständig auch für die Umsetzung der Bestimmungen für die Kontrolle, denn die Kandidatenländer müssen die EU-Gesetze und -Vorschriften übernehmen. Manche tun sich da etwas schwer. Wie streng wird in der Kommission die wirkliche Umsetzung kontrolliert, zum Beispiel in der polnischen Landwirtschaft, dass bestimmte Hygienevorgaben auch wirklich eingehalten werden.
Verheugen: Also, wir reden jetzt über zwei verschiedene Dinge. Dass also relativ einfach zu kontrollieren ist und wo wir auch am Ende eine 100-Prozentige Sicherheit haben werden, ist die vollständige Übernahme der gesamten EU-Gesetzgebung. Das wird am Tag des Beitritts überall passiert sein. Die andere Frage ist die, ob diese EU-Gesetzgebung dann am Tag nach dem Beitritt auch überall vollständig und korrekt angewendet werden wird. Das ist nur teilweise der Fall, weil wir nämlich in einigen Bereichen Übergangsfristen erlauben; das ist völlig normal, ist ja auch bei den Mitgliedsländern so. Sie können zum Beispiel nicht erwarten, dass in Polen innerhalb von zwei Jahren 1.000 Kläranlagen gebaut werden. Wie soll das funktionieren? Dazu brauchen wir Übergangsfristen. Was die Frage angeht, ob die verwaltungsmäßigen Fähigkeiten ausreichen, das gesamte EU-Recht anzuwenden, so glaube ich, dass die Kandidaten besser vorbereitet sind als die Kandidaten in allen bisherigen Erweiterungsrunden. Aber hier haben wir genaue Systeme der Überprüfung und der Überwachung. Und wenn wir das Gefühl haben, dass irgendwo die Fähigkeit nicht ausreicht, das Recht auch anzuwenden, dann wird das entsprechende Verhandlungskapitel nicht geschlossen, und das bedeutet, dass das Land dann noch nicht beitreten kann.
Simon: Bleiben wir doch mal bei einem konkreten Fall. Sie nannten gerade Polen. Die Polen haben ja zum Beispiel für den Bereich der Landwirtschaft 50 dieser Übergangsregelungen/Übergangsfristen verlangt, vor allem eben in schwierigen Bereichen. Kann es die überhaupt für ein EU-Mitglied Polen geben?
Verheugen: Übergangsfristen sind völlig normal. Wir haben einige hundert Anträge auf Übergangsfristen . . .
Simon: . . . aber auch in dieser Höhe - 50 Stück für ein Land, nur in einem Bereich?
Verheugen: Ja. Ich meine, Sie müssen berücksichtigen, dass Polen ja die Hälfte aller Einwohner in diesem gesamten Erweiterungsprozess stellt und die Sektoren in Polen sehr viel größer sind als anderswo. Diese Übergangsfristen reduzieren sich erfahrungsgemäß wesentlich, wenn wir mit den Verhandlungen über das entsprechende Gebiet anfangen. Wir haben über Landwirtschaft noch gar nicht angefangen zu verhandeln. Das wird sich also noch dramatisch reduzieren. Ich will nur sagen: Wo wir mit Übergangsfristen nicht arbeiten können - also was nicht gehen wird und was wir nicht akzeptieren -, ist, dass Produkte auf den Binnenmarkt kommen, die nicht unseren Standards in bezug auf Qualität und Lebensmittelsicherheit entsprechen.
Simon: Das heißt, dass die Polen dann nur für den eigenen Markt produzieren werden, wenn sie nicht die Standards der EU in Sachen Hygiene einhalten?
Verheugen: Für solche Produkte, für die das zutrifft - das wird ja sicherlich nicht überall zutreffen, und auch das hängt davon ab, ob ein entsprechend sicheres Kontrollsystem geschaffen werden kann. Was ich hier sagen will, ist, dass wir an diesem Punkt ganz klar die Interessen der Verbraucher in der gesamten Europäischen Union - das gilt bei den jetzigen Mitgliedsstaaten genau so wie für die kommenden Mitgliedsstaaten - ganz klar die Interessen der Verbraucher in den Vordergrund stellen.
