Ferdos Forudastan: Noch gut 20 Minuten, dann ist es so weit: Dann öffnen die Wahllokale und dann beginnt eine der vermutlich spannendsten Bundestagswahlen der vergangenen Jahrzehnte. Die Meinungsforscher haben bis zum Schluss des Wahlkampfs ein außerordentlich knappes Rennen zwischen einem Bündnis aus Schwarz-Gelb auf der einen und einer Mehrheit von Rot-Grün-Gelb oder Rot-Rot-Grün auf der anderen Seite vorausgesagt. Seit Wochen kann man kein Radio oder keinen Fernseher anschalten und keine Zeitung aufschlagen, ohne zu hören oder zu lesen, wer warum meint, dass welche Konstellation sich durchsetzt, und weshalb das besonders gut oder besonders schlecht für Deutschland wäre. Auch in der Familie, unter Freunden und Kollegen unterhalten viele Menschen sich seit Wochen über diesen heutigen Sonntag. Man könnte meinen, wir alle sind im Wahlfieber. Aber das stimmt nicht. Zwar gehen die Demoskopen davon aus, dass heute, bei der vorgezogenen Bundestagswahl, über 80 Prozent der Wahlberechtigten an die Urnen gehen werden. Aber da bleiben immer noch knapp zwölf Millionen Menschen übrig, die nicht wählen. Und das liegt im Trend: Rund 20 Prozent haben bei der letzten Bundestagswahl ihre Stimme gar nicht abgegeben; bei Landtagswahlen bleiben inzwischen rund 40 Prozent der Wahlurne fern; bei Europawahlen sind es über 50 Prozent. Elmar Wiesendahl ist Professor für Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Parteienforschung an der Universität der Bundeswehr in München. Was meint er, warum Millionen von Menschen ihr Wahlrecht nicht in Anspruch nehmen?
Elmar Wiesendahl: Also zunächst erst mal macht die Mehrheit Gebrauch. Allerdings stellen wir fest, dass über die Jahre der Anteil derjenigen, die zur Wahl gehen, rückläufig ist. Man kann sogar davon sprechen: Es gibt einen Anstieg der Nichtwähler-Partei. Die Gründe sind sehr unterschiedlich. Einmal haben wir immer schon einen Anteil von Kranken, Gebrechlichen oder Unabkömmlichen, die nicht zur Wahl gehen. Dann - Sie sprachen bereits davon - eine Gruppe von Unpolitischen, die sich einfach nicht für Politik interessiert. Allerdings ist die Gruppe insgesamt größer. Unter ihnen geht ein Teil zur Wahl, einfach aus Wahlnorm, die Gesellschaft will das. Und jetzt kommen wir zu einer Problemgruppe, die wächst: Das sind Frustrationsnichtwähler, könnte man sagen - aber in bewusster Form. Einmal, gleichsam Nichtwähler aus Protest. Das sind einmalige Nichtwähler, die sagen: Ich wähle meine Partei diesmal nicht, eine andere auch nicht. Und dann eine wachsende Problemgruppe, die aus einem Ausdruck von Ohnmacht nicht mehr bereit ist, zu wählen. Und eventuell das dauerhaft auch betreibt. Also einen Ausstieg aus der Politik betreibt infolge von Politiker-, Parteienverdruss oder generell Politikverdruss.
Forudastan: Das was Sie jetzt beschreiben, diese Phänomene, sind die denn ungefähr gleichmäßig über das ganze Land verteilt und durch die ganze Gesellschaft oder gibt es da sehr große Unterschiede?
Wiesendahl: Also es gibt Unterschiede. Denn diese aktuellen Phänomene wie steigende Politikverdrossenheit oder das Gefühl: Wie immer ich wähle, es kommt doch etwas heraus, was ich nicht beeinflussen kann - das ist das eine. Das andere ist aber: Wir erleben auch eine wachsende Kluft zwischen bestimmten Gruppen der Gesellschaft hinsichtlich der Wahlbeteiligung. Einmal haben wir ein dauerhaftes Jungwählerdefizit. Das heißt, Erst- und Jungwähler wählen immer weniger. Und die größte Problemgruppe, die wir dabei haben, sind Jungwählerinnen, während umgekehrt Ältere und ganz Alte fleißig zur Wahl gehen. Ein weiteres Problem, vielleicht darf ich das noch ansprechen: Wenn man in die Großstädte hineinguckt, hat man gutbürgerliche Quartiere - dort ist die Wahlbeteiligung sehr hoch - und dann richtige soziale Brennpunkte - und da schrumpft die Wahlbeteiligung. Das heißt, gerade dort, wo politisch etwas repräsentiert werden müsste, dort ist die Wahlbeteiligung schrumpfend. Und wir haben zwischen Ost und West ein deutliches Gefälle. Das heißt, in den neuen Bundesländern gehen die Bürger und Bürgerinnen weniger zur Wahl als im Westen. Insofern muss man das Bild differenzieren, was sich dort auftut. Es sind nicht nur aktuelle Probleme des Politikverdrusses, sondern es sind auch strukturelle Probleme.
