Samstag, 18. Mai 2024

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"Es ist für mich ein Dogma, dass Gerhard Schröder Bundeskanzler wird"

Nach Aussagen des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Sozialdemokraten, Ludwig Stiegler, will seine Partei dafür kämpfen, dass Gerhard Schröder Kanzler bleibt. Nach Parteien gerechnet sei die SPD die stärkste Macht. Aus historischen Gründen würde die CDU und CSU automatisch als eine Fraktion angesehen, dies könne aber durch eine Änderung der Geschäftsordnung verändert werden, betonte Stiegler.

22.09.2005
    Heinlein: Bei mir am Telefon ist nun der Stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende, Ludwig Stiegler, guten Morgen.

    Stiegler: Schönen guten Morgen.

    Heinlein: Herr Stiegler, der Rausch der Niederlage ist vorbei. Nüchtern betrachtet: Die SPD hat drei Sitze weniger als die Union, das ist der zweite Platz. Warum wollen Sie Ihre Silbermedaille mit der Kanzlerschaft vergolden?

    Stiegler: Ich stelle fest, dass auch Sie falsch zählen. Wir haben hier Parteien im Wahlkampf gehabt, und nach Parteien gerechnet ist die SPD die stärkste Partei. Und die Union ist stärkste Fraktion nur, wenn die Sonderklausel für die Union weiter gilt, das heißt, wenn man CDU/CSU zusammenzählt, obwohl sie, wie sie heute an dem Gespräch mit der SPD-Spitze feststellen, als Parteien getrennt auftreten. Wir haben es hier immer damit zu tun, dass die Union sich immer das aussucht, was ihr am besten gerade passt. Wenn es günstig ist, treten sie als Parteien auf, wenn es günstiger ist als Fraktionen aufzutreten, treten sie als gemeinsame Fraktion auf, obwohl sie gar keine eigene Fraktionswillensbildung haben, sondern schon Friedrich Merz festgestellt hat, dass gerade in einer normalen Fraktion die Mehrheit entscheiden würde, während hier bei CDU/CSU letzten Endes dann doch wieder die Parteien durchbrechen. Also, die Dinge sind differenzierter als man sie gemeinhin glaubt.

    Heinlein: Also Herr Stiegler, diese besonderer Form der Wahlarithmetik ist ganz neu, so hat man bislang nicht gerechnet. Und CDU und CSU sind ja nicht erst seit Sonntag eine Fraktionsgemeinschaft. Nun berichtet die Süddeutsche Zeitung, die SPD plane mit einer Änderung der Bundestagsgeschäftsordnung, sich zur stärksten Fraktion zu machen. Was wissen Sie von diesen Plänen?

    Stiegler: Es gibt da keine Pläne. Sondern es gibt eben eine neue Betrachtung der Dinge. Man hat bisher das hingenommen, das ist früher irgendwann mal eingeführt worden; aber jetzt wird ja offensichtlich, dass eben die Union ein Spiel treibt und einmal als Partei, als Parteienduo auftritt und dann wieder als Fraktionsunion. Und ob alle anderen sich das gefallen lassen, das wird sich zeigen. Aber es gibt bisher keine Pläne, etwa die Geschäftsordnung zu ändern. Das greift den Dingen weit voraus; es wird nur darauf hingewiesen, dass es eben von der Anerkennung aller anderen ab, ob man die Union als eine Fraktion zusammenzählen kann nach der Unionsklausel, Sonderklausel in der Geschäftsordnung des Bundestages, die jederzeit mit einfacher Mehrheit abzuändern ist.

    Heinlein: Ist Ihnen der Machterhalt durch diese Neubetrachtung der Dinge wichtiger als die Einhaltung demokratischer Spielregeln, sie hieß ja in der Vergangenheit: Die stärkste Fraktion erhält den Regierungsauftrag, stellt den Kanzler.