Simon: Wenn wir nochmal auf andere Kandidaten der Erweiterung schauen: Vor vier Jahren haben ja die Regierungschefs in Luxemburg erklärt, sie würden kein geteiltes Land in die EU aufnehmen. Zypern ist aber so ein geteiltes Land. Dort bewachen UNO-Soldaten den Waffenstillstand zwischen den zypriotischen Griechen und den Türken. Trotzdem wird Zypern immer bei der ersten Gruppe der aufzunehmenden Länder genannt. Welches Zypern will denn die EU da aufnehmen?
Verheugen: Das ist vollkommen klar. Die Strategie für Zypern lautet, dass wir den Erweiterungsprozess - oder die Verhandlungen - benutzen wollen, um die Friedensbemühungen der Vereinten Nationen zu erleichtern. Das heißt, wir setzen die Perspektive der EU-Mitgliedschaft als ein zusätzliches Druckmittel oder auch als zusätzlichen Anreiz zur Zustimmung zur politischen Konfliktlösung ein. Ich habe auch die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass diese Strategie gelingen kann. Bis jetzt haben die Vereinten Nationen ja überhaupt noch keinen Friedensplan auf den Tisch gelegt; sie sondieren ja immer noch. Und auch wir setzen alle unsere Möglichkeiten ein, um alle Beteiligten dann auch wirklich an den Tisch zu kriegen. Also noch wissen wir gar nicht, in welcher Lage wir Ende nächsten Jahres sein werden. Im übrigen ist es aber so, dass spätestens in Helsinki - nach meiner Meinung war das schon in Luxemburg klar, aber da brauchen wir uns nicht drüber zu streiten -, dass spätestens in Helsinki klargestellt worden ist, dass wir nicht erlauben werden, dass, welche zypriotische Gemeinschaft auch immer, ein Veto über den gesamten Erweiterungsprozess erhält. Und darum ist in Helsinki 1999 ganz bewusst erklärt worden: Die Aufnahme eines vereinten Zyperns ist die Lösung, die wir wollen. Dies ist aber nicht die zwingende Voraussetzung, sondern die Entscheidung wird getroffen werden, wenn die Verhandlungen abgeschlossen sind mit Zypern - im Lichte aller relevanten Faktoren. Und dann wird man ja sehen, wer sich konstruktiv an den Verhandlungen beteiligt hat oder nicht. Dann wird man sehen, wie zum Beispiel das griechische Parlament sich verhalten wird oder nicht. Im Augenblick ist es noch ein bisschen früh, das vorherzusagen. Wenn dann die Lage da ist, in der man sich in bezug auf Zypern entscheiden muss, dann werden natürlich auch die Mitgliedsländer sich fragen, was die Vorteile und was die Nachteile sind. Wartet man wegen Zypern, muss man alle warten lassen. Und ich weiß nicht, wie man 110 Millionen Menschen in Mitteleuropa und in Osteuropa erklären soll, dass sie wegen der ungelösten Probleme auf Zypern - die ja schon seit langem ungelöst sind - nun auf unbestimmt lange Zeit warten müssen, bis sie vielleicht in die Europäische Union kommen. Ich sehe da ziemliche Schwierigkeiten. Aber es ändert alles nichts daran. In der jetzigen Lage ist die Strategie die, alle unsere Möglichkeiten einzusetzen - insbesondere auch die, die wir im Hinblick auf die Türkei haben -, um eine positive Lösung der Zypernfrage zu erreichen. Ich bin da gar nicht so pessimistisch, dass uns das nicht gelingen könnte.
Simon: Wenn die EU-Regierungschefs - wie zuletzt - beschließen, zum Beispiel auch Mazedonien einen EU-Beitritt in Aussicht zu stellen, um das Land zu stabilisieren, müssen Sie sich ja, Herr Verheugen, um die praktischen Folgen solcher Versprechungen kümmern . . .
