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"Es ist eine unglaubliche Hysterie"

Neun Jahre hat Jonathan Franzen an seinem Buch "Freiheit" gearbeitet. Iris Radisch, Literaturkritikerin der "Zeit", berichtet, dass die deutschen Rezensenten über Nacht das Buch lesen mussten und weiß von der kritischen Haltung Franzens gegenüber der Marketingkampagne für sein Buch.

Tobias Armbrüster im Gespräch mit Iris Radisch | 08.09.2010
    Tobias Armbrüster: Wenn Sie heute an einer Buchhandlung in Deutschland vorbeigehen oder das Feuilleton einer Zeitung aufschlagen, dann kann es gut sein, dass Sie dort ein dickes, sehr dunkel gehaltenes Buch mit dem Titel "Freiheit" sehen. Das ist der neue Roman des US-Autor Jonathan Franzen. Franzen gilt seit zehn Jahren als einer der ganz großen amerikanischen Schriftsteller unserer Zeit. Vor neun Jahren wurde er mit seinem Roman "Korrekturen" weltweit bekannt, es war ein weltweiter Bestseller.

    Am Telefon kann ich jetzt mit der Literaturkritikerin der "Zeit", mit Iris Radisch sprechen. Schönen guten Morgen, Frau Radisch.

    Iris Radisch: Guten Morgen.

    Armbrüster: Was macht diesen Autor Jonathan Franzen so besonders, zu so einem besonderen Schriftsteller?

    Radisch: Ich denke, dass er so zum Held der amerikanischen und jetzt ja auch schon fast der deutschen Literatur avanciert liegt daran, dass seine Romane wieder in die Mitte der Gesellschaft zurückführen. Es sind amerikanische Familienromane. Franzen enthält sich ganz bewusst aller literarischer Avantgardismen, er schreibt wieder einen Stil, den er selber für anschlussfähig erklärt an breite Leserschichten. Das alles macht es sicher aus, dass man ihn so auch ins Zentrum der Literatur rückt. Die amerikanische Familie und ihre Befindlichkeit, die ist ja wirklich so etwas wie ein Maßstab der Literatur, nicht nur der amerikanischen, sondern eigentlich auch der deutschen.

    Armbrüster: Franzen schreibt, Sie sagen es, groß angelegte Familienromane. Sein letztes Buch war einer und auch "Freiheit" gehört wieder in dieses Genre. Ist das nicht eigentlich ein Format des 19. Jahrhunderts?

    Radisch: Ja, das ist schon wahr. Nur: es hat die Familie ja nicht aufgehört zu existieren, und er begleitet ihre Krisen. Wenn es in den "Korrekturen" eher um das Auseinanderfallen, Auseinanderdriften der Familienstrukturen ging, ist dies ja wohl ein Roman, der Hoffnung geben will, der Wege zeigen will, der vielleicht sogar Therapien bieten will, wie die Familie wieder zusammenwachsen kann.

    Armbrüster: Sie haben mir jetzt, Frau Radisch, im Vorgespräch gesagt, dass Sie das Buch noch nicht gelesen haben, dass es aber Rezensenten gibt, die nur sehr wenig Zeit hatten, es zu lesen. Wie genau hat das funktioniert in den vergangenen Tagen?

    Radisch: Es ist eine unglaubliche Hysterie. Es gab in Deutschland die Möglichkeit, die deutsche Übersetzung am Donnerstagnachmittag vergangener Woche zu bekommen, und dann haben die meisten Rezensenten sicher die Nächte durchgelesen. Ich kann es nur von der Rezensentin der "Zeit" sagen; die hat die Nächte durchgelesen. Morgen wird ihre Rezension in der "Zeit" erscheinen, gestern hat sie sie fertig geschrieben. Also dieses Buch, an dem Jonathan Franzen neun Jahre gearbeitet hat, wird zumindest von den deutschen Rezensenten – und bei den Amerikanern war es aber nicht viel besser – innerhalb von zwei bis drei Tagen gelesen und bereits rezensiert.

    Armbrüster: Geht das denn überhaupt? Kann man sich in einer so kurzen Zeit wirklich ein umfassendes Bild von so einem 700, 800 Seiten Buch machen?

    Radisch: Ja. Was ich Ihnen versichern kann ist, dass die Rezensenten, zumindest die Rezensentin der "Zeit", aber da bin ich mir auch bei den anderen Kollegen sicher, das Buch wirklich Seite für Seite gelesen haben. Aber es ist schon wahr: für die zweite und dritte Überlegung, die ja so einem komplexen Werk sicher gut tut, ist natürlich keine Zeit, und das ist eine Hetze und eine Beschleunigung, die eigentlich nicht sein müsste, die natürlich was mit dem Literaturbetrieb zu tun hat. Dazu gehört auch, dass dieses Buch ja in Windeseile übersetzt wurde, weil Sie dürfen ja nicht vergessen, dass es auch erst vor ein paar Tagen auf dem amerikanischen Markt erschienen ist.

    Es ist also fast zeitgleich in Amerika und in Deutschland erschienen. Deswegen gibt es auch zwei Übersetzer, weil ein einziger Übersetzer hätte das überhaupt nicht geschafft, das so schnell ins Deutsche zu bringen. Auch da kann man fragen, muss das sein, muss ein Buch nicht aus einer Hand übersetzt werden, ist das denn gut, sich in einen solchen Zeitdruck zu begeben.

    Armbrüster: Nun gilt ja Jonathan Franzen allgemein als so ein etwas nachdenklicher Autorentyp. Meinen Sie, er ist einverstanden mit so einer Marketingkampagne?

    Radisch: Nein. Er hat sich ja auch schon davon distanziert. Und dass er sozusagen zur Titelfigur der "Times" wurde, das ist ihm, glaube ich, selbst unheimlich. Er scheint ein Autor zu sein, der diese Maschinerie nicht unbedingt von sich aus bedient. Aber natürlich hat er sich mit der Art seines Schreibens, mit seinen Themen eben selbst in die Mitte der Literatur begeben, und da kommt er natürlich nicht darum herum, dass er in diese Rezeption und dass er auch in diese Mühlen und dass er in diese Maschinen gerät.

    Armbrüster: Das Buch, wir haben es angesprochen, hat mehr als 700 Seiten. Ist das eigentlich ein Trend, dass gerade diese großen voraussichtlichen Bestseller immer dicker werden?

    Radisch: Ja. Ob das ein Trend ist, weiß ich nicht, aber Sie haben natürlich Recht. Wenn man das große Buch von Wallace nimmt, war das ganz ähnlich. Die "Korrekturen" waren so dick. Auch deutsche Autoren, denken Sie nur an den "Turm" von Uwe Tellkamp. Das ist auch ein Buch, was sehr, sehr dick war. Das liegt natürlich daran, dass da ganze Universen entworfen werden, dass es also wirklich darum geht, eine möglichst komplette, fast eine Eins-zu-Eins-Sicht auf ein gesellschaftliches Segment zu bieten, und natürlich – das muss man auch sehen – vielleicht sich in Konkurrenz zu begeben zu den Fernsehserien, die ja wirklich eine ganz große Konkurrenz für die Literatur sind, weil sie eigentlich das schaffen, was Balzac wollte, ein breites Spektrum aus der Gesellschaft abzuerzählen. Das hat das Fernsehen der Literatur ein Stück weit abgekauft und die Literatur versucht, es zurück zu erobern und bei Franzen offenbar mit einigem Erfolg.

    Armbrüster: Hier bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk war das Iris Radisch, die Literaturkritikerin der "Zeit". Vielen Dank für das Gespräch, Frau Radisch.