    Stiegler: Sie reden sich da sehr, sehr leicht. Es geht nicht um einen Machtanspruch, sondern es geht letztlich um Inhalte. Die Union ist mit der FDP angetreten, den Sozialstaat einzureißen, wir haben diesen Durchmarsch verhindert. Und wir wollen die Bundesrepublik Deutschland als sozialen Rechtsstaat erhalten, und dafür muss man eine Mehrheit organisieren, die eben genau das nicht macht. Wenn Sie den Bundestag anschauen und die Tortengrafik anschauen, dann sehen Sie: Für die neoliberale Politik von Frau Merkel und von Herrn Stoiber gibt es keine Mehrheit. Und wenn Sie genau hinschauen, sehen Sie auch schon, dass das Gebälk zwischen CDU und CSU durchaus knistert und dass auch die Absetzbewegungen der CSU in München durchaus zu beobachten sind.

    Heinlein: Wie wollen Sie, Herr Stiegler, denn diese Ziele erreichen? Denn allein hat Rot-Grün keine Mehrheit, mit der CDU wollen sie nicht reden, weil Frau Merkel auch Kanzler bleiben will. Und die FDP will schon gar nicht mit Ihnen reden.

    Stiegler: Wieso, wir reden doch mit der CDU. Und die werden sich auch die Lage genau anschauen. Und Sie greifen den Dingen weit vor. Wir haben nicht einmal eine Woche nach der Bundestagswahl, alle sind noch auf den Barrikaden. Und deswegen wird man sehen, was die nächsten Wochen ergeben. Also zu glauben, man würde so etwas über Nacht machen können, das ist doch ein Kinderglaube. Aber es geht um die Grundfrage. Die SPD hat sich durchgesetzt gegen diese Angreifer auf den Sozialstaat FDP und CDU/CSU. Und sie muss jetzt gerade auch den Menschen, die der SPD und Gerhard Schröder in den letzten Wochen nach tiefen Umfragenergebnissen wieder ein gutes Ergebnis gegeben haben, muss auch ihren Auftrag erfüllen. Es geht uns ja darum, dass hier die Republik künftig vernünftig ausgerichtet wird und eben nicht diesen Systemveränderern ausgeliefert wird.

    Heinlein: Herr Stiegler, sind Sie denn, um ihre Ziele verwirklichen zu können, notfalls bereit, Gerhard Schröder zu opfern? Sollte die Union dann im Gegenzug auf Angela Merkel verzichten? Ihr Genosse Klaus Wowereit hat ja durchaus in diese Richtung gedacht?

    Stiegler: Die SPD ist das, was sie heute ist, mit Gerhard Schröder und mit Franz Müntefering. Und die SPD ist eine sehr solide, solidarische und auch machtbewusste Partei. Und natürlich werden wir dafür kämpfen, dass Gerhard Schröder Bundeskanzler bleibt. Und dafür muss man Geduld, Stehvermögen haben. Gerhard Schröder hat es uns vorgelebt.

    Heinlein: Sie werden dafür kämpfen, aber es ist kein Dogma...?

    Stiegler: Ich habe Sie nicht verstanden.

    Heinlein: Sie werden dafür kämpfen, haben Sie gesagt, aber es ist kein Dogma, über das nicht verhandelt werden kann?

    Stiegler: Es ist für mich ein Dogma, dass Gerhard Schröder Bundeskanzler wird. Das ist für uns - da können Sie versuchen mit Nadeln oder mit Brechstangen anzusetzen, sie werden die SPD nicht spalten. Auch wenn irgend ein Mensch sich dann komisch äußert und hinterher wieder alles einsammeln muss. Das haben wir immer in der Politik, dass man versuchen kann, aus einer missverständlichen Äußerung was zu machen. Wem wäre das nicht schon passiert? Und deshalb, gehen Sie davon aus: Die SPD-Bundestagsfraktion - und auf die allein kommt es an - steht hinter und vor ihrem Kanzler Gerhard Schröder. Ohne Gerhard Schröder hätte die SPD-Bundestagsfraktion diese Stärke und damit diese Gestaltungsmöglichkeit nicht erreicht und wir haben begeistert mit dem Kanzler gekämpft.