Verheugen: . . . noch nicht . . .
Simon: . . . aber wenn es dann wird, dann doch . . .
Verheugen: . . . dann ja.
Simon: Wie sehen Sie das? Riskiert die EU eigentlich mit solchen Versprechungen nicht damit selber, instabil zu werden, wenn sie so groß und so weit wird?
Verheugen: Ich glaube, dass der Tag der Entscheidung, dass Mazedonien oder ein anderes Balkanland - vielleicht mit der Ausnahme von Kroatien, was ja auch kein Balkanland ist - dass irgendein Balkanland wirklich Kandidat wird, dass der Tage der Entscheidung noch ziemlich weit entfernt ist. Und bevor das nicht entschieden ist, brauche ich mich mit dieser Sache überhaupt nicht zu beschäftigen, und ich habe auch keinen Auftrag und kein Mandat, das zu tun. Im Falle Mazedoniens müsste man aus der Sicht von heute sagen, dass die Voraussetzungen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nicht gegeben sind; weder die politischen noch die wirtschaftlichen Voraussetzungen sind erfüllt. Allerdings glaube ich, dass die politische Strategie, diesen Ländern eine Beitrittsperspektive zu geben, richtig ist. Denn was wir ihnen sagen, ist ja: 'Wenn Ihr Euch anstrengt, wenn Ihr demokratische Reformen durchführt, wenn Ihr regionale Zusammenarbeit organisiert, wenn Ihr Eure Minderheitenprobleme löst, wenn Ihr Eure Grenzkonflikte lösen könnt, dann lohnt sich das am Ende für Euch, denn es winkt die Möglichkeit eines Beitritts in die Europäische Union'. Das ist eine Art Perspektive, eine Art Licht am Ende des Tunnels, was hier diesen Ländern gezeigt wird. Aber es liegt an ihnen, ob sie diese Chance nutzen wollen oder nicht. Aus der Sicht von heute kann ich nur sagen, dass ich die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit den Balkanländern in absehbarer Zeit nicht sehen kann.
Simon: In Deutschland haben Umfragen in der letzten Zeit verstärkt gezeigt, dass sich die Mehrheit der Deutschen mit der Erweiterung abgefunden hat. 'Abgefunden' - reicht Ihnen das eigentlich?
Verheugen: Nein, das reicht mir überhaupt nicht und das macht mich auch zunehmend ein bisschen traurig, denn man sollte ja erkennen, dass erstens Deutschland eine ganz besondere Verantwortung hat. Das Ganze müsste man ja nicht machen, wenn aufgrund eines Aggressionskrieges, der von Deutschland ausgegangen ist, Europa nicht in diese schreckliche Teilung nach 1945 geraten wäre. Die Deutschen haben ja auch etwas wieder gutzumachen. Das sage ich nur in Deutschland, anderswo nicht - aber den Deutschen gehört das gelegentlich mal gesagt. Das ganze Problem, das wir heute haben, ist eine Folge des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges. Punkt eins. Punkt zwei: Die Deutschen haben den größeren Vorteil davon, sowohl politisch - weil Stabilität an den östlichen Grenzen für Deutschland natürlich ungeheuer wichtig ist, und drittens: Deutschland hat auch den größten wirtschaftlichen Vorteil davon, denn hier entstehen enorme Wachstumsmärkte, die insbesondere für die deutsche Wirtschaft zur Investition einladen. Das wird ja auch schon genutzt. Also, in jeder Hinsicht ist dieses Projekt gerade für Deutschland nicht nur besonders wichtig, sondern auch besonders vorteilhaft. Und darum sollte man wohl erwarten, dass die politischen Eliten in Deutschland, die wirtschaftlichen Eliten in Deutschland und die kulturellen Eliten in Deutschland sich endlich einmal hinstellen und gegen die dumpfe Fremdenfeindlichkeit, die man manchmal in den deutschen Argumenten gegen die Erweiterung erkennen kann, die richtigen Argumente setzt.
Link: Interview als RealAudio