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"Es ist ganz schwer, dieser Zellen Herr zu werden"

Armut, Arbeitslosigkeit und Analphabetismus seien die Grundlagen der Frustration vor allem junger Araber. Sie seien darum anfällig für Extremismus und die Unterstützung von Terrorzellen, meint der Historiker, Publizist und Nahost-Experte Michael Lüders. Ihre Perspektivlosigkeit bilde einen ungeheuren Sprengsatz.

Moderation: Thomas Heyer | 10.07.2005
    Heyer: Wir tun alles für sie, doch wir wissen, es gibt sie nicht, die 100-prozentige Sicherheit. Nach den Anschlägen von London mit mehr als 50 Toten und 700 Verletzen, einige davon schwer, sie ringen immer noch um ihr Leben, da stellt sich die Frage, ob islamistische Terroristen in der Lage sind, die Welt in eine Art Dauerkriegszustand zu versetzten. Lange schien die Gefahr verdrängt, trotz der Anschläge in Istanbul und Madrid. Welche Großstadt ist die nächste? Welche ist der nächste Schauplatz? Wo werden die Mörder vom Donnerstag erneut zuschlagen? Das sind die Fragen. Sie sogenannten Kreuzfahrerstaaten sollen getroffen werden, wie voller Häme in einem Bekennerschreiben einer Gruppe, die sich Geheimorganisation El Kaida nennt, im Internet zu lesen war. Michael Lüders, Historiker, Publizist, Nahostexperte, welches Gefühl hat Sie denn beschlichen, als Sie am Donnerstag von dem Anschlag hörten?

    Lüders: Ja, ich war natürlich betroffen wie wir alle, denn man hatte ja gehofft, dass der Krieg gegen den Terror, der ja nun schon seit vier Jahren geführt wird, erste Resultate zeitigt, und genau das ist nicht der Fall. Gemäß der Logik des Antiterror-Krieges müsste es ja eigentlich gelungen sein, diese Form des Terrors abschließend zu besiegen. Aber davon kann nicht die Rede sein, ganz im Gegenteil hat man das Gefühl, dass gerade mit der Intensivierung des Krieges im Irak doch der Terror zugenommen hat in den letzten Jahren. Sie haben die Stationen genannt: Istanbul, Madrid, jetzt London. Und das war mit Sicherheit in London nicht der letzte Anschlag. Es wird weitergehen. Dieser Terror ist weit davon entfernt, ausgerottet zu sein, im Gegenteil, er erlebt immer wieder neue Blüten und das ist das Besorgnis erregende. Wir werden nicht umhin kommen, die bisherige Strategie im Kampf gegen den Terror zu überdenken und Ursachenforschung zu betreiben.

    Heyer: Warum ist denn dem Terrornetzwerk nicht beizukommen? Der Stellvertreter Osama bin Ladens, der wurde zwar verhaftet, Bin Laden selbst ist weiterhin untergetaucht, die Sympathisanten, die scheinen sich in aller Welt zu tummeln, warum ist hier nicht zwingend zu ermitteln?

    Lüders: Ich glaube, es hängt wesentlich damit zusammen, dass nach dem 11. September 2001 das Terrornetzwerk von El Kaida sich neu strukturiert und neu verfasst hat. Ursprünglich war es so, dass Osama bin Laden gewissermaßen der Drahtzieher in den Bergen des Hindukusch war, der Order gegeben hat für bestimmte Terroranschläge und der sozusagen der Mastermind war. Nichts ging ohne ihn. Das hat sich geändert seit dem 11. September. Und nun haben wir eine Situation, wo die jeweiligen Zellen weltweit in verschiedenen Ländern, weitgehend unabhängig voneinander, operieren. Diejenige Zelle, die jetzt in London zugeschlagen hat, muss nicht notwendiger Weise etwas wissen von denen, die in Madrid oder in Istanbul die Anschläge verübt haben und Osama bin Laden ist mit Sicherheit nicht mehr der Drahtzieher. Selbst wenn er morgen verhaftet oder getötet würde, dann würde dieser Terror dennoch weiter gehen. Er hat sich verselbstständigt und diese Verselbstständigung ist das große ermittlungstechnische Problem. Es ist ganz schwer, dieser Zellen Herr zu werden, weil sie nach außen hin rigoros abgeschottet sind. Sie sind in der Regel ausschließlich aus arabischem Milieu sich rekrutierend und sie lassen niemanden hinein, den sie nicht schon seit vielen Jahren kennen. Daher ist es fast unmöglich, diese Zellen zu penetrieren und die Sicherheitsdienste sind ahnungslos.

    Heyer: Von "Kreuzfahrerstaaten" war in dem Bekennerschreiben die Rede. Welche Reaktionen löst denn dieser Begriff in der arabischen Welt aus, "Kreuzfahrerstaaten"?

