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"Es beginnt eine neue Epoche"

Die arabische Welt sei vor den Revolutionen Teil eines "geopolitischen Spiels" gewesen und vom Westen instrumentalisiert worden, sagt der Autor Emmanuel Todd. Die Aufstände markierten das Ende einer Phase, in der sich die arabische Welt "außerhalb der Geschichte" befunden habe.

Emmanuel Todd im Gespräch mit Christoph Heinemann | 04.08.2011
    Christoph Heinemann: Inwiefern ist die Demografie für Sie ein wesentlicher Indikator für den Wandel in der arabischen Welt?

    Emmanuel Todd: Es ist das gleiche Messinstrument, das es mir als jungem Mann 1976 ermöglichte, den Niedergang der Sowjetunion vorherzusagen. Es gab eine Zeit, in der hieß es, die Russen seien in den Homo Sovieticus verwandelt worden und der Kommunismus würde ewig dauern. Ich habe damals aufgrund der abnehmenden Geburtenrate geschlossen, dass diese rationale und individuelle Kontrolle der Fruchtbarkeit im Familienleben eines Tages zu einer politischen Entsprechung führen würde. Und der Kommunismus ist zusammengebrochen. Das gilt genauso für die islamischen Länder. Man sprach über den Homo Islamicus – zu keinerlei Veränderungen fähig. Aber auch dort fand eine individuelle und rationale Geburtenkontrolle statt. Und auch das musste unweigerlich zu einem politischen Wandel führen.

    Heinemann: Die wirtschaftliche Lage und die Bedeutung der Religion sind für Sie nicht vorrangig?

    Todd: Nein, oder nur als Unterschied zwischen Schiiten und Sunniten. Der Schiismus ist etwas fortschrittlicher als die sunnitische Tradition. Etwas so, wie der Gegensatz in Europa zwischen Protestanten und Katholiken. Die Protestanten waren moderner und wiesen eine höhere Alphabetisierungsrate auf. Wirtschaft spielt für mich keine Rolle. Ich halte es mit der Tradition des 18. und 19. Jahrhunderts, die besagt, dass Bildung, Kultur und Wissen über die Entwicklung der Menschheit entscheiden. Wirtschaft kommt danach.

    Heinemann: Ist die arabische Welt moderner als Europa bisher bereit war, anzuerkennen?

    Todd: Einige wollten das nicht sehen. Die arabische Welt war bislang Teil eines geopolitischen Spiels. Es ging um die Kontrolle des Öls durch überwiegend US-amerikanische multinationale Konzerne. Dann die Nahostpolitik. Und der Terrorismus wurde in der Bush-Ära als ständiger unsichtbarer Feind dargestellt. Während einer ganzen Epoche wurde die moslemische Welt vom Westen instrumentalisiert.

    Heinemann: Und den Terrorismus sehen Sie als Kehrseite der Medaille der Modernisierung?

    Todd: Diese Übergangskrisen gibt es immer: Irgendwann lernen die Söhne lesen, deren Väter dies nicht können. Das untergräbt die Autorität und bringt sie zum Einsturz. Wenn die Fruchtbarkeitsrate sinkt, deutet dies auf eine neuartige Beziehung zwischen Männern und Frauen hin. Solche Übergangszeiten durchlaufen Länder nicht ohne politische und ideologische Krisen. Europa ist ein gutes Beispiel. Schauen Sie sich die englische und die französische Revolution an. In Deutschland gab es zwei tiefe Einschnitte: die Reformation und den Nationalsozialismus. Von Deutschland ging die universelle Alphabetisierung der Massen aus – als Folge der protestantischen Reformation und von Luther. In Russland fand eine schreckliche Revolution statt, dann in China - Japan mit einer faschistischen Phase. Wenn man das, was sich in der moslemischen Welt als Folge dieser Modernisierung in Form des Terrorismus ereignet hat, vergleicht, dann war das nicht besonders bedeutend. Ich will damit nicht sagen, dass der 11. September kein schreckliches Ereignis war. Gegenüber dem, was sich zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert auf europäischem Gebiet ereignet hat, ist es quantitativ aber nicht vergleichbar.

    Heinemann: Der Titel Ihres Buches lautet: Der arabische Frühling und was er für die Welt bedeutet. Was bedeutet diese Revolution für die Welt?

    Todd: Für die Welt ist dies das Ende einer Phase, in der man so tun konnte, als befände sich die arabische oder moslemische Welt außerhalb der Geschichte. Gegenwärtig beobachten wir eine Spaltung der arabischen Welt: In der Mitte und im östlichen Bereich - Saudi-Arabien, Yemen - geschieht nichts oder es verläuft nicht gut. Ein anderer Teil reicht von Ägypten bis Marokko. Dort haben Revolutionen stattgefunden, die noch nicht abgeschlossen sind. Dazwischen liegt Libyen, wo das Ende des Gaddafi-Regimes zu erahnen ist. Die gesamte Südküste des Mittelmeeres verändert sich hin zu viel ausgeprägteren Zivilgesellschaften und das ist für Europa entscheidend. Es beginnt eine neue Epoche.

    Heinemann: In Europa befindet sich die Geburtenrate im freien Fall. Was erwarten Sie für diesen alternden Kontinent, Europa?

    Todd: Zunächst ist das nicht gut. Ich bin kein glühender Verfechter einer Politik der Geburtenförderung. Aber die Unfähigkeit Europas auf die wirtschaftliche Entwicklungen in der Welt intelligent zu reagieren, lässt an eine soziale Senilität denken. Außerdem ist Europa zweigeteilt: ein Teil mit sehr niedriger Geburtenrate, der sich von Portugal bis Russland erstreckt – Deutschland und Italien gehören dazu – und ein nordwestliches Europa mit Frankreich, England und den skandinavischen Ländern, in denen die Lage weniger katastrophal ist. Es besteht also einerseits das Risiko, das der Kontinent zu einem Fossil wird, und die Gefahr einer Spaltung. Denn hinter der Krise - etwa der des Euro und der Haushaltskonflikte - verbirgt sich ein heterogener Kontinent. Und in dieser Frage ist die Demografie gnadenlos: denn so, wie die Demografie voraussagen kann, dass sich die arabische Welt verändert, steckt hinter den Diskursen der Wirtschaftswissenschaftlern, die sagen, der Euro sei eine gemeinsame Währung und man müsse die Haushaltspolitiken angleichen, die kalte Wirklichkeit der Geburtenraten – Frankreich 2 Kinder pro Frau, Deutschland, 1,3, Italien 1,3 oder 1,4. Und diese Indikatoren veranschaulichen, dass die europäischen Gesellschaften sehr unterschiedlich sind.