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"Es deutet wirklich vieles auch darauf hin, dass es Cholera sein könnte"

Eine erschreckende Meldung erreicht uns aus Haiti. Eine UN-Sprecherin hat dort dem US-Fernsehsender CNN gesagt, im Norden des Landes sei die Cholera ausgebrochen. Eine offizielle Bestätigung der Regierung liegt nicht vor.

Lutz Hahn im Gespräch mit Silvia Engels | 22.10.2010
    Lutz Hahn von der Hilfsorganisation World Vision, beschreibt die aktuelle Lage und die Perspektiven, die Haiti ein dreiviertel Jahr nach dem Erdbeben hat.

    Silvia Engels: Mindestens 138 Menschen seien bislang gestorben, weit über 1.500 Menschen erkrankt. Eine offizielle Bestätigung der Regierung liegt nicht vor. In der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince erreichen wir Lutz Hahn. Er ist derzeit für die Schweizer Niederlassung der Hilfsorganisation World Vision dort. Guten Tag, Herr Hahn.

    Lutz Hahn: Guten Tag!

    Engels: Wissen Sie etwas über die berichteten Cholera-Fälle?

    Hahn: Ja, die Meldung hat uns gestern hier erreicht und hat natürlich erst mal große Besorgnis ausgelöst. Aber es ist dazu wirklich zu sagen, auch hier in Haiti ist der Verdacht, dass es Cholera sein könnte, noch nicht bestätigt. Es heißt zwar, dass von 15 genommenen Proben 13 mittlerweile wohl geprüft waren, und vom Gesundheitsministerium sagt man, es spreche vieles dafür, dass es wohl Cholera sein könnte. Ich habe aber gestern auch mit Einheimischen vor Ort in der betroffenen Region telefoniert und dort hieß es immer, man hätte dreckiges Wasser getrunken, beziehungsweise man hätte verseuchten Fisch gegessen. Also gemäß diesen Informationen könnte es durchaus auch sein, dass es sich um Lebensmittelvergiftung handelt. Aber wie gesagt, es ist noch nicht ganz bestätigt. Es deutet wirklich vieles auch darauf hin, dass es Cholera sein könnte.

    Engels: Nun haben wir über diese UN-Sprecherin Zahlen gehört, über 130 Menschen gestorben, über 1500 Menschen erkrankt. Decken sich diese Angaben auch mit Ihren Informationen?

    Hahn: Ich habe auch gehört, dass in der Stadt Saint-Marc in einem Krankenhaus beziehungsweise vor einem Krankenhaus auf dem Parkplatz wohl Hunderte Verletzte beziehungsweise kranke Menschen liegen, die alle Hilfe suchend mit Durchfallerkrankungen sich dort an das medizinische Personal wenden. Und ich habe auch gehört, dass man bereits begonnen hat, weil die Krankenhäuser vor Ort in der Region einfach total überfordert und überfüllt sind, die Patienten zu evakuieren, auf andere Krankenhäuser zu verteilen.

    Engels: Was kann man tun, was kann auch Ihre Hilfsorganisation tun, wenn sich dieser Verdacht der Cholera bestätigt, oder wenn es eine andere Form von Erkrankung ist, an der trotzdem so viele Menschen eben sterben?

    Hahn: World Vision hat gestern sofort nach Bekanntwerden dieses neuen Verdachtes einen Hilfskonvoi losgeschickt, ausgestattet mit medizinischem Material, Rehydrierungsflüssigkeiten, Entkeimungsmitteln, Hygienesachen, und hat auch medizinisches Personal vor Ort hingeschickt, um einfach auch dort das Personal zu unterstützen. Jetzt ist es so, dass ganz große Angst besteht, dass diese neue Erkrankung, die Durchfallerkrankung - ich spreche bewusst nicht von Cholera -, dass das einfach übergreift nach Port-au-Prince und es dort wirklich dann zu einer großen Katastrophe kommt, wo die Menschen ja in den Camps auf wirklich engstem Raum zusammengepfercht leben und dort die hygienischen Verhältnisse nicht optimal sind.

    Engels: Herr Hahn, Sie sprechen es an: Diese schlechte Versorgung der Menschen auch in Port-au-Prince ist immer noch eine Spätfolge des verheerenden Erdbebens vom Januar. Damals starben mehr als 220.000 Menschen, circa 1,5 Millionen Menschen wurden obdachlos. Sie haben es angedeutet: Immer noch wohnen viele Menschen in den Zelten. Woran hapert es, warum kommt es da so langsam voran mit dem Wiederaufbau?

