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Erzählung
Der Blick auf die linke Hand des Papstes

In einer protestantischen Kirche Roms begegnet ein frühpensionierter Archäologe zufällig dem Papst. Er sieht von ihm vor allem seine linke Hand - der Autor Christian Delius entfacht daran Gedanken über Gegenwärtiges und Vergangenes.

Von Michael Opitz | 11.02.2014
    Der Schriftsteller Friedrich Christan Delius am 10.10.2001
    Der Autor Friedrich Christian Delius (picture alliance / dpa)
    Seit 27 Jahren lebt der frühpensionierte Archäologe, der in Delius' Erzählung "Die linke Hand des Papstes" im Zentrum steht, in Rom und seit 24 Jahren ist er mit Flavia zusammen, einer Italienerin, die gerade auf dem Weg nach Rom ist. Der Archäologe geht einer Tätigkeit als Fremdenführer nach und er hat an diesem März-Sonntag des Jahres 2011 einen freien Nachmittag. Er gönnt sich eine Auszeit, schlendert durch Rom, beobachtet das Treiben der ewigen Stadt und landet eher zufällig in jener evangelischen Kirche, die ein Jahr zuvor der Papst ganz offiziell und unter großer Medienaufmerksamkeit besucht hatte. Überraschenderweise stehen an diesem Sonntag die Kirchentüren offen und er tritt ein, um einen Augenblick zu verweilen. Sein Erstaunen ist groß, als er neben sich, nur wenige Meter entfernt, den Papst entdeckt, der auf einer Marmorbank sitzt.
    "Er fixiert sich auf die Hände, weil sie das erste sind, was er sieht. Es geht vor allem um die linke Hand, weil er in einer Reihe mit ihm sitzt und die Hand ist das, was man sieht. Sonst sieht er eigentlich nur das Profil, das Gesicht ist bekannt, die Hand ist nicht bekannt und auf die Hand wird jetzt geschaut und es findet – wie er dann auch selbstironisch sagt – eine Art Handlesen aus der Ferne statt. Er fängt jetzt an, zu assoziieren, was ist das für eine Hand, was kann diese Hand, was könnte diese Hand und von dieser Hand aus wird versucht, die ganze Person und das ganze Amt und die ganze Geschichte zu erfassen."
    Nicht das Gesicht des Papstes interessiert ihn, sondern seine Aufmerksamkeit gehört den Händen, die er wie ein archäologisches Fundstück mit geübtem Blick freilegt. Diese Hände können viel bewirken, es sind Hände, die ein Zeichen zu geben in der Lage sind. Die erhobene, Einhalt gebietende Papsthand wird in der ganzen Welt als Zeichen wahrgenommen. In einer protestantischen Kirche aber dürfen die sonst so geschäftigen, mit Schreibarbeit beschäftigten Papsthände ausruhen.
    "Die sehgierigen Augen konzentrierten sich also auf die Hände, wie es der Archäologe gelernt hat: erst das Gesamtbild aufnehmen, dann behutsam Schicht für Schicht freilegen, in diesem Fall von den Fingern zur Hand, von den Fingern zur Manschette, zum Ärmel, dann Haltung, Färbung, Falten. Weitere Schlüsse ziehen auf den Fund und die Schichtung, diesmal ohne Zentimetermaß, Protokollheft, Zeichenstift, Bürste und Pinsel, nur mit Augenmaß und Fantasie, Schritt für Schritt, beginnend mit der linken Hand auf dem linken Knie."
    Die beobachteten Hände setzen die "Hirnkamera" des namenlos bleibenden Erzählers in Gang, dem Bilder durch den Kopf schießen, als er ein leichtes Zucken der Papsthand bemerkt. Er erinnert sich an die Demütigung, die der Papst hinnehmen musste, als der libysche Diktator Gadaffi auf Einladung des damaligen italienischen Ministerpräsidenten Berlusconi in Rom weilte, und der die Gelegenheit nutzte, das Christentum und die Kirche zu verhöhnen. Weist dieses Zucken, so fragt sich der Erzähler, auf eine Ohrfeige hin, die der Pontifex dem Gastgeber gern gegeben hätte, die er aber unterdrücken musste, weil sein Amt eine solche menschliche Regung nicht zuließ? Die Handbeobachtungen setzen unterschiedlichste Überlegungen in Gang und sie führen weit zurück in die Geschichte.