    Lüders: Der Begriff der "Kreuzfahrerstaaten" ist einer, der die Emotionen schüren soll, denn es ist so, dass die Kreuzzüge des Mittelalters als christliche Heere Richtung Jerusalem zogen, um diese Stadt den Muslimen wieder abzunehmen und das heilige Land vom Islam zurückzuerobern. Das ist immer noch ein kollektives Trauma, das bis heute nachwirkt und gleichzeitig ist es ja damals unter der Führung von Saladin gelungen, diese Kreuzfahrer zurückzuschlagen. Wenn also eine Terrorgruppe wie El Kaida von "Kreuzfahrerstaaten" redet, dann ist das ein Appell an die Muslime und zwar an die naiven und ungebildeten unter ihnen, zu glauben, dass der Westen, die Amerikaner, die Engländer und andere, die im Irak Krieg führen, nun also moderne Formen der Kreuzfahrer darstellen würden und die gelte es mit der selben Entschlossenheit zu bekämpfen, wie es damals Saladin getan hat. Man könnte sagen, El Kaida sieht sich in der Tradition von Saladin.

    Heyer: Es war heute morgen in den Nachrichten des Deutschlandfunks zu hören: Der jordanische König hat gefordert, die Frustration in der arabischen Welt zu bekämpfen. Viele junge Araber seien deshalb anfällig für Extremismus. Ist das so?

    Lüders: Ich würde ihm da uneingeschränkt Recht geben. Es gibt viele Gründe für die Ursachen des islamistischen Terrors. Einer ist die Unwissenheit und die Unbildung, die Tatsache, dass die arabischen Regime seit Jahrzehnten eigentlich wenig getan haben, um ihre eigene Bevölkerung mit Bildung zu versehen und ihnen damit eine Zukunft zu ermöglichen. Wenn man sich vorstellt, dass in Ägypten 60 Prozent der Bevölkerung Analphabeten sind, dann bekommt man eine Vorstellung von dem Dilemma. Und die Analphabetenquoten in den anderen arabischen Länder sind ähnlich hoch. Das heißt, es ist hier ein Rekrutierungsgrund gegeben, für Demagogen und Rattenfänger, die auf ungebildete Menschen natürlich eine große Anziehung haben, vor allem in Verbindung mit der großen wirtschaftlichen Krise. Die Hälfte der arabischen Bevölkerung ist jünger als 15 Jahre und die meisten dieser Menschen haben keinerlei Perspektive. Es ist also ein ungeheuerer Sprengsatz, der da ist, und hinzu kommen die politischen Frustrationen. König Abdullah erwähnte den israelisch-palästinensischen Konflikt, hinzu kommt der Krieg im Irak und der in Afghanistan. Diese drei Konfliktherde sind es, die die arabisch-islamische Welt ungeheuer emotionalisieren, weil man das Gefühl hat, dass der Westen, so verallgemeinernd dieser Begriff ist, dass aber doch der Westen eine Politik betreibe, die auf Kosten und auf dem Rücken der Muslime und der Araber ausgetragen werde.

    Heyer: Aber der Islam ist prinzipiell eine friedliche Religion. Was ist von muslimischer Seite denn zu tun, damit das islamistische Terrornetzwerk nicht weiter wächst?

    Lüders: Es gibt hier mehrere Maßnamen, allen voran müssen die Regierungen lernen, Verantwortung zu übernehmen in der arabischen Welt, das heißt, sie müssen insbesondere, wie es ja auch der Untersuchungsbericht der Vereinten Nationen für die arabische Welt in drei Ausgaben mittlerweile verlangt hat, zusammengestellt von arabischen Soziologen und Intellektuellen, die arabischen Regime müssen Verantwortung übernehmen und sie müssen vor allem in Bildung investieren, in Bildung, in Bildung und noch einmal in Bildung. Das ist das ganz große Dilemma. Die Welt wird immer globaler, wird ein globales Dorf und die arabische Welt gehört zu den Verlierern dieser Entwicklung. Sie ist abgekoppelt von der wirtschaftlichen Dynamik und es gibt zu viel sozialen Sprengsatz, zu viel Frustration. Das ist das Erste, was geschehen muss, und natürlich muss auch der Westen sich überlegen, ob er gut beraten ist, wenn er einerseits zu Recht Freiheit, Demokratie und Menschenrechte anmahnt in diesem Teil der Welt, andererseits aber dann doch immer wieder mit jedem Regime zusammenarbeitet, solange es nur irgendwie prowestlich ist. Das heißt, es werden nur solche Diktaturen angeprangert, die sich gegen westliche Interessen etwa im Ölbereich wenden, solche aber, die eng mit uns kooperieren, werden in aller Regel hofiert.

    Heyer: Der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime hier in Deutschland, der hat gefordert, die Personen am Rande der Gesellschaft mit extremistischer Einstellung zu integrieren, am Rande der Gesellschaft entstünde Gewalt. Können Sie ihm folgen?