    Hahn: Die gesamte Infrastruktur wurde ja nach dem Erdbeben wirklich zerstört und die Menschen können gar nicht groß ausweichen, sie müssen einfach nach wie vor in den Camps leben unter Zeltplanen. Natürlich möchten viele wirklich wieder zurück in ihre Häuser, doch es fehlt an Platz, es fehlt an Möglichkeiten, einfach den Schutt auch an die Seite zu räumen, um überhaupt etwas Neues aufbauen zu können. Wenn man mal ein freies Stück Land gefunden hat, dann melden sich gleich drei, vier, fünf verschiedene Personen, die sagen, das ist mein Land. Das heißt, die Besitzverhältnisse sind überhaupt nicht geklärt, und auf ungeklärten Besitzverhältnissen etwas Neues aufzubauen, ist extrem schwierig. Da muss sehr, sehr viel Geduld an den Tag gelegt werden und darüber hinaus mit der Regierung entsprechend auch verhandelt werden, dass Baugenehmigungen, Baugesuche auch schneller erledigt werden beziehungsweise genehmigt werden.

    Engels: Liegt dieses, sage ich mal, langsame Vorgehen auch daran, dass die Spendenbereitschaft, dass die Hilfsbereitschaft international nicht mehr so groß ist wie eben noch vor einem dreiviertel Jahr?

    Hahn: Haiti ist natürlich aus dem Blickpunkt der Medien gerückt, aber durch diese Zuspitzung der momentan Situation rückt es leider wieder in den Mittelpunkt. Ich glaube nicht, dass die Spendenbereitschaft der Bevölkerung irgendwo in den Hintergrund gerückt ist, aber es ist einfach so: Es dauert einfach ein bisschen mehr Zeit, ein wirklich total am Boden liegendes Land wieder aufzubauen. Das geht halt nicht innerhalb von acht, neun Monaten, wo wir im Moment ja stehen.
    Natürlich ist die Situation nach wie vor nicht optimal. Es braucht wirklich sehr viel Zeit, die haitianische Uhr tickt anders als die Uhr, die in Deutschland tickt.

    Engels: Sie sind ja für die Hilfsorganisation World Vision dort. An welchen Projekten arbeiten Sie gerade, um es mal konkret zu machen? Wo können Sie denn helfen?

    Hahn: Ganz konkret hat World Vision in den letzten Monaten schon auch wirklich darauf hingewirkt, die Menschen, die jetzt so eng zusammengepfercht in den Lagern leben, gerade im Umgang mit Hygienemaßnahmen zu schulen, also ganz einfache Sachen, dass man sich wirklich die Hände wäscht, nachdem man auf dem Klo war, oder dass man Lebensmittel wäscht, bevor man sie isst, um einfach den Ausbruch von Krankheiten und Seuchen möglichst zu vermeiden. Darüber hinaus wurden sanitäre Einrichtungen geschaffen, die einfach die Notdurft der Menschen irgendwo leichter erledigen lassen. Darüber hinaus haben wir medizinische Einrichtungen in den Camps geschaffen, dass die Menschen wirklich auch ärztliche Betreuung haben, dass Kindern eine Art Kindergartenbesuch ermöglicht wird, auch Schulunterricht zum Teil erledigt wird, also ein sehr umfassendes Programm, was sich aber sehr stark auf die Camps, auf die Menschen in den Camps fokussiert.

    Engels: Eine wichtige Rolle bei all dem spielt ja auch die haitianische Regierung. Kann sie Ihnen helfen, oder ist sie nach wie vor überfordert?

    Hahn: Im Moment konzentriert sich alles im öffentlichen Leben von Port-au-Prince auf den Wahlkampf. Am 28. November finden ja Präsidentschaftswahlen statt. Man sieht in der Stadt immer wieder auch Demonstrationen für die verschiedenen Anhänger oder Kandidaten der Präsidentschaftswahlen. Wir werden immer wieder auch als Hilfsorganisationen gewarnt vor gewalttätigen Ausschreitungen, die jetzt auch während dieser Wahlveranstaltungen durchaus stattfinden.
    Viele Haitianer hoffen darauf, dass sich die Situation nach den Wahlen ändert, aber nichtsdestotrotz: Die Hilfswerke dürfen jetzt natürlich nicht einfach warten und schauen, bis sich die Situation vielleicht ändern könnte. Die Arbeit wird fortgesetzt und da setzt man natürlich schon auf die Kooperation mit der bestehenden Regierung.

    Engels: Das waren direkt zu nachtschlafender Zeit in Haiti Informationen von Lutz Hahn. Er ist für die Schweizer Niederlassung von World Vision zurzeit dort und wir sprachen mit ihm über die möglichen Cholera-Fälle, oder insgesamt die Perspektiven, die Haiti ein dreiviertel Jahr nach dem Erdbeben hat. Vielen Dank für Ihre Informationen.