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"Es gibt kein Pauken mehr von Jahreszahlen"

Im Schulunterricht sei eine ganz andere Welt vorhanden, sagte Peter Lautzas, der scheidende Vorsitzende des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands zum Ende des Deutschen Historikertags in Mainz. Statt Jahreszahlen, Schlachten und Ereignissen abzufragen, würden heute gegenwartsbezogene Themen im Mittelpunkt stehen.

Peter Lautzas im Gespräch Christoph Heinemann |
    Christoph Heinemann: In Mainz endet heute der Deutsche Historikertag. Seit Dienstag haben mehr als 3000 Geschichtswissenschaftler und Pädagogen Vorträge gehört, Gespräche geführt und Erkenntnisse gewonnen. Die Zahl deutet es an: Der Historikertag ist einer der größten geisteswissenschaftlichen Kongresse in Europa – mit langer Tradition übrigens: der erste fand 1893 statt. Ein Schwerpunkt des Treffens bildete das Konfliktpotenzial, das zum Beispiel in Bodenschätzen steckt. Geschichte ist immer auch eine Wissenschaft, die Spannungen beobachtet, die sich aufbauen oder die sich gerade entladen.
    Eingeladen haben der Deutsche Historikerverband, das sind die Wissenschaftler, und der Verband der Geschichtslehrer Deutschlands, in dem die Wissensvermittler zusammengeschlossen sind. Peter Lautzas ist der scheidende Vorsitzende des Geschichtslehrerverbandes. Guten Morgen nach Mainz.

    Peter Lautzas: Guten Morgen, Herr Heinemann.

    Heinemann: Welche Erkenntnisse nehmen Sie mit aus Mainz?

    Lautzas: Ja ganz besonders – und das ist sehr erfreulich -, dass die Geschichtswissenschaft nun wirklich schon seit Langem in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, insofern, als hier wieder ein sehr zentrales und politisch aktuelles Thema aufgegriffen wurde als Motto, nämlich die Ressourcenkonflikte. Ein Thema, das weit über die Geschichtswissenschaft und Geschichtsbetrachtung hinausweist und auch andere Bereiche umfasst, die uns heute also sehr wichtig sind und über die wir uns Gedanken machen müssen.

    Heinemann: Welche?

    Peter Lautzes, scheidender Vorsitzende des Geschichtslehrerverbandes Lautzas: Na ja, zum Beispiel, dass die Ressourcen aller Art, nicht nur die materiellen, sondern auch die immateriellen, begrenzt sind, dass wir in Verteilungsüberlegungen, ich will nicht sagen Kämpfe uns hineinbegeben müssen und dass wir die Ressourcen verteilen müssen. Das hat im Übrigen auch der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Herr Voßkuhle, der bei der Eröffnung anwesend war und eine Festtagsrede gehalten hat, auch sehr betont.

    Heinemann: Ressourcen – das waren früher Rohstoffe, Sklaven, Gold. Was können wir in der Gegenwart aus diesen Spannungen, aus den Kriegen, die daraus erwachsen sind, konkret lernen?

    Lautzas: Ja das ist immer so eine Sache. Lernen aus der Geschichte ist nur begrenzt möglich. Aber Modelle und abgeschlossene Entwicklungen aus der Vergangenheit können wir immerhin beurteilen und können daraus unsere Schlüsse ziehen und vielleicht die eine oder andere Lehre oder Überlegung ableiten. Aber Übertragen natürlich auf die Gegenwart geht nicht, aber es sind Modelle, die einem hilfreich sind für die Gegenwart.

    Heinemann: In der Euro-Krise geht es um die Ressource Geld. Wenn unterschiedlich starke Volkswirtschaften zu einem Währungsraum zusammengeschlossen werden, dann geht das schief, wie wir gerade möglicherweise merken. Ihr Mainzer Kollege Andreas Rödder hat gesagt, die Bedeutung der nationalen Traditionen und der Nationalstaaten sei vollkommen unterschätzt worden. War das so?

    Lautzas: Ja, unter gewissem Aspekt natürlich schon. Nur ist natürlich heutzutage die nationale Bedeutung nach wie vor, sagen wir mal, als Ordnungsfaktor eines Großraums wie Europa von großer Bedeutung. Aber es sind natürlich auch andere Aspekte wie etwa der regionale, der hier eine Erneuerung, sagen wir mal, erlebt, durchaus hinzugekommen. Also man kann wieder mit einem klaren Jein antworten.

    Heinemann: Frankreich war diesmal Partnerland des Historikertages. Unterscheidet sich der Blick auf die Vergangenheit dies- und jenseits des Rheins?

    Lautzas: Durchaus! Tendenziell auch in der Wissenschaftstradition durchaus. In Frankreich haben wir mehr die Mentalitätsgeschichte und Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Ich will nur mal die sehr bedeutende Schule der Annales nennen, die in Frankreich wirksam war und auch heute noch ist. In Deutschland dagegen haben wir eine sehr starke Tradition der politischen Geschichte, die betrieben wurde und die ja jetzt auch in eine neue Sozial- und Wirtschaftsgeschichte gemündet ist. Also insofern haben wir schon kleine Unterschiede, durchaus.

    Heinemann: Man hat ja auch lange Zeit gesagt, dass die französischen Historiker für Leserinnen und Leser schreiben, während die deutschen mehr sich an ihresgleichen richten. Lebt die Zunft hierzulande immer noch ein bisschen im Elfenbeinturm?