Forudastan: Um noch einmal auf den Politikverdruss zurückzukommen: Wieso ist der in den letzten Jahren und Jahrzehnten gestiegen, dass die Menschen sich sagen: Ich kann ja sowieso nichts verändern, die da oben, die machen doch, was sie wollen? Das war doch früher schon genauso?
Wiesendahl: Es gab immer schon ein Gefühl: Unten, oben - die dort oben machen doch das, was sie wollen. Man muss aber sagen, seit den 90er Jahren ist dieses Gefühl angestiegen. Und auch die Aussage: Was ich wähle, nimmt keineswegs Einfluss, denn nach der Wahl tun die Politiker das, was sie vorhaben, uns aber nicht erklärt haben - dies ist angewachsen.
Forudastan: Und woran liegt das?
Wiesendahl: Das liegt einmal auch an Erfahrungen. Wir haben die Wahlen von 2002, wo einiges eben nicht auf der Tagesordnung des Wahlkampfs stand, was dann später Politik wurde. Nehmen wir die Agenda 2010. Im Wahlkampf von 2002 war überhaupt nicht davon die Rede, so dass man sagen kann: Jetzt, die vorgezogenen Bundestagswahlen sind der nachholende Versuch, dafür eine Legitimation zu bekommen. Damals, in der Wahlauseinandersetzung, spielte das keine Rolle.
Forudastan: Aber so etwas gab es doch früher auch. Zum Beispiel hat Helmut Kohl auch eine andere Rentenpolitik in der Wirklichkeit gemacht, als er sie vor der Wahl angekündigt hatte.
Wiesendahl: Sicherlich. Aber es gab so etwas wie einen stärkeren Vertrauensvorschuss für die Politik. Speziell für die Politiker. Heute muss man sprechen: Es gibt einen Kreditverfall für die Politiker, welchen Lagers immer. Und wenn schon mit so einem fehlenden Vertrauensvorschuss die Wahlkämpfe geführt werden, traut man denen - wer immer gewählt wird - nicht mehr zu, dass man sich wirklich an das hält, was den Wählern versprochen wird. Es gibt eine massive Vertrauenslücke zwischen der Wählerschaft einerseits und der politischen Klasse in Deutschland.
Forudastan: Dieser Vertrauensvorschuss, Sie haben es vorhin ganz kurz angeschnitten, hängt auch mit vielen Affären zusammen, die Politiker hatten. Aber auch solche Affären hat es früher gegeben, auch das ist doch jetzt keine Neuigkeit, keine Entwicklung, die wir jetzt erst beobachten können?
Wiesendahl: Das ist richtig. Bloß, wir haben ja über die letzten 30 Jahre auch einen Prozess der Politisierung der Bundesbürger. Sie sind bewusster geworden, kritischer geworden, sie verfolgen viel stärker das politische Geschäft. Insofern ist natürlich auch das Fehlverhalten der einzelnen Politiker viel stärker im Brennpunkt - und auch die Medien sorgen dafür, dass dies grell beleuchtet wird. Und wenn man das summiert, ergibt sich eine wachsende Distanz, Entfremdung zwischen denen, die durchaus sich beteiligen wollen, die auch wählen wollen, und denen, die zur Wahl stehen.
Forudastan: Das heißt, die Menschen sind einerseits politischer und schauen genauer hin und sehen, da gibt es zum Beispiel die Parteispendenaffäre oder da hat sich zum Beispiel der Politiker X oder die Politikerin Y persönlich bereichert, ziehen aber andererseits einen Schluss, den man irgendwie als unpolitisch bezeichnen könnte, nämlich gehen nicht wählen?
Wiesendahl: Nein, das ist umgekehrt ein politischer Entschluss. Man sagt sich nämlich: Was kann ich mit meiner Stimme anfangen? Es ist ja eine Form von Mandatserteilung. Und die Erwartung, dass dieses Mandat im Sinne des Wählers dann auch umgesetzt wird, darin entsteht ein riesiges Fragezeichen. Infolgedessen ist dann der Schluss "Ich gehe nicht zur Wahl" ein rationaler und ein politischer.
Forudastan: Und ein legitimer?