    Lüders: Ich glaube, dass er gar nicht mal Unrecht hat. Es sind die Ränder der Gesellschaft, um die man sich kümmern muss, was die Muslime in Europa anbelangt. Wir haben ja ungefähr sechs Millionen Muslime, die in Europa leben, in Deutschland, Frankreich, Spanien und Großbritannien, und wenn man sich vor Augen hält, dass etwa zwei Drittel der Türken in Berlin, um nur ein Beispiel zu nennen, unterhalb oder am Rande der Armutsgrenze leben, wenn man sich vor Augen hält, dass ein Großteil der Türken in Deutschland, ein Großteil der Muslime in Europa, sich ausgegrenzt fühlt, sich nicht angenommen fühlt von der Mehrheitsgesellschaft, dann kann man sich vorstellen, dass es für Menschen, die Probleme haben mit ihrer eigenen Identität und die das Gefühl haben, ungerecht behandelt zu werden, dann doch eine gewisse Attraktivität hat, sich gewalttätigen Zellen bis hin zu Terroranschlägen anzuschließen.

    Heyer: Nun hat dieser Anschlag, das war nicht anders zu erwarten, eine neue Sicherheitsdebatte ausgelöst, und da verwundern manche Positionen schon. Bundesinnenminister Otto Schily hat schärfer Gesetze gefordert, Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus hält dagegen: die Gesetze reichen aus. Wie sinnvoll ist das? Oder ist in Sachen Sicherheit wirklich nicht schon vieles ausgereizt?

    Lüders: Mein Eindruck ist, dass es nach Terroranschlägen dieser Art immer einen gewissen Pawlow-Reflex gibt unter hiesigen Politikern. Man fordert also die Verschärfung gesetzlicher Bestimmungen, und teilweise ist dieses ja auch erfolgt, Stichwort biometrischer Pass. Man glaubt also, in dem man die Passgesetze verändert, die Pässe fälschungssicher macht, würde man des Terrors Herr werden. Das alles halte ich doch für eine Illusion. Man kann das natürlich tun, man kann neue Pässe ausstellen, man kann die Bundeswehr im Inland einsetzen, wie es einigen Politikern der Opposition vorschwebt. Das alles kann man machen, aber glaubt man dann wirklich, dass man jenseits von psychologischer Wirkung, jenseits dem Gefühl, dem Bürger noch mehr Sicherheit zu vermitteln, etwas erreicht? Ich glaube nicht, dass Terroristen, wie jene, die in London zugeschlagen haben oder jene wie Abu Mussab al-Sarkawi, der hunderte von Zivilisten auf dem Gewissen hat, ich glaube nicht, dass sich solche Leute durch solche Gesetze abschrecken lassen. Das ist ein bisschen Opium fürs Volk, sage ich mal. Das ist ein bisschen Volksverdummung. Mit härteren Gesetzen allein kann man dieses Problems nicht Herr werden. Natürlich ist es sinnvoll, zusätzliche Kontrollen an Flughäfen oder Bahnhöfen durchzuführen, aber das eigentliche Problem ist nur zu lösen, in dem man Ursachenforschung betreibt und die Ursachenforschung muss dazu führen, dass westliche Politik im Nahen und Mittleren Osten neu überdacht wird, muss dazu führen, dass arabische Regime anders behandelt werden, als bisher. Man muss sie in die Pflicht nehmen. Man kann nicht einfach nur mit ihnen kooperieren, solange es einem gefällt, solange es strategisch Nutzen bringt und ansonsten die Dinge schleifen lassen wie bisher, mit dem Ergebnis, dass die Menschen keine Perspektive haben.

    Heyer: Ist Deutschland, sind Großstädte in Deutschland gefährdet? Es hieß lange Zeit, Deutschland ist nicht im Irak engagiert. Aber wir wissen mittlerweile, obwohl es lange nicht an die Öffentlichkeit transportiert wurde, irakische Offiziere werden zum Beispiel hier in Deutschland ausgebildet.

    Lüders: Ja, und darüber hinaus werden auch irakische Offiziere und Polizisten in den Vereinigten Arabischen Emiraten ausgebildet. Das alles ist auch gut und richtig so und es war noch richtiger und noch besser, dass sich Deutschland aus dem Irakkrieg herausgehalten hat, denn sonst wären auch wir sicherlich längst im Visier der Terroristen. Ich denke dennoch, dass das Sicherheitsrisiko für Deutschland zurzeit noch weniger hoch ist, als es für Großbritannien war und ist, oder aber auch für andere europäische Staaten, die im Irak engagiert sind, darunter vor allem Polen und Italien. Nichtsdestotrotz, die Insel der Seeligen gibt es nicht, auch wir in Deutschland sind gefährdet und die Sicherheitsdienste sind gut beraten, wachsam zu sein. Andererseits ist es wichtig, eine Unterscheidung zu treffen zwischen Wachsamkeit und Hysterie. Ein Aktionismus, der dazu führt, dass die Bürger verunsichert werden, dass man sich morgens Sorgen macht, ob man mit dem Bus fährt oder nicht, das bringt nichts und das führt nur dazu, dass die Terroristen ihr Ziel erreichen. Die Terroristen wollen ja genau das, die moderne freiheitliche Gesellschaft ins Wanken bringen, die Bürger verunsichern und damit Maßnamen einleiten für einen immer stärkeren Staat, der aber dann nicht notwendiger Weise mehr ein freiheitlicher Staat ist.

    Heyer: Dankeschön Michael Lüders. Wir sprachen mit dem Nahost-Experten, die Sicherheit und die Debatte darum, das war unser Thema, drei Tage nach den Anschlägen von London.