Sonntag, 19. Mai 2024

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Erzählung
Geschichtslesung aus päpstlicher Hand

Ein Mann trifft rein zufällig den Papst in einer Kirche. Doch statt ihn zu beobachten, beginnt er, über dessen Hände nachzudenken und darüber, was der Pontifex damit machen kann oder eben nicht. Was als kurzer Gedankengang beginnt, wird zu einer Reise durch die Geschichte Roms und der Kirche.

Von Hartmut Kasper | 29.04.2014
    Der Papst nach der Ostermesse in einer jubelnden Menschenmenge. Er winkt und lacht.
    Der Ich-Erzähler in "Die linke Hand des Papstes" stellt sich u.a. die Frage, ob die linke Hand des Papstes heute noch in der Lage wäre, eine Ohrfeige zu verteilen. (FILIPPO MONTEFORTE / AFP)
    Am ersten Märzsonntag im Jahre 2011 begegnet der Ich-Erzähler dem Papst.
    Dieser Sonntag ist, für den, der es genau wissen will, der Sonntag Estomihi, mithin der Tag vor Rosenmontag und Aschermittwoch.
    Benannt ist dieser Fastensonntag bekanntlich nach dem dritten Vers von Psalm 31, der da lautet:
    "Esto mihi in Deum protectorem, et in locum refugii, ut salvum me facias",
    will sagen:
    "Sei mir ein schützender Fels, eine feste Burg, die mich rettet".
    Aber wem sage ich das: Schließlich sind wir das christliche Abendland, eine mit ihren Werten und deren Grundlagen wohlvertraute Gemeinschaft.
    Der Ich-Erzähler trifft den Papst, nicht im Rahmen einer Privataudienz, ja, es ist überhaupt nichts Offizielles. Der Papst sitzt in einer Kirche, einer protestantischen Kirche in der Via Sicilia übrigens, mitten in Rom.
    Weder umgibt ihn grimmiges, hellebardenbewehrtes Sicherheitspersonal, noch macht er sich durch eine Amtstracht in transzendentem Weiß auffällig. Er wirkt eher wie "ein Bischof in Zivil mit schwarzem Anzug".
    Sitzt also da, in der letzten Reihe der Kirche, flankiert nur von zwei Priestern.
    Sitzt da und, mag sein, betet.
    Wenige Meter links von ihm hat der Erzähler Platz genommen; nicht, um frommen Dingen nachzudenken, sondern um auszuruhen. Er ist ein frühpensionierter Archäologe, und er bessert das Familieneinkommen gelegentlich mit dem Honorar auf, das er als Fremdenführer verdient.
    Er kennt die Ewige Stadt gut, nicht nur, weil er mit einer Römerin verheiratet ist.
    Nun sitzt er, um ein wenig zu verschnaufen, in derselben Kirchenbank wie der Papst und betrachtet dessen Hände, genauer: dessen linke, also ihm näher liegende Hand.
    Er kommt ins Nachdenken darüber, was und wie diese Hand gewöhnlich handelt, was und wie sie getan oder was sie unterlassen hat.
    Er überlegt beispielsweise,
    "ob diese Hände, ob die recht päpstliche Hand noch zu einer Ohrfeige fähig wäre. Ein halbes Jahr zuvor, als der Öldiktator von der anderen Seite des Meeres nach Rom gekommen war, um mit dem hier regierenden Diktatorenfreund die unverbrüchliche Freundschaft zu feiern und Geschäfte abzuschließen, da hatte ich an eine impulsive Bewegung der päpstliche Hände denken müssen. Eine Ohrfeige nicht für den Gast, das gehört sich nicht, sondern für den Gastgeber, der seinen Kumpel aus der Wüste von morgens bis nachts vor Mikrofonen und Kameras mit Komplimenten überschüttete."
    Oder ob Mitleid angebracht wäre mit dem Papst,
    "mit dem alten Mann, dem vor lauter Macht die Hände gebunden waren."