    Heinlein: Herr Stiegler, welchen Sinn machen dann die Gespräche heute mit der Union, wenn beide Seiten an ihrer Führungsrolle in einer mögliche große Koalition festhalten?

    Stiegler: Ja meine Güte, man legt die gegenseitigen Argumente auf den Tisch und auch die entsprechenden Optionen, die jede Seite hat. Und das wird man dann anschauen, das sind harte Verhandlungen. Und auch die Union muss wissen, ihr Anspruch, quasi einmal hier als Fraktion und einmal als zwei Parteien anzutreten und dabei anerkannt zu werden, dieser Anspruch hängt von der Anerkennung der anderen ab, und der hängt nicht von ihrem eigenen Willen ab. Also deshalb wird die Union auch sich über die Grenzen ihrer Muskelpakete bewusst sein.

    Heinlein: Ganz kurz noch zur Ampel, das ist die andere Möglichkeit. Die FDP will nicht mit Ihnen reden, das ist ganz klar. Dennoch gibt es das Liebeswerben von Ihrer Seite. Haben Sie denn gar keinen Stolz?

    Stiegler: Es geht nicht um Stolz, sondern es geht darum, dass bestimmte Konstellationen herbeigeführt werden. Und Sie werden sehen: Auch in der FDP werden die Dinge flexibler gesehen werden. Es gibt ja schon innerhalb der CSU in München gewaltige Sorgen, dass die FDP doch zu einer Ampel bereit ist. Also auch von daher gesehen ist die Beurteilung der konservativen Parteien gegenüber der FDP hier sehr differenziert. Und schon Franz-Josef Strauß hat gesagt, das einzige Konstante an der FDP ist ihre Wandelbarkeit. Und deshalb muss man da nicht sozusagen drei Tagen nach der Wahl schon meinen, das sei fest gemauert in der Erden. Wir werden sehen, was davon nach einiger Zeit übrig bleibt. Und die FDP ist ja auch angetreten, eine große Koalition zu verhindern. Da wird es bald auch Mitglieder geben, die Fragen werden: "Wieso will man jetzt unbedingt eine große Koalition erzwingen?" Also - und auf der anderen Seite: Wir haben die Option, es gibt einen Vorrat von Gemeinsamkeiten mit CSU und CDU. Und es gibt auch eine Teilmenge von Gemeinsamkeiten mit der FDP, insbesondere in der Außen- und der Innen- und in der Rechts- und Gesellschaftspolitik. Also - und die steuerpolitischen Teile sind in beiden Konstellationen schwierig, also das ist wirklich eine, eine, eine Situation, in der sich Sondieren und Verhandeln lohnt.

    Heinlein: Herr Stiegler, in einem Satz: Werden wir schon vor der Konstituierung des neuen Bundestages Mitte Oktober wissen, wer uns regiert in Berlin?

    Stiegler: Das glaube ich nicht. Das wird noch länger dauern, das wird eine sehr schwierige Situation sein, zumal, wenn man erst einmal die Optionen abgeklopft hat und dann mit dem bevorzugten Partner in Verhandlungen eintritt wird das sehr, sehr schwierige Koalitionsverhandlungen geben, ganz gleich, in welcher Konstellation. Und hier ist noch viel, viel Arbeit und da werden noch viele, viele Nächte zugebracht werden müssen, um am Ende dann eine Regierung hinzukriegen, die dann auch wirklich das, was sie sich vorgenommen haben, kraftvoll abarbeiten kann und nicht hier ständig wieder kämpfen muss.

    Heinlein: Der SPD-Fraktionsvize, Ludwig Stiegler, heute morgen hier im Deutschlandfunk. Ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Stiegler: Wiederhören.