Wiesendahl: Legitim für den einzelnen Wähler. Bloß im Summeneffekt ergibt sich natürlich das Problem, dass am Ende diejenigen, die uns regieren, ja mit immer einer geringer werdenden demokratischen Legitimation nur noch gewählt werden. Und Wahlen sind doch immerhin auch die Gelegenheit, Menschen, denen man misstraut, die ihren Job nicht gut gemacht haben, abzuwählen. Oder umgekehrt, die Hoffnung zu setzen auf eine neue Gruppe, die es anpacken soll. Auch mit der Erwartung: Wenn Ihr es nicht packt, wählen wir Euch wieder ab. Und dieses demokratische Urprinzip, Richter spielen zu können und Politiker beauftragen zu können, das ist schon etwas, was man nutzen sollte.
Forudastan: Das setzt aber voraus, dass es eine andere Konstellation, eine andere Partei oder andere Politiker gibt, von denen jemand, der die Partei nicht mehr wählt, die er das letzte Mal gewählt hat, sagt: Die könnten es besser. Nun gibt es ja aber ganz viele Menschen, die sagen, zum Beispiel: Die SPD kann ich wegen der Agenda 2010 nicht mehr wählen, die Grünen auch nicht, die haben mitgemacht, CDU und FDP würden das noch viel schärfer betreiben, den Sozialstaatsabbau, der PDS traue ich nicht - also gehe ich gar nicht wählen, weil gar niemand da ist.
Wiesendahl: Das ist ein ganz wichtiges Problem. Denn wir sehen mittlerweile, seit einigen Jahren, eine Entwicklung, dass die Alternativen, die zur Wahl stehen, immer stärker zusammenrücken. Man könnte sagen: Es gibt einen neoliberalen Trend in Deutschland. Das heißt, die Lösungsangebote gehen alle in ein und dieselbe Richtung. Es gibt nur graduelle Unterschiede. Wenn jetzt ein Arbeitnehmer glaubt, er fühlt sich in seinen Rechten eingeschränkt - es geht um seine Haut -, stellt er fest, dass natürlich diejenigen, die zur Wahl stehen, ihm kaum Alternativen anbieten. Es sei denn, er wählt die Linkspartei. Immerhin gibt es dort eine scharf abgesetzte Alternative. Insgesamt muss man aber sagen, dass die im Bundestag vertretenen Parteien programmatisch und in ihren Lösungsansätzen immer stärker zusammenrücken.
Forudastan: Das heißt, dieser Gedanke: Ich wähle niemanden, weil keiner so sehr meiner Vorstellung entspricht, dass ich ihn beauftragen könnte, der ist sehr gut nachvollziehbar aus Ihrer Sicht?
Wiesendahl: Der ist sehr gut nachvollziehbar. Und ein weiterer Gedanke ist nachvollziehbar: Wenn ich eine Regierung abgewählt habe und einer neuen Formation nun meine Stimme gegeben habe und ich stelle nach vier Jahren fest, auch sie packt es nicht, gibt es natürlich auch so eine Art von Bilanz, festzustellen, dass insgesamt die zur Wahl stehenden Parteien und Politiker nicht in der Lage sind, die Probleme zu lösen. Ich brauche ja bloß auf die Massenarbeitslosigkeit zu gucken.
Elmar Wiesendahl: Also zunächst erst mal macht die Mehrheit Gebrauch. Allerdings stellen wir fest, dass über die Jahre der Anteil derjenigen, die zur Wahl gehen, rückläufig ist. Man kann sogar davon sprechen: Es gibt einen Anstieg der Nichtwähler-Partei. Die Gründe sind sehr unterschiedlich. Einmal haben wir immer schon einen Anteil von Kranken, Gebrechlichen oder Unabkömmlichen, die nicht zur Wahl gehen. Dann - Sie sprachen bereits davon - eine Gruppe von Unpolitischen, die sich einfach nicht für Politik interessiert. Allerdings ist die Gruppe insgesamt größer. Unter ihnen geht ein Teil zur Wahl, einfach aus Wahlnorm, die Gesellschaft will das. Und jetzt kommen wir zu einer Problemgruppe, die wächst: Das sind Frustrationsnichtwähler, könnte man sagen - aber in bewusster Form. Einmal, gleichsam Nichtwähler aus Protest. Das sind einmalige Nichtwähler, die sagen: Ich wähle meine Partei diesmal nicht, eine andere auch nicht. Und dann eine wachsende Problemgruppe, die aus einem Ausdruck von Ohnmacht nicht mehr bereit ist, zu wählen. Und eventuell das dauerhaft auch betreibt. Also einen Ausstieg aus der Politik betreibt infolge von Politiker-, Parteienverdruss oder generell Politikverdruss.