    "Die Pferde, die Gadaffi zu dem Staatsbesuch für eine große Pferdeshow vor italienischen Geschäftsfreunden mitbringt, die erinnern den Erzähler daran, dass da irgendetwas in der Kirchengeschichte war. Es fällt ihm dann ein, dass im Jahr 418 Augustinus, um das Konzept der Erbsünde durchzusetzen, 80 numidische Zuchthengst mit einem befreundeten Bischoff nach Ravenna geschickt hat. Der damaligen römischen Kaiser erteilte dem Papst den Befehl, dass, bitteschön, die Erbsünde und die Vorstellung von Augustinus durchgesetzt wird und sein Gegner, Pelagius, zu verbannen sei. Und diese Fußnote aus der Kirchengeschichte ist ja zugleich auch ein bisher völlig unterschätzter Schlüssel für das Abendland. Damit geht nämlich die Verteufelung der Sexualität einher. Das ist ein ungeheuerlicher Akt. Das ist sozusagen der Urknall des christlichen Abendlandes könnte man sagen, der durch eine Bestechung durchgeführt wurde. Das kommt in der Kirchengeschichte nur ganz, ganz zart am Rande hervor. Und ich fand dieses Detail immer so gut, dass ich mir das nicht entgehen lassen konnte. Und in dem Moment, wo die Pferde von Gadaffi und die von Augustinus in das Buch hineinspringen, wird das Ganze ja doch ein recht unterhaltsames Vergnügen."
    Mit den ins Buch hineinspringenden Pferden, die fortan durch das Buch galoppieren, kommt nicht nur die Erbsünde ins Spiel, sondern der Erzähler stellt sich auch die Frage: Wie kann von Händen, die nie einen anderen Körper ertastet haben, eine "seelenstärkende Kraft" ausgehen? Berninis Skulptur "Apoll und Daphne" fällt dem Erzähler ein, die in der Villa Borghese steht. In lustvollem Begehren greift Apoll mit einer Hand nach Daphnes Hüfte. Und die Umworbene entzieht sich dieser Handgreiflichkeit, indem sie sich in einen Lorbeerbaum verwandelt. Ein solches Ergriffensein kennen die Papsthände, die Delius ins Zentrum des Handlungsgeschehens rückt, nicht. Aber diese Hände bieten dem Autor Gelegenheit, sich dem Papst, der weit zurückliegenden Geschichte und dem gegenwärtigen Rom zuzuwenden.
    "Seit ein paar Jahren habe ich versucht, einen Roman zu schreiben, der im heutigen Rom spielt. Ich hatte immer überlegt und hatte ein paar schöne Pläne, die aber irgendwie zu ehrgeizig angelegt waren. Irgendwann kam mir dann die Idee: Fang mit einer ganz einfachen Geschichte an, fang mit einer Hand an und mit der Hand des Papstes. Hinzu kam, dass ich einen Traum hatte. Man könnte, wenn ich ein frommer Mensch wäre, sagen, ich hatte eine Erscheinung: Ich sah diesen Papst in dieser Kirche niederknien. In dieser Kirche und deshalb musste es wieder diese Kirche sein, die bereits zum Schluss in "Bildnis der Mutter als junge Frau" den Hintergrund bildet. Und dann habe ich gedacht, fang wirklich mit der Hand an und baue dann langsam deine Assoziationen so, wie der Archäologe und Fremdenführer vielleicht assoziieren würde."
    Delius lässt nicht nur Situationen laufen und Pferde galoppieren, sondern er setzt auch Bilder in Bewegung, die im Kopf des Erzählers zu laufen beginnen, wenn der sich an bestimmte Ereignisse erinnert. So entsteht ein bizarr anmutender Film, der als eine Art Kopfkino abläuft. Am Schluss des Buches erfährt man, dass der Film im Kopf des Erzählers, den Delius in Sprache übertragen hat, nur etwa fünf bis acht Minuten dauert. Mehr Zeit ist nicht vergangen, als der Erzähler dem Papst in der in der Via Sicilia gelegenen Kirche begegnet.
    Es ist die Kirche, die bereits in Delius "Bildnis der Mutter als junge Frau" von Bedeutung ist. Diese Geschichte hat Delius als einen Fließtext geschrieben. Er begleitet die Frau auf ihrem Weg durch Rom, wobei sich ihre Bewegung in der Form spiegelt – erst auf der letzten der 126 Seiten setzt der Autor den einzigen, den Text beendenden Punkt. In der neuen Erzählung "Die linke Hand des Papstes" sitzt der Erzähler in der Kirche unter einer Mosaikdecke, wie es im Text heißt. Dabei erinnern die kleinen Prosaminiaturen, aus denen sich das Textganze zusammensetzt, an einzelne Mosaikteile, die ein Bild ergeben, wenn sie Teil für Teil aneinandergefügt werden. Dieses Bild hat nichts zu tun mit den bezaubernd schönen Rom-Ansichten, die auf Postkarten zu sehen sind. Delius' Erzähler ist ein "Oberflächenkratzer", einer, der sichtbar machen will, was sich nicht auf den ersten Blick erschließt.
    "Die linke Hand des Papstes" ist ein Rom-Buch von besonderer Brisanz und Schönheit, das sich aktuellen und historischen Hintergründen zuwendet. Schreiben konnte es nur ein intimer Kenner der Stadt, denn selbst in jeder noch so beiläufig anmutenden Kleinigkeit spürt man, wie vertraut Delius die ewige Stadt ist. Neben dem Baedeker gehört dieses Buch ins Handgepäck jedes deutschen Rom-Besuchers.