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"Es ist ein Unding, dass wir in Deutschland diese Masernausbrüche hatten"

Der Präsident des Robert-Koch-Instituts Reinhard Burger erwartet für Deutschland keine Impfpflicht. Durch die Ständige Impfkommission (STIKO) würden vor allem Leitlinien zum Impfschutz zusammengefasst. Damit hätte man den derzeit maximal möglichen Schutz vor bestimmten Infektionskrankheiten.

Reinhard Burger im Gespräch mit Christiane Kaess |
    Christiane Kaess: Die ständige Impfkommission, kurz STIKO, kommt heute wieder mit ihren jährlichen Impfempfehlungen heraus. Eine überwiegende Mehrheit folgt diesen Empfehlungen und lässt ihre Kinder nach dem empfohlenen Schema impfen. Aber es gibt auch Nachlässigkeit und es gibt überzeugte Impfgegner. Zuletzt kamen sie, nach etlichen Ausbrüchen von Masern, stark in die Kritik. Viel zu wenige, so der Vorwurf, ließen ihre Kinder gegen die nicht ungefährliche Krankheit immunisieren. Am Telefon ist Professor Reinhard Burger, Präsident des Robert-Koch-Instituts. Guten Morgen!

    Reinhard Burger: Guten Morgen!

    Kaess: Herr Burger, was ist neu am aktuellen Impfkalender?

    Burger: Es sind einige Änderungen im Detail durchgeführt worden, und es ist eine neue Impfung empfohlen worden, nämlich eine Impfung gegen Rotaviren bei Säuglingen. Das ist ein viraler Erreger, der zu sehr häufig zu Magen-Darm-Infektionen bei Kleinkindern führt. Und diese Impfung wird ab jetzt empfohlen. Das ist eine echte Neuerung.

    Kaess: Warum ist es so wichtig, schon Säuglinge dagegen impfen zu lassen?

    Burger: Bei Säuglingen ist weniger der Schweregrad das Entscheidende, sondern es sind einfach sehr viele Kinder betroffen und es führt auch häufig zu Einweisungen ins Krankenhaus. Diese doch schwere Belastung für das Kleinkind, das möchte man vermeiden.

    Kaess: Welche Belastung bedeutet die Impfung für den Säugling? Gibt es auch da Nebenwirkungen, die zu befürchten sind?

    Burger: Bei allen empfohlenen Impfungen steht das Verhältnis zwischen Nutzen für den Impfling und etwaigen seltenen, in aller Regel sehr seltenen Nebenwirkungen sehr weit auf der Seite des Vorteils, des Nutzens, des Schutzes, deswegen ist eben die Impfung empfohlen. Impfungen, wo Bedenken wären wegen Nebenwirkungen, würden letztlich nicht empfohlen.

    Kaess: Es scheint, Herr Burger, auch Änderungen bei den Empfehlungen zur Grippeimpfung zu geben – was gibt es da Neues?

    Burger: Hier ist eine Änderung, dass auch Personen sich jetzt impfen lassen sollen, die Risikopatienten betreuen. Also Personen, bei denen ein hohes Risiko für eine schwere Infektion besteht. Zum Beispiel Immundefekte als Folge einer Chemotherapie oder angeborene Immundefekte. Hier sollen also das Pflegepersonal oder die betreuenden Angehörigen geschützt sein, damit sie diese besonders gefährdeten Patienten nicht anstecken, also gefährden.

    Kaess: Warum ist das gerade in Bezug auf die Grippe so wichtig?

    Burger: Die Influenza, also die echte Grippe, ist eine schwere Infektion. Sie führt nicht nur zu schwerer Krankheit, sondern auch zu Todesfällen. Das möchte man vermeiden.

    Kaess: Herr Burger, würden Sie sagen, es gibt einen Trend hin zu immer mehr Impfempfehlungen?

    Burger: Es werden immer bessere, neuere Impfstoffe entwickelt, und wenn eine kritische Prüfung, also wirklich eine Prüfung der Wirksamkeit und der Sicherheit dazu führt, dass hier ein deutlicher Nutzen entsteht, dann wird man auch diesen Impfstoff empfehlen, zumal man zunehmend auch Hinweise erhält, dass Erreger, vor allen Dingen virale Erreger auch Ursache für Tumorerkrankungen sein können. Also wie am Beispiel Humanpapillomviren, hier besteht ein Zusammenhang zum Gebärmutterhalskrebs der Frau.

    Kaess: Es gibt auf der anderen Seite ganz konkrete Argumente gegen Impfungen. Wir hören uns mal an, was Georg Soldner – er ist Kinderarzt in München und Mitglied der Gesellschaft anthroposophischer Ärzte – was er im Deutschlandfunk gesagt hat.

    "In den letzten 40 Jahren hat sich bei Kindern in westlichen Industriestaaten die Rate an Asthma, Neurodermitis, aber auch frühkindlichem Diabetes und chronisch entzündlichen Darmerkrankungen im Schnitt vervierfacht. Das bedeutet, immer mehr Kinder erreichen im Alter von zwei bis drei Jahren keine gesunde Selbstregulation des Immunsystems. Die Frage ist, kann das Immunsystem der Kinder in westlichen Industriestaaten ausreichend Hausaufgaben machen in der frühkindlichen Entwicklung, um eine gesunde Selbstregulation zu erreichen."

    Kaess: Das sagt Georg Soldner von der Gesellschaft anthroposophischer Ärzte. Herr Burger, kann denn das Immunsystem mit den vielen Impfungen seine Hausaufgaben noch machen?

