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Erzählung
Als Europa Afrika unter sich aufteilte

Vor 130 Jahren trafen sich in Berlin 13 Staatschef zur sogenannten Kongo-Konferenz, um das afrikanische Kolonialgebiet unter sich aufzuteilen. Der französische Schriftsteller und Filmemacher Eric Vuillard lässt in seiner Geschichte "Kongo" die Konferenz und ihre Teilnehmer wieder aufleben - und erzählt von vielen bizarren Details des blutigen Kolonialabenteuers.

Von Cornelius Wüllenkemper | 25.05.2015
    Eine beleuchtete Weltkugel (Globus) mit Blick auf Afrika und Europa.
    Eine beleuchtete Weltkugel (Globus) mit Blick auf Afrika und Europa. (picture alliance / dpa - Caroline Seidel)
    "Das sind die europäischen Mächte wie Gott sie geschaffen hat, und wie ich ihre Knochen entstaubt und ihre ganz weiße Haut gespannt habe. Sie machten ja, was sie wollten mit ihren Dienstboten und ihren Negern - nun und ich, ich besitze ihre großen heldenhaften Gerippe; ich mache damit, was mir gefällt. Ich erwecke sie zum Leben und zeige sie, dort, wie Zirkusaffen, große Siegeraffen in einem Ozean des Elends. Und wozu ist das gut? Um unseren Kummer und unsere Wut zu stillen."
    Eric Vuillard bedient sich an den historischen Figuren in seiner Erzählung "Kongo" so, wie sich die Teilnehmer der Berliner Kongokonferenz in Afrika bedienten: Er macht mit ihnen, was ihm gefällt. In einem Land wie Frankreich, in dem es vor gar nicht allzu langer Zeit ein Gesetz gab, das Lehrer im Schulunterricht zur Erwähnung der positiven Seiten der Kolonialgeschichte verpflichten wollte, eignet Vuillard sich das Geschichtsnarrativ literarisch an:
    "Durch das Schreiben kann man sich die großen Geschehnisse aneignen, die uns ansonsten präsentiert werden wie alt-ehrwürdige, unantastbare historische Begebenheiten. Auch die kritischste Geschichtsbetrachtung behauptet ja von sich, neutral zu sein. Und diese vermeintliche Neutralität verleiht den historischen Geschehnissen und ihren Protagonisten eine falsche Würde. Die Literatur kann an solchen starren Geschichtsbildern rütteln und die Girlanden vom Baum der Geschichte schütteln."
    Der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck hatte auf Betreiben des belgischen Königs Leopold II. von November 1884 bis Februar 1885 zwölf europäische Regierungschefs sowie Vertreter des Osmanischen Reichs und der USA nach Berlin eingeladen. Sie wollten sich über den Freihandel und die politische Aufteilung des afrikanischen Kontinents beraten. Die Ende Februar 1885 unterzeichnete Kongo-Akte war das Dokument, mit dem die Inbesitznahme Afrikas durch die Europäer ihren Anfang nahm. König Leopold II. sicherte sich privaten Landbesitz im Kongobecken, der die Größe Belgiens acht Mal überstieg. Dem Deutschen Reich wurden Ländereien in West- und Ostafrika zugesprochen, von denen man hierzulande bis dato noch nicht einmal in Büchern gelesen hatte. Die Konferenz folgte einem Prinzip, das laut Vuillard bis heute Anwendung findet:
    "Der kongolesische Staat, der Kongo nach Zuschnitt Leopold II., war de facto eine Aktiengesellschaft. Auch gegen die Regeln, die er selbst erlassen hatte, hat Leopold II. eine ganze Reihe von Scheinunternehmen gegründet, um so viel Territorium wie möglich an sich zu reißen. So ein Vorgehen kennen wir heute ja auch. Auch die Berliner Kongo-Konferenz, auf der Afrika aufgeteilt wurde, erinnert an die regelmäßigen Zusammenkünfte von heute, ob sie nun G7 oder G8 heißen. Und genau wie damals bei der Kongo-Konferenz sind die Verhandlungen auf diesen Treffen äußerst undurchsichtig."
    Eine erschreckende Bestandsaufnahme der Banalität des Bösen
    Eric Vuillard beschäftigt sich in seiner Erzählung einerseits mit der Eigendynamik von Macht, mit den exklusiven Zirkeln, in denen über das Schicksal ganzer Völker entschieden wird. Andererseits konzentriert er seinen Blick aufs Detail, auf die kleinen Gesten, auf die persönlichen Motivationen, Ängste und Schwächen der Konferenzteilnehmer und der Befehlsausführer des Kolonialabenteuers. Da ist der 27-jährige Belgier Charles Lemaire, der im Dienste von Leopold II. die neuen Ländereien in Besitz nimmt, indem er bei Bedarf Dörfer abbrennt und die Stammesbevölkerung massakriert.