Forudastan: Das was Sie jetzt beschreiben, diese Phänomene, sind die denn ungefähr gleichmäßig über das ganze Land verteilt und durch die ganze Gesellschaft oder gibt es da sehr große Unterschiede?
Wiesendahl: Also es gibt Unterschiede. Denn diese aktuellen Phänomene wie steigende Politikverdrossenheit oder das Gefühl: Wie immer ich wähle, es kommt doch etwas heraus, was ich nicht beeinflussen kann - das ist das eine. Das andere ist aber: Wir erleben auch eine wachsende Kluft zwischen bestimmten Gruppen der Gesellschaft hinsichtlich der Wahlbeteiligung. Einmal haben wir ein dauerhaftes Jungwählerdefizit. Das heißt, Erst- und Jungwähler wählen immer weniger. Und die größte Problemgruppe, die wir dabei haben, sind Jungwählerinnen, während umgekehrt Ältere und ganz Alte fleißig zur Wahl gehen. Ein weiteres Problem, vielleicht darf ich das noch ansprechen: Wenn man in die Großstädte hineinguckt, hat man gutbürgerliche Quartiere - dort ist die Wahlbeteiligung sehr hoch - und dann richtige soziale Brennpunkte - und da schrumpft die Wahlbeteiligung. Das heißt, gerade dort, wo politisch etwas repräsentiert werden müsste, dort ist die Wahlbeteiligung schrumpfend. Und wir haben zwischen Ost und West ein deutliches Gefälle. Das heißt, in den neuen Bundesländern gehen die Bürger und Bürgerinnen weniger zur Wahl als im Westen. Insofern muss man das Bild differenzieren, was sich dort auftut. Es sind nicht nur aktuelle Probleme des Politikverdrusses, sondern es sind auch strukturelle Probleme.
Forudastan: Um noch einmal auf den Politikverdruss zurückzukommen: Wieso ist der in den letzten Jahren und Jahrzehnten gestiegen, dass die Menschen sich sagen: Ich kann ja sowieso nichts verändern, die da oben, die machen doch, was sie wollen? Das war doch früher schon genauso?
Wiesendahl: Es gab immer schon ein Gefühl: Unten, oben - die dort oben machen doch das, was sie wollen. Man muss aber sagen, seit den 90er Jahren ist dieses Gefühl angestiegen. Und auch die Aussage: Was ich wähle, nimmt keineswegs Einfluss, denn nach der Wahl tun die Politiker das, was sie vorhaben, uns aber nicht erklärt haben - dies ist angewachsen.
Forudastan: Und woran liegt das?
Wiesendahl: Das liegt einmal auch an Erfahrungen. Wir haben die Wahlen von 2002, wo einiges eben nicht auf der Tagesordnung des Wahlkampfs stand, was dann später Politik wurde. Nehmen wir die Agenda 2010. Im Wahlkampf von 2002 war überhaupt nicht davon die Rede, so dass man sagen kann: Jetzt, die vorgezogenen Bundestagswahlen sind der nachholende Versuch, dafür eine Legitimation zu bekommen. Damals, in der Wahlauseinandersetzung, spielte das keine Rolle.
Forudastan: Aber so etwas gab es doch früher auch. Zum Beispiel hat Helmut Kohl auch eine andere Rentenpolitik in der Wirklichkeit gemacht, als er sie vor der Wahl angekündigt hatte.
Wiesendahl: Sicherlich. Aber es gab so etwas wie einen stärkeren Vertrauensvorschuss für die Politik. Speziell für die Politiker. Heute muss man sprechen: Es gibt einen Kreditverfall für die Politiker, welchen Lagers immer. Und wenn schon mit so einem fehlenden Vertrauensvorschuss die Wahlkämpfe geführt werden, traut man denen - wer immer gewählt wird - nicht mehr zu, dass man sich wirklich an das hält, was den Wählern versprochen wird. Es gibt eine massive Vertrauenslücke zwischen der Wählerschaft einerseits und der politischen Klasse in Deutschland.
Forudastan: Dieser Vertrauensvorschuss, Sie haben es vorhin ganz kurz angeschnitten, hängt auch mit vielen Affären zusammen, die Politiker hatten. Aber auch solche Affären hat es früher gegeben, auch das ist doch jetzt keine Neuigkeit, keine Entwicklung, die wir jetzt erst beobachten können?
