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"Es geht in der Tat darum, stabile Strukturen zu hinterlassen"

"Wir brauchen tatsächlich einen schrittweisen Rückzug aus Afghanistan", sagt Jürgen Trittin, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Bundestag. Das Tragische an den aktuellen militärischen Vorfällen sei, dass der zivile Aufbau in den Hintergrund gerate, so der Grünen-Politiker.

Jürgen Trittin im Gespräch mit Gerwald Herter |
    Gerwald Herter: "Wir haben alle gehofft, dass wir diesen Tag niemals erleben müssen." Das hat der deutsche ISAF-Kommandeur im afghanischen Norden, General Frank Leidenberger, bei der Trauerfeier für die gefallenen Bundeswehrsoldaten gesagt. Sollen die deutschen Soldaten Afghanistan so bald wie möglich verlassen? Das fordert die Linkspartei, anders als die Regierungskoalition, die SPD und auch die Grünen. Wie aber soll es dann weitergehen? Noch mehr Tote? Das will ich jetzt im Gespräch mit dem Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Bundestag, mit Jürgen Trittin klären. Guten Morgen, Herr Trittin.

    Jürgen Trittin: Guten Morgen, Herr Herter.

    Herter: Herr Trittin, auch viele Abgeordnete Ihrer Fraktion haben einer Aufstockung des Bundeswehrkontingents im Januar zugestimmt. War das ein Fehler?

    Trittin: Nein. Die Mehrheit der Fraktion hat sich mit dieser Aufstockung nicht einverstanden erklärt. Das hat einen einfachen Grund: Wir sind der Auffassung, dass Afghanistan einer Stabilisierungs- und Abzugsperspektive bedarf. Beide Dinge gehören zusammen. Das zeigt auch gerade dieser Vorschlag. Aber wir sind nicht der Auffassung, dass das, was die Bundesregierung an dieser Stelle praktiziert, diesem Begriff gerecht wird. Es gibt weder einen definierten Zeitpunkt, wo ein definierter Rückbau des jetzigen Kontingents stattfindet, sondern es hat in den vergangenen Jahren militärisch immer nur Aufstockungen gegeben, und gleichzeitig gibt es ein viel zu spätes, ungenügendes Beheben jener Defizite, die uns in diese schwierige Situation zum Beispiel um Kundus mit hereingeführt hat, nämlich die Behebung der Mängel im zivilen und im Polizeiaufbau. Es ist ja so, dass die Beschreibung "Krieg" auf die Region Kundus durchaus zutreffend ist. Es ist gleichzeitig aber auch so, dass es Regionen in Afghanistan gibt, wo es eben mit dem Aufbau staatlicher Strukturen und anderen Dingen, auch der Entwicklung geklappt hat, die heute relativ ruhig sind, wo Entwicklungshelfer ungestört ihrer Arbeit nachgehen können. Dieses, Defizite nicht behoben zu haben, war der Grund, warum die Mehrheit meiner Fraktion sich einer erneuten Aufstockung in Afghanistan versagt hat, und wir erwarten heute von der Bundesregierung endlich beispielsweise Daten, Pläne, die dem entsprechen, wie sie beispielsweise unsere holländischen Nachbarn, oder unsere kanadischen Verbündeten haben, die alle im nächsten Jahr schrittweise mit einem Abzug aus Afghanistan beginnen werden.

    Herter: Das ist der von Ihnen genannte Rückbau. Sie fordern also einen klaren Abzugsplan. Ist das richtig?

    Trittin: Das ist richtig, aber einen Abzugsplan, der gleichzeitig sich Stabilisierungsziele setzt. Man kann nicht einfach sagen, jetzt gehen wir hier an dieser Stelle raus. Was das heißen würde, darauf gibt eben der schwarze Karfreitag auch einen Hinweis. Tatsächlich würde angesichts der aufgewachsenen Stärke der oppositionellen Militanten ein sofortiger einfacher Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan nicht weniger, sondern mehr Krieg in Afghanistan bedeuten. Die Stärke dieser Kräfte dort würde all das zunichte machen, was in den letzten Jahren an positiven Entwicklungen in Afghanistan stattgefunden hat, was übrigens der Grund ist, warum einige hunderttausende Afghaninnen und Afghanen aus dem Exil, in das sie vor 30 Jahren Bürgerkrieg geflohen sind, nach dem Iran, in die nördlichen Nachbarstaaten, aber auch nach Pakistan, wieder nach Afghanistan zurückgekehrt sind.

    Herter: Dass die Taliban, die Aufständischen ihre Taktik verbessert haben, glaubt auch Ihr Parteifreund Nouripour. Ein klarer Abzugsplan wäre doch eine Einladung an die Taliban, dort zu bleiben wo sie sind, sich ruhig zu verhalten und auf den Tag X einfach zu warten.

    Trittin: Das ist eine interessante Debatte. Das ist aber dann ein massiver Vorwurf gegenüber den USA, es ist ein massiver Vorwurf gegenüber Kanada, es ist ein massiver Vorwurf gegenüber den Niederlanden. All diese Länder haben heute definierte Daten und Fakten, zu denen sie abziehen werden. Sie haben zum Teil, wie die Niederländer, dazu Parlamentsbeschlüsse. Darüber ist übrigens in den Niederlanden gerade die Regierung zerbrochen, über die Umsetzung dieses Parlamentsbeschlusses. All diese Länder sagen, es kann keine Dauerpräsenz geben, es kann auch nicht geben eine dauerhafte militärische Präsenz. Wir brauchen tatsächlich einen schrittweisen Rückzug aus Afghanistan. Dieser schrittweise Rückzug kann aber nur verantwortlich gelingen, wenn gleichzeitig massiv investiert wird in den Aufbau ziviler und polizeilicher Strukturen. Das Tragische neben dem Tot der drei deutschen Soldaten, neben dem Tot der fünf afghanischen Soldaten ist eigentlich, dass über diese militärische Eskalation alle Aufmerksamkeit erneut gelenkt wird auf die militärische Seite, und die für diese militärische Eskalation mit ursächlichen Versagen im Bereich des zivilen Aufbaus mal wieder völlig aus dem Blickpunkt der Öffentlichkeit geraten.