    "Lemaire ist traurig, jung und traurig, er wurde vielleicht in all das geworfen ohne zu verstehen? ...? Lemaire regiert über ein riesiges Stück Leere, das Weiß einer Karte. Trotzdem braucht man was zwischen die Zähne; seine Soldaten müssen was zwischen die Zähne bekommen, auch die ganz kleine Truppe, die den Embryo des neuen Staates bildet. Also bestellt man die Häuptlinge der Dörfer ein. Redet mit ihnen. Wer nicht zu den Freunden gehört, bekommt Krieg; Freund sein heißt, Menschen und Lebensmittel liefern; und schon wird es vertrackt. Einige Häuptlinge versuchen zu verhandeln, um das Schlimmste zu verhindern, aber Lemaires Forderungen sind exorbitant. Und so fangen die Dörfer Feuer. Eins nach dem anderen brennt ab."
    Eric Vuillard: "Meine Erzählung funktioniert so wie eine Pyramide. Es beginnt mit den Verantwortlichen, die großen Staatsmännern auf der Berliner Konferenz. Stück für Stück geht es dann weiter mit der zweiten Reihe, den Untergebenen. Charles Lemaire ist irgendwo dazwischen. Ihn fand ich fand interessant und sogar berührend, weil er, nachdem er im Kongo viele Gräueltaten begangen hatte, eines Tages in seinem Tagebuch las und plötzlich ein schlechtes Gewissen bekam. Dieser Mann hat sich sozusagen selbst verletzt."
    Eric Vuillard beschreibt die Verantwortlichen und die Handlanger des Kolonialismus wie ein Zoologe sein Bestiarium. Der britische Afrikaforscher Henry Morton Stanley, der für Leopold II. den "Biedermännern" auf der Kongo-Konferenz die Lage vor Ort erklärt, spielt in Vuillards Erzählung die Rolle eines "Schmierenkomödianten", der der "Bastard eines Trunkenbolds" ist, "verlassen und misshandelt" mit 15 Jahren das Waisenhaus verlässt und in der Folge in Afrika Gefallen daran findet, "zu leiden und leiden zu lassen." Ein weiteres Objekt von Vuillards literarischer Untersuchung ist Léon Fiévez, eine "wahrhaft mit Füßen getretene Seele", die aus Zeitvertreib die schwarze Bevölkerung erschießt und den Nichtgehorsam durch das Abhacken der Hände bestraft - einmal sind es 1300 Hände an einem einzigen Tag. Vuillards Erzählung "Kongo" ist eine erschreckende Bestandsaufnahme der Banalität des Bösen. Vuillard:
    "Es gibt in der Literatur eine Strömung, die das Böse als etwas Geheimnisvolles, Ungreifbares versteht. Ich teile die Auffassung des Bösen nicht. Das Böse ist zum Beispiel nicht in der Seele des Léon Fiévez gefangen, der tausenden Menschen die Hände abhacken ließ und der übrigens Vorbild für die Hauptfigur in Josef Konrads "Das Herz der Finsternis" war. Das Böse, das findet man meiner Meinung nach zwischen den leckeren Häppchen und Champagnergläsern auf der Berliner Kongokonferenz 1885. Es geht um ein Kräftemessen."
    Kein historischer Roman, sondern eine Erzählung über die Geschichte
    Eric Vuillards Figuren sind Getriebene ihrer eigenen Zwänge und Ängste, Karrieristen und sonstige traurige Sinnsuchende, die er auftreten lässt wie in einem Gruselkabinett der Kolonialgeschichte. Es ist unverhohlener Ekel, mit dem sich Vuillard seines Themas annimmt: die skrupellose Machtgier des Tieres Mensch am Beispiel des Kongo-Abenteuers. Am Anfang des Kolonialismus, so schreibt Vuillard zu Beginn seiner Erzählung, stehe nichts als die Langeweile der Regierungschefs von Europa. Den Rest erledigen Größenwahn, persönliche Eitelkeit, Befehlsgehorsam, seelische Verkümmerung und die Seilschaften derjenigen, die egal in welchem Zeitalter Macht und Geld kontrollieren.
    "Ich beschreibe, wie sich bestimmte Familien wie ein Chamäleon durch den Lauf der Zeit winden, wie die Mächtigen ihr Erbe von Generation zu Generation weitergeben und somit die Nachfahren auf einer soliden Grundlage aufbauen können. Natürlich muss man sich vor dem Anschein der Aufrichtigkeit der Mächtigen in Acht nehmen, wenn sie von Verantwortung sprechen. Auch heute werden uns von Staatschefs und Wirtschaftsbossen diese Geschichten erzählt, nur in anderer Verkleidung. Im Grunde wissen wir alle, dass es sich dabei um unaufrichtige Sonntagsreden handelt."
    Eric Vuillards "Kongo" ist kein historischer Roman, sondern eine Erzählung über die Geschichte. Auf gerade einmal 110 Seiten wird der Leser überwältigt von vielen bizarren Details des blutigen Kolonialabenteuers, die in der offiziellen Schulgeschichtsschreibung untergehen. Umso eindringlicher legt Vuillard nahe, politische Geschichte immer als das Ergebnis der Handlungen einzelner zu verstehen. Man muss Vuillard insofern als politischen, so manches Mal auch moralisierenden Autor lesen, der die Handlanger und Statisten der Geschichte nur zu lustvoll in gut und böse unterteilt. Die gute Nachricht ist, dass genau das nur Literatur vermag.
    Eric Vuillard: "Kongo"
    Matthes & Seitz; Berlin 2015; Aus dem Französischen von Nicola Denis; 108 Seiten; 16,90 Euro