    Dreißig reinrassige Berberpferde hätte der libysche Despot dem italienischen Freund zum Geschenk gemacht, worin der Erzähler eine pikante historische Parallele erkennt.
    Schließlich ist dieser Erzähler ein Archäologe, und das heißt:
    "Ein Archäologe gräbt ja nicht aus, das ist ein Irrtum, lehrte mich mein Professor im ersten Semester, ein Archäologe macht den Blick frei."
    Die dreißig geschenkten Gäule entsprächen, findet der Erzähler, aufs Schönste jenen achtzig numidischen Zuchthengsten, die seinerzeit Augustinus nach Italien hätte verschiffen lassen. Die Hengste wurden Kaiser Honorius zum Geschenk gemacht, einem ausgemachten Pferdeliebhaber, worauf dieser Kaiser als Geste der Dankbarkeit in der Kirche und durchaus gegen den damaligen Papst durchgesetzt hätte, Augustins Lehre von der Erbsünde zur geltenden Kirchenlehre zu erheben.
    Also entpuppt sich nach und nach der Fremdenführer durch Rom als Fremdenführer des Lesers, den er durch die abseitigsten und sonderbarsten Verstiegenheiten der römischen und der Kirchengeschichte führt.
    Durch dunkle Kapitel, die sich nicht ohne Weiteres via Google erhellen lassen.
    Delius lässt seinen Ich-Erzähler weder dozieren noch schwadronieren. Wie jeder gute Fremdenführer, weiß auch dieser Erzähler, wie und wo er seine Pointen setzen muss, um, was er zu sagen hat, unterhaltlich zu sagen, zugleich gut bildungsbürgerlich zu vergnügen und zu belehren.
    Rom konserviert die römische Geschichte. Und der Erzähler nimmt die Leser mit bei seinem
    "Abtauchen in die Zeitlosigkeit in einen lang anhaltenden Tagtraum".
    Tatsächlich spielen sich die Gedankengänge zu Kirche und Kirchengeschichte wie unter einer Zeitlupe ab.
    Die linke Hand des Papstes ruht. Seine rechte wohl auch. Es tut sich nichts. Der Plot ist derart minimalistisch, dass man von statischem Erzählen reden könnte.
    Am Ende schaut der Erzähler auf die Uhr und liest, dass seine ganze Begegnung mit Papst, Kirche, Christenheit und Stadtgeschichte – Zitat – "kaum länger als fünf oder acht Minuten gedauert haben" kann.
    Dennoch hat man das Gefühl, einer ereignisreichen Geschichte zugehört zu haben, einem vielfach verflochtenen Gewimmel von Kreuz- und Querverweisen, von kenntnisreich vorgetragenen, spitz und boshaft formulierten Anekdoten.
    Am Ende der Erzählung aber tut sich doch noch etwas: Der Papst erhebt sich, besteigt die Kanzel, und
    "ließ, ohne weitere Vorrede, die Worte durch den Raum schallen: »Ein feste Burg ist unser Gott« ( ... ), "ein gute Wehr und Waffen".
    Und dann folgt, Wort für Wort, das alte, protestantische, von Martin Luther stammende Kirchenlied, das Heinrich Heine einst die "Marseiller Hymne der Reformation" genannt hat.
    Ist der Papst konvertiert?
    Hat er seinen Frieden mit Luther geschlossen?
    Man weiß es nicht. Schließlich verlässt er die Kirche,
    "ohne mit der rechten oder der linken Hand zu winken".
    Die Abendnachrichten, denen der Erzähler lauscht, verlieren über diese päpstliche Visite kein Wort. Die haben, wie üblich, mit Öldiktatoren und dergleichen zu tun.
    Macht aber nichts. Wir sind ja jetzt bestens im Bild.
    Besprochen von Hartmut Kasper.
    Friedrich Christian Delius: "Die linke Hand des Papstes", Rowohlt Verlag Berlin 2013, 16,95 Euro.