    Lautzas: Elfenbeinturm würde ich auf keinen Fall sagen. Das sagte ich eingangs schon, dass hier eine sehr starke Öffnung und schon sehr lange erfolgt ist. Aber sagen wir mal, was die Schreibtradition betrifft, da hat uns Frankreich und auch die angelsächsische Wissenschaft schon noch ein bisschen was voraus, obwohl es inzwischen sehr viele sehr zuverlässige und sehr gut lesbare Werke gibt.

    Heinemann: Wie kommt es zu diesem Vorsprung in den beiden genannten Ländern?

    Lautzas: Das ist jetzt schwer zu sagen. Das hängt auch sicher mit der Wissenschaftstradition zusammen, mit politischen Entwicklungen. Da bin ich ein bisschen überfragt im Moment.

    Heinemann: Sie haben eben den Auszug aus dem Film "Der Pauker" mitgehört, das war wie gesagt aus dem Jahr 1958: das Abfragen von Jahreszahlen, von Schlachten, von Ereignissen. Was hat sich seither in der Schule verändert?

    Lautzas: Sehr viel kann ich da nur sagen.

    Heinemann: Zum Glück!

    Lautzas: Man kann sich das nur als humoristische Karikatur inzwischen vorstellen.

    Heinemann: Aber das gab es!

    Lautzas: Durchaus! Ja, ja, da haben Sie recht, und es ist ja auch noch gar nicht so lange her, wenn man so will. Also was hat sich geändert? – Erstens mal natürlich der Umgang zwischen Lehrer und Schüler, der durchaus sehr intensiv partnerschaftlich und längst nicht mehr autoritär gegenüber ist, wie das in dem Ausschnitt zu sehen war. Dann natürlich auch die Inhalte total. Es gibt erstens mal kein Pauken mehr von Jahreszahlen, wobei natürlich ein gewisses Gerüst da sein muss an Wissen, aber kein Pauken von Zahlen. Das Nächste: kein autoritäres Abfragen, sondern ein miteinander Erarbeiten. Dann die Themen nicht mehr so stark auf politische und Militärgeschichte konzentriert, wie das vielleicht noch in den 50er-Jahren schwerpunktmäßig der Fall war. Neue Themen, gegenwartsbezogene Themen, die vor allen Dingen der politischen Bildung nützlich sind und unter dem Hauptziel stehen. Also insofern ist eine ganz andere Welt heute im Unterricht vorhanden.

    Heinemann: Hat das Internet die Vermittlung von Geschichte verändert?

    Lautzas: Noch nicht in dem wünschenswerten Ausmaß, würde ich mal formulieren. Sicher natürlich schon vieles, aber, sagen wir mal, die Verbindung zwischen Schülern, die das sehr rege nutzen, und der unterrichtlichen Verwertung, da arbeitet ja auch unser Verband sehr stark dran und hat auch schon Vorschläge vorgelegt, zusammen mit dem ZDF und dem MDR beispielsweise. Aber es ist noch nicht in dem wünschenswerten Ausmaß realisiert, wie das möglich wäre, denke ich mir.

    Heinemann: Muss man – Stichwort ZDF – für junge Menschen heute verstärkt Texte in Bilder übersetzen?

    Lautzas: Unbedingt! Vielleicht nicht übersetzen, aber jedenfalls geht die Wahrnehmung ganz stark und auch die Rezeption ganz stark über die Bilder natürlich, auch über die, sagen wir mal, besonderen Sprachmustern und Wahrnehmungsmuster etwa des Internets, zerhackt in kleine Informationseinheiten und so weiter. All diese Entwicklungen müssen wir zur Kenntnis nehmen und müssen darauf reagieren und sie nutzbar machen für die Erziehung.

    Heinemann: Herr Lautzas, helfen oder stören historische Romane, zum Beispiel Werke von Dan Brown?

    Lautzas: Keineswegs! Im Grunde genommen stört nichts, auch wenn es noch so schräg ist. Voraussetzung ist nur, dass es kritisch bearbeitet, zur Kenntnis genommen und aufgearbeitet wird, damit, sagen wir mal, eine kritische Aneignung der vorhandenen Themen, Stoffe, Probleme möglich wird.

    Heinemann: Wie stellen Sie sich Geschichtsunterricht, einen guten Geschichtsunterricht in, sagen wir mal, 50 Jahren vor?

    Lautzas: Du lieber Gott! Ich hoffe, dass ich dann nicht mehr da bin.

    Heinemann: Hoffentlich doch!

    Lautzas: Ja gut, vielen Dank. – Ja, sicher ganz stark individualisiert, sicher noch stärker partnerschaftlich ausgerichtet, sicher mit veränderter Lehrer-Schüler-Rolle, die noch stärker sich in die Richtung entwickeln könnte oder müsste, dann auch unter stärkerem Einbezug der Medien um einen herum, also vor allen Dingen Internet und visuelle Medien, und dann auch natürlich mit stark veränderten Themen, die sich dann an den zentralen Problemen der Gegenwart in 50 Jahren orientieren müsste. Insofern, glaube ich, würde man die Zeit kaum wiedererkennen im Verhältnis zu heute.

    Heinemann: Peter Lautzas, der scheidende Vorsitzende des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören nach Mainz!

    Lautzas: Bitte schön! Auf Wiederhören.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.