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"Es handelt sich nicht um Einzelfälle"

Offenbar wird die Medizin-Branche von einem System verdeckter Prämien durchzogen. So sollen Hausärzte dafür bezahlt worden sein, dass sie Patienten an bestimmte Kliniken überwiesen haben. Der Bundestagsabgeordnete Karl Lauterbach (SPD) fordert eine Meldestelle für derartige Fälle.

Karl Lauterbach im Gespräch mit Jasper Barenberg |
    Jasper Barenberg: Und am Telefon ist jetzt der SPD-Bundestagsabgeordnete und Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach. Einen schönen guten Morgen!

    Karl Lauterbach: Guten Morgen, Herr Barenberg!

    Barenberg: Herr Lauterbach, von Hunderttausenden von Fällen reden die einen, von Einzelfällen die anderen. Haben wir es mit einem flächendeckenden Betrug zu tun?

    Lauterbach: Das weiß man zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Es ist auf jeden Fall klar, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, weil zu viele Mediziner darüber berichten, und zwar sowohl niedergelassene Ärzte als auch Kliniken. Also, man darf nie vergessen, es sind ja jetzt nicht die Patienten, die sich beklagen oder die Krankenkassen, sondern diese Praxis wird ja kolportiert von Ärzten selbst, von Ärzten, die nicht mitmachen wollen oder von Kliniken, die nicht zahlen wollen. Somit, glaube ich, ist das Phänomen zum einen neu und zum Zweiten kein Einzelfallphänomen. Ich glaube, dass der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung es sich hier zu leicht macht, indem er sagt, das Ganze sei Quatsch. Also, das ist schon ernstzunehmen und es ist aber richtig, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht genau wissen, wie umfänglich das Problem ist. Die Bundesärztekammer hatte ja zuerst sogar von bis zu 30 Prozent der Fälle gesprochen, das halte ich allerdings für bei weitem überzogen.

    Barenberg: Wie funktioniert das System verdeckter Prämien im Einzelfall?

    Lauterbach: Na ja, es gibt zum einen eine, also, legale Form der Prämienzahlung, das ist die integrierte Versorgung, da wird einfach dafür bezahlt, dass zusammengearbeitet wird. Dann gibt es aber zwei andere Formen, die sind gefährlich. Die eine Form ist die, wo ein Vertrag der integrierten Versorgung einfach die Bestechung nur deckt. Das heißt, in dem Vertrag wird beschrieben, dass zusammengearbeitet wird zwischen der Klinik und der Praxis, diese Zusammenarbeit besteht aber nur im Vertrag, auf dem Papier sozusagen, in Wirklichkeit wird für die Überweisung eine Fangprämie bezahlt. Und die andere Form, die ist noch gefährlicher: Es gibt gar keinen Vertrag, es wird schlicht und ergreifend von dem Krankenhaus verlangt oder von der Abteilung verlangt, dass ein Kick-Back bezahlt wird, ohne dass die Leistung erbracht wurde. Das kann zum Beispiel so funktionieren, dass der Patient abgerechnet wird, obwohl er diesen niedergelassenen Arzt nie gesehen hat oder indem eine Vergütung bezahlt wird, die überhaupt nicht dokumentiert wird, sozusagen schwarz.

    Barenberg: Wie kann ich denn als Patient unterscheiden zwischen einer sinnvollen Zusammenarbeit zwischen Arzt und Krankenhaus, einer legitimen und einem Betrugsversuch?

    Lauterbach: Als Patient hat man – das ist das Beunruhigende an dieser Sache –, hat man im Prinzip überhaupt keine Chance, daher bin ich der Meinung, dass hier der Gesetzgeber gefordert ist. Ich würde auch davor warnen, dass wir uns hier allzu sehr auf die Selbstverwaltung der Ärzteschaft in der Lösung des Problems verlassen, denn das Problembewusstsein scheint nicht ausreichend ausgeprägt zu sein. Wenn also der Arzt Sie überweist in eine Klinik, die er Ihnen empfiehlt, und er macht das, weil er dafür Geld bekommt, dann haben Sie als Patient keine Chance, das aufzudecken. Es kann nur dem Problem begegnet werden, indem die Krankenkassen, die Verbraucherschutzorganisationen und die Patienten selbst sich bei jeder Einweisung für einen größeren Eingriff zumindest unabhängig informieren, das ist übrigens sinnvoll, selbst wenn es dieses Problem nie gäbe. Für mich ist es immer wieder eine Überraschung zu sehen, wie präzise ein Autokäufer sich informiert, wenn er einen Neuwagen kauft, und wie unkritisch er in die nächste Klinik geht, wenn er einen großen Eingriff vor sich hat und sich hier auf die einzelne Empfehlung eines Hausarztes verlässt, wo er nicht genau weiß: Wie gut kennt der Hausarzt die Klinik überhaupt, was wären die Alternativen gewesen und, also, eben welche Abhängigkeit besteht, also, hier die Klinik und die Praxis miteinander.