Wiesendahl: Das ist richtig. Bloß, wir haben ja über die letzten 30 Jahre auch einen Prozess der Politisierung der Bundesbürger. Sie sind bewusster geworden, kritischer geworden, sie verfolgen viel stärker das politische Geschäft. Insofern ist natürlich auch das Fehlverhalten der einzelnen Politiker viel stärker im Brennpunkt - und auch die Medien sorgen dafür, dass dies grell beleuchtet wird. Und wenn man das summiert, ergibt sich eine wachsende Distanz, Entfremdung zwischen denen, die durchaus sich beteiligen wollen, die auch wählen wollen, und denen, die zur Wahl stehen.
Forudastan: Das heißt, die Menschen sind einerseits politischer und schauen genauer hin und sehen, da gibt es zum Beispiel die Parteispendenaffäre oder da hat sich zum Beispiel der Politiker X oder die Politikerin Y persönlich bereichert, ziehen aber andererseits einen Schluss, den man irgendwie als unpolitisch bezeichnen könnte, nämlich gehen nicht wählen?
Wiesendahl: Nein, das ist umgekehrt ein politischer Entschluss. Man sagt sich nämlich: Was kann ich mit meiner Stimme anfangen? Es ist ja eine Form von Mandatserteilung. Und die Erwartung, dass dieses Mandat im Sinne des Wählers dann auch umgesetzt wird, darin entsteht ein riesiges Fragezeichen. Infolgedessen ist dann der Schluss "Ich gehe nicht zur Wahl" ein rationaler und ein politischer.
Forudastan: Und ein legitimer?
Wiesendahl: Legitim für den einzelnen Wähler. Bloß im Summeneffekt ergibt sich natürlich das Problem, dass am Ende diejenigen, die uns regieren, ja mit immer einer geringer werdenden demokratischen Legitimation nur noch gewählt werden. Und Wahlen sind doch immerhin auch die Gelegenheit, Menschen, denen man misstraut, die ihren Job nicht gut gemacht haben, abzuwählen. Oder umgekehrt, die Hoffnung zu setzen auf eine neue Gruppe, die es anpacken soll. Auch mit der Erwartung: Wenn Ihr es nicht packt, wählen wir Euch wieder ab. Und dieses demokratische Urprinzip, Richter spielen zu können und Politiker beauftragen zu können, das ist schon etwas, was man nutzen sollte.
Forudastan: Das setzt aber voraus, dass es eine andere Konstellation, eine andere Partei oder andere Politiker gibt, von denen jemand, der die Partei nicht mehr wählt, die er das letzte Mal gewählt hat, sagt: Die könnten es besser. Nun gibt es ja aber ganz viele Menschen, die sagen, zum Beispiel: Die SPD kann ich wegen der Agenda 2010 nicht mehr wählen, die Grünen auch nicht, die haben mitgemacht, CDU und FDP würden das noch viel schärfer betreiben, den Sozialstaatsabbau, der PDS traue ich nicht - also gehe ich gar nicht wählen, weil gar niemand da ist.
Wiesendahl: Das ist ein ganz wichtiges Problem. Denn wir sehen mittlerweile, seit einigen Jahren, eine Entwicklung, dass die Alternativen, die zur Wahl stehen, immer stärker zusammenrücken. Man könnte sagen: Es gibt einen neoliberalen Trend in Deutschland. Das heißt, die Lösungsangebote gehen alle in ein und dieselbe Richtung. Es gibt nur graduelle Unterschiede. Wenn jetzt ein Arbeitnehmer glaubt, er fühlt sich in seinen Rechten eingeschränkt - es geht um seine Haut -, stellt er fest, dass natürlich diejenigen, die zur Wahl stehen, ihm kaum Alternativen anbieten. Es sei denn, er wählt die Linkspartei. Immerhin gibt es dort eine scharf abgesetzte Alternative. Insgesamt muss man aber sagen, dass die im Bundestag vertretenen Parteien programmatisch und in ihren Lösungsansätzen immer stärker zusammenrücken.
Forudastan: Das heißt, dieser Gedanke: Ich wähle niemanden, weil keiner so sehr meiner Vorstellung entspricht, dass ich ihn beauftragen könnte, der ist sehr gut nachvollziehbar aus Ihrer Sicht?
Wiesendahl: Der ist sehr gut nachvollziehbar. Und ein weiterer Gedanke ist nachvollziehbar: Wenn ich eine Regierung abgewählt habe und einer neuen Formation nun meine Stimme gegeben habe und ich stelle nach vier Jahren fest, auch sie packt es nicht, gibt es natürlich auch so eine Art von Bilanz, festzustellen, dass insgesamt die zur Wahl stehenden Parteien und Politiker nicht in der Lage sind, die Probleme zu lösen. Ich brauche ja bloß auf die Massenarbeitslosigkeit zu gucken.