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Erwünschte Eskalation

Im Jahre 1961 wirbelte das Buch "Griff nach der Weltmacht" von Fritz Fischer viel Staub auf. Der Historiker stellte die These auf, dass das Deutsche Reich für den Kriegsausbruch 1914 verantwortlich gewesen sei. Damit löste er einen heftigen Streit aus, der als "Fischer-Kontroverse" in die Geschichte der Bonner Republik einging.

Von Bernd-Jürgen Wendt |
    "In diesem Werk wird ein erster Gipfel erreicht in der politisch-historischen Modeströmung unserer Tage: In der Selbstverdunkelung deutschen Geschichtsbewusstseins, das seit der Katastrophe von 1945 die frühere Selbstvergötterung verdrängt hat und nun immer einseitiger sich durchzusetzen scheint. Nach meiner Überzeugung wird sich das nicht weniger verhängnisvoll auswirken als der Überpatriotismus von ehedem. So vermag ich das Buch nicht ohne tiefe Traurigkeit aus der Hand zu legen: Traurigkeit und Sorge im Blick auf die kommende Generation."

    Von den Kritikern seines Buches in die Nähe eines "nationalen Nestbeschmutzers" gerückt zu werden – das hat Fritz Fischer selbst am meisten überrascht. Denn es war zunächst reine wissenschaftliche Neugier, die ihn motiviert hatte, akribisch Berge von teilweise neu erschlossenen Akten unter der Leitfrage durchzuarbeiten: Wie hätte die politische Landkarte Europas nach einem deutschen Sieg ausgesehen? Dabei kam Fischer zu Erkenntnissen, die mit liebgewordenen Legenden und Tabus aufräumten. Vier zentrale Thesen erschienen seinen Kritikern dabei als besonders provozierend:

    Zum Ersten: Er konnte aus den Quellen nachweisen, dass die politische und militärische Führung in Berlin zielbewusst bereit war, den ursprünglich lokalen Konflikt zwischen Österreich und Serbien nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers am 28. Juni 1914 zu einem Kontinentalkrieg gegen Frankreich und Russland eskalieren zu lassen und damit einen Weltkrieg zu riskieren.
    Da Deutschland den österreichisch-serbischen Krieg gewollt, gewünscht und gedeckt hat und, im Vertrauen auf die deutsche militärische Überlegenheit, es im Jahre 1914 bewusst auf einen Konflikt mit Russland und Frankreich ankommen ließ, trägt die deutsche Reichsführung einen erheblichen Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges.
    Damit rollte Fischer nicht nur die leidenschaftliche Kriegsschulddebatte der Zwischenkriegszeit wieder auf. Mehr noch: Jetzt schien sogar ausgerechnet ein deutscher Historiker die alliierte Schuldanklage von Versailles 1919 zu bestätigen.

    Ein Zweites: Zwar waren Fischers Widersacher, an ihrer Spitze sein Hamburger Kollege Egmont Zechlin, bereit, ein hohes Maß an Verantwortung und Risikobereitschaft im Juli 1914 für den "Sprung ins Dunkle" – so der kaiserliche Reichskanzler v. Bethmann Hollweg - zuzugestehen, dies aber in rein defensiver Absicht. Die Kriegsziele seien erst ein Produkt des Krieges und ein Kampfmittel gegen die Gegner gewesen. Demgegenüber betonte Fischer zum einen, die Reichsführung habe offensiv und zielbewusst die europäische Hegemonie und schließlich die Stellung als vierte Weltmacht neben den USA, Großbritannien und Russland angestrebt, zum anderen seien die späteren imperialistischen Kriegsziele bereits kontinuierlich seit der Jahrhundertwende diskutiert und geplant worden - als Ausdruck wilhelminischen Weltmachtstrebens in Wirtschafts- und Bankkreisen, in der hohen Bürokratie, unter den Militärs, in den Agitationsverbänden und in einer nationalistisch aufgeheizten Öffentlichkeit. In der "Julikrise" habe Berlin dann die Chance genutzt, die Ziele mit Waffengewalt durchzusetzen.
    Besondere Erbitterung der Gegner löste schließlich ein in der Einleitung versteckter Satz aus:

    Auf der anderen Seite weist das Buch über sich hinaus, indem es bestimmte Denkformen und Zielsetzungen für die deutsche Politik im Ersten Weltkrieg aufzeigt, die weiterhin wirksam geblieben sind. Von daher dürfte es auch ein Beitrag zu dem Problem der Kontinuität in der deutschen Geschichte vom Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg sein.

    Vertreter der deutschen Geschichtswissenschaft bemühten sich nach dem Krieg darum, den Nationalsozialismus als eine Art einmaligen "Betriebsunfall" gleichsam in der deutschen Geschichte zu isolieren. Nun machte sich Fischer, unterstützt von einer jüngeren Historikergeneration daran, Kontinuitätslinien zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg, zwischen Kaiserreich und "Drittem Reich" aufzuzeigen und als Aufgabe vertiefter Forschungen anzumahnen.

    Die "Fischer-Kontroverse" ist längst Geschichte, ihre Kernthese von der deutschen Hauptverantwortung an der Auslösung des Ersten Weltkrieges kaum mehr bestritten. Einig ist sich die Forschung bis heute freilich nicht über die Motive des deutschen Handelns: Waren sie eher defensiv oder eher offensiv, eher in der Innen- oder eher in der Außenpolitik verankert?

    Fischers bleibendes Verdienst bleibt es aber wegweisende Anstöße zur kritischen Neubeschäftigung mit dem Kaiserreich, seinen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen sowie mit den Kontinuitätslinien in der jüngeren deutschen Geschichte gegeben zu haben.

    Er hat sicher den geistigen und politischen Umbruch in der Bundesrepublik in den 60er-Jahren mitbefördert und der deutschen Geschichtswissenschaft nach ihrer Isolierung in der NS-Zeit wieder Ansehen und einen Anschluss an die internationale Forschung ermöglicht.

    In unserer Rubrik KURSIV erinnerte Berndt-Jürgen Wendt an das Buch "Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918" von Fritz Fischer.