    Burger: Das Immunsystem des Menschen ist zum Glück sehr leistungsfähig und vielfältig. Wir leben mit Millionen möglicher Antigene, also die eine Immunreaktion auslösen können. Und der Mensch kommt mit seinen ganzen Erregern aus der Umwelt gut zurande. Die letztlich paar wenigen Impfantigene, die man für Impfungen verwendet, fallen da praktisch nicht ins Gewicht. Und dieser Kommentar, den Sie jetzt einspielen, ist wieder ein schönes Beispiel, wie man etwas ohne wirklichen Beleg in den Raum stellt und damit Menschen verunsichert. Der Weg, der bei den Impfempfehlungen beschrieben wird, ist eben eine sehr deutliche Prüfung von Vor- und Nachteilen und ein deutliches Abwägen, und man spricht dann evidenzbasierte Empfehlungen aus, die also wirklich auf klaren Hinweisen und kausalem Zusammenhang beruhen, und stellt nicht etwas einfach in den Raum.

    Kaess: Aber auch das haben Sie schon kurz angesprochen, auch die Schutzimpfungen haben Nebenwirkungen. Was kann denn die schlimmste Folge der von der STIKO empfohlenen Impfungen sein?

    Burger: Es gibt selbstverständlich wie bei allen medizinischen Maßnahmen sehr selten einmal Nebenwirkungen, das kann auch eine neurologische Erkrankung sein. Die meisten Nebenwirkungen, die aber auftreten oder wahrgenommen werden, sind lokale Reaktionen an der Injektionsstelle, also Rötungsschwellungen, Schmerz für ein, zwei, drei Tage. Das sehe ich nicht als nennenswerte Nebenwirkungen an. Es ist einfach ein Beleg für die Immunreaktion, die in Gang kommt durch den Impfstoff.

    Kaess: Gibt es im schlimmsten Fall auch Todesfälle, die auf Impfungen zurückgehen können?

    Burger: Es kann auch in einzelnen Fällen auch mal Todesfälle geben, das sind sehr seltene, sehr seltene Ereignisse.

    Kaess: Herr Burger, wäre ein Mittelweg auch denkbar, nämlich, dass man ein Kind nur dann impfen lässt, wenn das auch wirklich nötig ist? Also die Frage ist, brauchen wir nicht eine individuelle Entscheidung anstatt fester Impfschemen, wie die STIKO sie vorstellt?

    Burger: Die Impfungen haben praktisch mehrere Komponenten als Ziel. Es ist zum einen der Schutz des betroffenen Impflings vor zum Teil schweren Infektionskrankheiten, also der individuelle Schutz. Und das Wichtige bei einer gut organisierten Impfung ist aber auch, dass damit indirekt andere Menschen geschützt werden, die keinen ausreichenden Impfschutz haben, zum Beispiel, weil sie nicht geimpft werden können wegen einer Grunderkrankung, oder Säuglinge oder Patienten mit einer Chemotherapie. Damit wird also auch eine sogenannte Herdenimmunität für die anderen Menschen damit indirekt bewirkt, wenn keine Kontaktpersonen ansteckend sind, sind auch diese wenigen Ungeimpften geschützt, oder Schwangere zum Beispiel. Und im Extremfall kann ein gutes Durchimpfen sogar dazu führen, dass man den Erreger ganz eliminieren kann von der Erdoberfläche, wie es bei den Pocken gelang und wie man jetzt vielleicht bei der Kinderlähmung, beim Poliovirus es erreichen kann.

    Kaess: Aber noch mal zurück zu meiner Frage nach festen Impfschemen. Die Empfehlungen der STIKO haben ja einen Leitliniencharakter, das heißt, ein Vertragsarzt, der sich daran nicht hält, dem kann im Einzelfall sogar die Zulassung entzogen werden. Haben wir dadurch nicht indirekt eine Impfpflicht?

    Burger: Nein. Das sehe ich nicht so. Wir werden in Deutschland vermutlich keine Impfpflicht haben, sondern das ist die individuelle Freiheit. Sondern hier wird praktisch der Stand des Wissens in diesen Leitlinien zusammengefasst, wenn man diese beachtet, hat man den derzeit maximal möglichen Schutz der betroffenen Kinder und Erwachsenen vor diesen Infektionskrankheiten. Es ist der Stand der Wissenschaft und der aktuelle Stand des Wissens, der hier zusammengefasst wird.

    Kaess: Würden Sie sich eine Impfpflicht wünschen mit Hinblick auf die hitzige Diskussion, die wir hatten über die Masernfälle?

    Burger: Nein, ich setze hier mehr auf Aufklärung. Und ich glaube, hier ist Nachholbedarf. Das beginnt mit der Ärzteschaft. Es kann an sich nicht angehen, dass wegen diffuser Hypothesen Ärzte die Impfung nicht ihren Patienten gegenüber nachdrücklich vertreten. Und auch Aufklärung der Bevölkerung, um deutlicher zu machen, welchen Vorteil sie und vor allen Dingen ihre Kinder von der Impfung haben. Es ist ein Unding, dass wir in Deutschland diese Masernausbrüche hatten, weil einige wenige ideologisch beeinflusste Schulformen oder Kinderärzte nicht ausreichend impfen. Das ist eine Infektion, die keine harmlose Kinderkrankheit ist, sondern sie führt zu Todesfällen in einer relativ hohen Häufigkeit, Größenordnung von 1 zu 1000, und sie ist durch eine ungefährliche, wirksame Impfung zu verhindern. Es kann an sich nicht angehen, dass so eine Situation fortbesteht.

    Kaess: Sagt Professor Reinhard Burger, er ist Präsident des Robert-Koch-Instituts. Die Ständige Impfkommission bringt heute ihre regelmäßigen Impfempfehlungen heraus, und darüber haben wir gesprochen. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen!

    Burger: Bitte sehr!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.