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Erzählungen "Junge Liebe zwischen Trümmern"
Schlaglichter auf Hans Falladas Lebensroman

Hans Fallada schrieb nicht nur Romane, sondern auch kürzere Prosatexte. Ein neuer Band mit zum Teil bislang unveröffentlichten Erzählungen liefert spannende Einblicke in die Lebenswirklichkeit der 30er- und 40er-Jahre – und in den Lebensroman des Menschen- und Erfahrungssammlers Fallada.

Von Wolfgang Schneider | 13.02.2018
    Buchcover Hans Fallada: Junge Liebe zwischen Trümmern, im Hintergrund Trümmerfrauen
    Buchcover Hans Fallada: Junge Liebe zwischen Trümmern, im Hintergrund Trümmerfrauen (Aufbau Verlag / picture-alliance / Ursula Röhnert)
    Heute pflegt man eine nüchterne Vorstellung vom literarischen Schaffensprozess, spricht eher von den Mühen der Textarbeit als von "Genie" oder "Inspiration". Wer sich aber mit Hans Fallada beschäftigt, beginnt wieder an so etwas wie "Inspiration" zu glauben.
    Wie sonst sollte es möglich sein, dass der Autor ein paar Monate vor seinem frühen Tod, zwischen all der Nachkriegswirrnis und Nachkriegsbeanspruchung, geplagt von Drogensucht, Alkoholproblemen, Entzug und Depression und zudem abgelenkt durch den chronischen Ehestreit, im Herbst 1946 in unglaublichen 24 Tagen die erste Fassung seines sechshundertseitigen Romans "Jeder stirbt für sich allein" verfasste? Jenes Meisterwerks also, dessen internationale Wiederentdeckung vor zehn Jahren den neuen Weltruhm dieses Autors begründet hat.
    Im Nachlassband "Junge Liebe zwischen Trümmern" sind nun auch eine Reihe autobiografischer Schriften enthalten, in denen der Schriftsteller Auskunft über seine literarischen Einflüsse und seine Werkstatt gibt. Und er lässt keinen Zweifel daran, dass er dabei eine Art Medium war:
    "Da plötzlich fängt die Feder an, schneller und schneller zu schreiben… Ich wage es noch nicht zu glauben und weiß es doch schon: es ist alles da, es geht weiter! Der Stoff ist fertig, er liegt in mir, ich habe ihn nur niederzuschreiben. Siehst Du, das ist Gnade, das ist Eingebung, das ist das große Glück."
    Sein Kopf randvoll mit Gesehenem, Gelesenem
    Von nichts aber kommt nichts. Auch das machen die Selbstauskünfte dieses Bandes deutlich. Fallada war ein Menschensammler, ein Jäger vielfältigster Erfahrungen. Sein extremes, durch viele Abgründe führendes Leben war die Schule seines Schreibens. Sein Kopf war so randvoll mit Gesehenem, Erlebtem, Erlittenem, aber auch Gelesenem, dass sich seine Werke in rasender Eile offenbar wie von selbst zusammenfügten.
    Das Schöne an diesem Band ist, dass die in ihm versammelten, größtenteils noch nie in Buchform veröffentlichten Erzählungen ein Licht auf viele Stationen von Falladas Lebensroman werfen und im Zusammenspiel mit dem ausführlichen Nachwort des Fallada-Biografen Peter Walther hohen dokumentarischen Reiz gewinnen. "Im Spiegelkabinett von Literatur und Leben", lautet die Überschrift dieses Nachworts. Sehr treffend, denn in Falladas Schreibräuschen werden das Verbürgte und das Fiktive, das Reale und das Stilisierte schwer unterscheidbar.
    Das gilt bereits für das früheste und zugleich ungeheuerlichste der Prosastücke mit dem Titel "Aufzeichnungen des jungen Rudolf Ditzen nach dem Scheinduell mit seinem Schulfreund". 18 Jahre alt war Rudolf Ditzen, der später das Pseudonym Hans Fallada annahm, als er seinen Freund erschoss und sich selbst zwei Kugeln in die Brust jagte. In dem nur wenige Monate später entstandenen Text schildert er, wie er daliegt und noch den eigenen Hilfeschrei als irgendwie "literarisch" erlebt.
    "Der Atem pfiff unheimlich in meine Lunge, das zerrissene und halb verkohlte Hemd entblößte meine linke Brust, in der sich direkt an der Brustwarze zwei schwarze runde Löcher befanden, in denen das Blut, bald höher steigend, bald tiefer sinkend, zischte. Ich zwang mich, nicht dahin zu sehen. (…) Und ich begann zu rufen…. Ich hatte gelesen, dass Verwundete um Hilfe zu rufen pflegen, und ich rief um Hilfe: Hilfe… Hilfe… Immer in langen Pausen… Das Echo warf mir das Wort aus dem Walde wieder auf die kleine Lichtung zurück, schwächer, wie Hohn, wie eine Parodie klang es: Hilfe… Hilfe…"
    Oft wie schnell hingeworfen, trotzdem reizvoll
    Falladas Schreibräusche kamen langsam in Gang; dann aber strömte es und führte zu Epen von wucherndem Umfang. Die Kurzgeschichte aber ist weniger seine Form. Falladas Erzählungen wirken oft wie schnell hingeworfene Skizzen oder abgebrochene Anfänge zu etwas Größerem. Trotzdem bieten sie eine reizvolle Lektüre. Es sind fast immer konkrete und anschauliche Szenen; mit wenigen Strichen schafft es Fallada, Figuren hinzustellen, die authentisch wirken. Sie geraten meist von einem Elend ins nächste – und bewahren sich doch einen Rest unverstellter Menschlichkeit.