    Herter: Ist die öffentliche Debatte nicht der eigentliche Grund für diese Abzugspläne und nehmen die von Ihnen genannten Staaten das nicht in Kauf und versuchen sie einfach, ähnlich wie die Bundeswehr, gesichtswahrend sich aus Afghanistan zurückzuziehen, obwohl das anders genannt wird?

    Trittin: Nein. Ich glaube, es geht in der Tat darum, stabile Strukturen zu hinterlassen, die insgesamt dazu führen, dass ein wieder von Afghanen nicht nur regiertes, sondern auch souveränes Afghanistan mit einer gewählten Regierung in der Lage ist, zu leben ohne zu einer Bedrohung, oder zur Beute seiner Nachbarn zu werden. Beides war der Zustand, den Afghanistan über Jahre, um nicht zu sagen Jahrzehnte hinweg hatte: Interventionen, Aufbau-Gegenstrukturen beispielsweise aus Pakistan, übrigens lange mit amerikanischer Unterstützung an dieser Stelle, gleichzeitig Flucht von hunderttausenden von Afghanen in den Iran, in die nördlichen Nachbarstaaten. All dieses ist eine Verantwortung der Staatengemeinschaft, die eben mit eine der Voraussetzungen ist für einen solchen Abzug.

    Herter: Dazu gehört ganz sicher, dass die afghanische Armee funktioniert. Wenn wir den Zwischenfall vom Wochenende betrachten, da waren afghanische Soldaten in Zivilfahrzeugen unterwegs, haben nicht angehalten, obwohl sie dazu aufgefordert wurden. Wird die Ausbildung, werden Ausbildungserfolge der afghanischen Armee übertrieben?

    Trittin: Ich glaube, die Verbündeten sind mit der Ausbildung der afghanischen Armee und übrigens auch der Polizei nicht so weit, wie sie hätten sein müssen. Es ist viel zu lange darauf gesetzt worden, selber die Tätigkeit zu machen, anstatt auszubilden. Es ist viel zu wenig darauf geachtet worden, auch tatsächlich im Bereich der Polizei- und Armeeausbildung tätig zu werden. Hier hat die internationale Gemeinschaft unzweifelhaft eine Veränderung ihrer Strategie vorgenommen. Nun muss man eben feststellen, dass die Veränderung dieser Strategie sehr, sehr spät kommt. Darüber diskutieren wir spätestens seit dem Jahre 2005, und das heißt seit fünf Jahren geht diese Debatte und jetzt erst hat diese Debatte Änderungen in der Strategie zur Folge. Da sind solche dramatischen Vorfälle wie am Karfreitag dann eine der möglichen Konsequenzen.

    Herter: Über die geänderte Rhetorik haben wir schon gesprochen. Der Bundesverteidigungsminister zu Guttenberg, den wir gerade im O-Ton gehört haben, spricht umgangssprachlich von Krieg. Sind Sie ihm dafür dankbar?

    Trittin: Nein, ich bin ihm nicht dankbar. Wenn jemand Krieg "Krieg" nennt, ist das eigentlich eine Normalität. Nur die Realität in Afghanistan ist eben eine sehr gemischte. Über Jahre hinweg hat uns die Bundesregierung glauben lassen, in Afghanistan gäbe es keinen Krieg, da gäbe es sozusagen Brunnenbau mit bewaffnetem Begleitschutz. Das war damals falsch und genauso falsch wäre heute der Eindruck, dass Afghanistan durchgehend flächendeckend von einem Krieg geprägt ist. Es gibt Regionen, da tobt ein solcher Bürgerkrieg; es gibt andere Regionen, wo die internationale Gemeinschaft, wo die Afghaninnen und Afghanen heute eine sehr stabile Entwicklung eingeleitet haben, und Rhetorik muss der widersprüchlichen Realität dieses Landes gerecht werden.

    Herter: Militärisch sind die Taliban derzeit nur in Grenzen erfolgreich. Das sagen alle Beobachter, so wie Sie auch. Ihre Erfolge reichen aber aus, um die Unterstützung für den Afghanistan-Einsatz in Deutschland in Frage zu stellen. Herr Trittin, gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma?

    Trittin: Ich glaube, der einzige Ausweg daraus ist, dass die Bundesregierung anfängt, sich in dieser Frage ehrlich zu machen, und ehrlich heißt, dass es ein Stabilisierungsziel gibt, nämlich die Verhinderung eines Zerbrechens und Wiederaufflammens des Bürgerkrieges in Afghanistan. Das ist das Ziel. Es ist nicht das Ziel, hier eine Gesellschaft aufzubauen, die quasi so aussieht wie Großbritannien. Das wird ein sehr, sehr langer Weg sein. Das wird übrigens ein Weg sein, der ganz wenig mit Militär und ganz viel mit Wirtschaftlicher Entwicklung zu tun hat.

    Herter: Der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Jürgen Trittin, im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Danke, Herr Trittin.

    Trittin: Ich danke Ihnen!