    Barenberg: Sie haben gesagt, die Gesetze müssen verschärft werden. Wo würden Sie da ansetzen wollen? Das steht im Übrigen auch im Gegensatz zu dem, was die Gesundheitsministerin sagt. Ulla Schmidt sagt, dass die Gesetze ausreichen.

    Lauterbach: Ulla Schmidt sagt zunächst einmal, dass bestehende Gesetze stärker genutzt werden müssen und da stimme ich ihr voll und ganz zu. Man muss allerdings, aus meiner Sicht zumindest, darüber nachdenken, ob man zwei Dinge ergänzt. Zum einen könnte man eine Art Meldestelle einrichten bei den Landesbehörden, wo man sich melden kann, wenn einem Verdachtsfälle zugetragen werden. So eine Meldestelle hätte zur Konsequenz, dass zum Beispiel Krankenhausärzte, die das System nicht mögen, sich anonym melden können bei der Meldestelle und geben Verdachtsfälle weiter, sodass die Praxis einfach stärker ins Licht gezerrt wird. Dann haben wir sehr viel schneller einen Überblick, wie oft passiert das? Zum Zweiten, wir haben das folgende Problem: Wir haben an und für sich in Deutschland die besten Daten zur Qualität von Krankenhäusern in Europa, wir haben einen ausgezeichneten, sehr umfänglichen Datensatz, den sogenannten BQS-Datensatz, das sind Daten, die routinemäßig erhoben werden zur Qualität der Krankenhäuser bei den wichtigsten Eingriffen. Und die Krankenkassen nutzen diesen Datensatz genau wie Verbraucherschutzorganisationen viel zu wenig. Wir haben einen erstklassigen Datensatz, der kaum genutzt wird für die Patientenberatung. Und wir könnten uns auch überlegen, dass wir die Krankenkassen verpflichten, bei großen Eingriffen die Patienten vorab zu informieren, also bevor der Eingriff gemacht wird, wie die Krankenhäuser in der Nähe abgeschnitten haben bei diesen Leistungen. Die Krankenkassen selbst sind, aus meiner Sicht zumindest, zu träge bei der Nutzung dieser sehr wertvollen Informationen, die ja mit sehr viel Aufwand – und sehr viel Geld im Übrigen – zusammengetragen wird.

    Barenberg: Was ja ein wenig verwundert, Herr Lauterbach, ist, dass auf der einen Seite auf dem Tisch zu liegen scheint – jedenfalls gehen alle Hinweise in diese Richtung –, dass es in einem größeren Umfang Betrug in der beschriebenen Weise gibt, und auf der anderen Seite hören wir nicht von staatsanwaltlichen Ermittlungen, von Anzeigen vor irgendeiner Ärztekammer. Gibt es keine Belege, oder wo hat dieses System der Selbstkontrolle versagt?

    Lauterbach: Wir haben das gleiche Phänomen hier über Jahre hinweg in der pharmazeutischen Industrie gehabt, über Jahre hinweg haben also die Hersteller von Generika beispielsweise Naturalrabatte bezahlt an Apotheker und an Ärzte, und erst vor ganz kurzer Zeit sind die Staatsanwaltschaften hier eingestiegen und jetzt ist es auch zu Verurteilungen gekommen. Das heißt, das dauert immer eine Zeit lang, bis dort ausreichend recherchiert ist. Zum Zweiten: Es gibt bisher keine risikolose Möglichkeit für eine Klinik oder eine Praxis, die Praxis also abzulehnen und kundzutun. Sie müssen sich vorstellen, wenn eine Klinik das beispielsweise ablehnt, so etwas jetzt zu zahlen, dann wird sie von den Ärzten, die das Angebot gemacht haben, keinen einzigen Patienten mehr sehen, das heißt also, die wirtschaftlichen Abhängigkeiten von Kliniken und Ärzten sind dort, wo das praktiziert wird, ohnedies sehr groß und dass das Bewusstsein bei den Standesorganisationen gering ist, beispielsweise bei der Kassenärztlichen Vereinigung selbst, das hat gestern sehr eindrucksvoll der Vorsitzende Herr Köhler selbst noch mal in den Vordergrund gestellt, indem er schlicht gesagt hat, das Ganze sei Quatsch. Ich glaube, hier nehmen die Ärzteorganisationen das Problem, welches aus der Sicht der Patienten ein großes Problem ist, einfach nicht ernst genug und daher kommt von daher keine Selbstanzeige oder da kommt keine Zuarbeit.

    Barenberg: Der SPD-Bundestagsabgeordnete und Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach heute Morgen live im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch!

    Lauterbach: Ich danke Ihnen!