    Die Nachlass-Erzählungen bieten also keine perfekte Literatur, aber viele Schnappschüsse aus der Lebenswirklichkeit der 30er- und 40er-Jahre. Man liest von einem Soldaten, der sich nach einer Verwundung beim Genesungsurlaub in seinem Heimatdorf immer unbehaglicher fühlt, auf Fragen nach dem Krieg nicht antworten mag und schließlich lieber vorzeitig an die Front zurückkehrt. Von einem Paar, dessen "junge Liebe" unter den zermürbten und übelgelaunten Zeitgenossen Ressentiments erregt. Von einem Jungen, der seine Eltern durch die Wirren des Krieges und der Flucht verliert und sich alleine durchschlagen muss. Von einem Mann, der in der Nachkriegsnot in eine Bäckerei einbricht; dadurch steht seine Frau mit den Kindern noch verzweifelter da, denn nun muss der Mann ins Gefängnis. Sein kleiner Sohn aber freut sich unterdessen der kaputten Zeiten; heutigen Helikoptereltern dürfte es dabei grausen:
    "Hinter der fünfstöckigen Mietskaserne, in der Bremers eine Wohnküche und ein Zimmer hatten, dehnte sich ein wüstes Bombentrichterfeld aus – für die Augen jedes Erwachsenen ein trauriger Anblick, für die Bremerschen Kinder aber ein herrliches Spielfeld. Es gab dort wunderbare Gebirge und zerschossene Tanks, es gab Treppen, die einen drei Stockwerke hoch ins schwindelbereitende Nichts führten, und es gab für den neunjährigen Willi Bremer ein Geheimnis, das er noch niemandem auf der Welt verraten hatte: hinter einer eingestürzten Wand einen Mauerriss, durch den man in einen dunklen Keller kam… Den hatte sich Willi Bremer als seine Höhle eingerichtet."
    Unverschnörkelter, schneller Stil
    Das zwanzigseitige "Märchen vom Unkraut" gehört zu den gelungensten und erstaunlichsten Texten des Bandes. Es handelt von einem unzufriedenen Bauern, der den ewigen Kampf mit dem Unkraut satt hat und Gott dafür verflucht. Verfehlte Schöpfung! Da kommt Gott selbst in Gestalt eines alten Wanderers vorbei und bietet dem Bauern an, die Welt für ihn ein Jahr nach seinen Wünschen zu gestalten. Es zeigt sich, dass das Leben ohne die ständige Arbeit am Unkraut zu unerwarteten Kollateralschäden führt – und sei es nur der Müßiggang, der dem Bauern nicht gut bekommt. Der Reiz dieses Märchens besteht weniger in seiner schlichten Moral als in der bildkräftigen Sprache. Da ist die Rede von Rübenblättern, "fast so groß wie Elefantenohren", da strahlt die Sommersonne "vom Himmel, als sei die liebe Erde ein Bratapfel, der noch vor Abend gar werden müsse", da ist der eitle Bauer "gierig nach dem Schleckerbrot des Lobes".
    Falladas Kenntnis des agrarischen Lebens erklärt sich wiederum durch seine Lebensgeschichte. Bevor er Erfolgsschriftsteller wurde, hatte er sich einige unstete Jahre als Gutsverwalter und Angestellter einer Kartoffelanbaugesellschaft durchgeschlagen. Davon berichtet er im allerletzten autobiographischen Text, den er kurz vor seinem Tod im Krankenhaus geschrieben hat:
    "Ich wurde ein Spezialist in Kartoffelzüchtung, in meinen besten Zeiten habe ich rund 1.200 Kartoffelsorten nicht nur dem Namen nach gekannt, sondern auch nach dem Aussehen, den Augen, der Form und Farbe der Knolle zu bestimmen gewusst."
    Dieses "Spiegelkabinett von Literatur und Leben" ist eine Sammlung von reflektierenden Erzählsplittern – und als solche faszinierend genug. Darüber hinaus weckt sie große Leselust auf die immer noch wiederzuentdeckenden Romane Falladas, dessen unverschnörkelter, schneller Stil heute oft moderner wirkt als manche ambitionierte Literaturanstrengung der Moderne.
    Hans Fallada: "Junge Liebe zwischen Trümmern". Erzählungen. Hg. und mit einem Nachwort von Peter Walther
    Aufbau Verlag, Berlin 2018. 295 Seiten, 20 Euro