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Es kam alles ganz anders als gedacht

Überraschend und farbenfroh, unklar und noch völlig offen, die einen schockiert, die anderen jubelnd und wieder andere abwartend. Noch nie hat eine bundesdeutsche Wahl so viele verschiedene Gesichter zutage gefördert, noch nie gab es so viele Koalitionsmöglichkeiten. Und noch nie waren auch die Fragezeichen so groß wie jetzt.

Redakteur am Mikrofon: Hans-Jürgen Bartsch. Autoren: Volker Finthammer, Daniela Kahls, Matthias Wurch. Interviewpartner: Richard Hilmer. | 19.09.2005
    Wir alle wissen nicht, wie die neue Regierung letztlich aussehen wird, wenn es denn eine Einigung geben sollte. Seit spätestens gestern kennen wir Begriffe wie "Schwampel" oder "Jamaika" - denkbar also ist Rot-Gelb-Grün oder Schwarz-Gelb-Grün, möglich ist natürlich auch eine Große Koalition oder eine Minderheitenregierung. Volker Finthammer aus unserem Hauptstadtstudio hat sich Gedanken gemacht.

    Rein rechnerisch gibt es vier Optionen auf der Basis des gestrigen Wahlergebnisses, politische Bündnisse auf Zeit zu schließen. Doch zwei davon - eine rot-rot-grüne Koalition und eine so genannte Ampelkoalition, also ein Bündnis der Sozialdemokraten mit der FDP und den Grünen - schließen sich offenbar aus.

    Zum einen deshalb, weil ein Bündnis mit der Linkspartei für die SPD nicht tragbar wäre, und die Ampel mit Rot-Grün hat bei den Liberalen keine Chance. Das hat das FDP-Präsidium, so Parteichef Guido Westerwelle, heute erneut beschlossen. "Wir werden dafür unsere Hände nicht reichen."

    Seit gestern erscheint jedoch eine neue Konstellation als möglich, die schon als "Jamaika-Koalition" firmiert: ein schwarz-gelb-grünes Bündnis. In dieser Situation wird es aber entscheidend auf das Verhalten der kleinen Partner ankommen.

    "Wer sonst noch im Deutschen Bundestag bereit sein könnte, diesen Politikwechsel mit Schwarz-Gelb zu ermöglichen, das kann ich derzeit nicht beurteilen."

    Sagt der FDP-Chef und redet dabei nicht ein Wort über die Grünen. Dort gab Verbraucherministerin Renate Künast schon recht früh zu erkennen, dass sie zu Gesprächen bereit wäre und erkennt zudem schon einige Gemeinsamkeiten mit der Union:

    "Vielleicht das Traditionelle und Bewahrende… sozusagen in den Ursprüngen des Umweltschutzes. An vielen anderen Stellen haben wir uns ordentlich gestritten und haben ja allein beim Thema Umweltschutz und Arbeitsplätze offensichtlich divergierende Auffassungen gehabt.

    Denken Sie allein an das Thema Atomenergie. Aber sehen Sie, ich will gar nicht philosophieren in allen Details, sondern die Wähler haben gesprochen, sie haben ihr Kreuzchen gemacht, und jetzt geht es darum, den Versuch zu machen, Regierung zu bilden."

    Aber Joschka Fischer, der heimliche Parteichef der Grünen, blickt eher skeptisch auf solch eine Konstellation.

    "Als alter Sponti bin ich für jede kreative Idee zu haben, solange es eine Idee ist, aber als Realist sage ich Ihnen, die Grünen würden einen großen Fehler machen, wenn wir Beliebigkeit anheim fielen."

    Die Schnittmengen einer so genannten "Jamaika-Koalition" wären vor allem mit der partiellen Unvereinbarkeit der Grünen mit der FDP geprägt. Eine radikale Steuerreform mit Entlastungen der Spitzenverdiener würden die Grünen nicht mittragen, die ihrerseits für die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und eine höhere Erbschaftssteuer plädieren.

    Auch die von der Union geforderte höhere Mehrwertsteuer dürfte in dieser Konstellation kaum durchsetzbar sein. In der Arbeitsmarktpolitik lehnen die Grünen die von Schwarz-Gelb geforderten Eingriffe in die Tarifautonomie, die Mitbestimmung und den Kündigungsschutz ab. Bewegung könnte es dagegen in Niedriglohnsektor geben, wo es auch bei den Grünen Forderung nach einem Zuschussmodell für die Lohnnebenkosten gibt.

    In der Gesundheitspolitik stehen sich jedoch drei unvereinbare Konzepte gegenüber. Auch den Ausstieg aus dem Atomausstieg könnten die Grünen nicht gutheißen genauso wenig wie den von Union und FDP geforderten Rückbau der Subventionen für alternative Energien. Allein in den Bürgerrechtsfragen liegen Grüne und FDP recht nahe beieinander. Nicht viel leichter würde es auch einer großen Koalition aussehen, zumal die SPD den Führungsanspruch erhebt.

    "Die Botschaft, die in dieser Wahlentscheidung drin war, war doch ganz eindeutig: dieses Land will Frau Merkel nicht als Kanzlerin. Das kann man, glaube ich, sagen. Und deshalb glaube ich, die Konsequenz ist, dass wir uns in der Verantwortung fühlen, die Mehrheitsbildung im Deutschen Bundestag mit möglich zu machen."

    So der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering. Unanhängig von diesen personellen Fragen, gäbe es in einer Großen Koalition vor allem in der Finanz, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik erhebliche Reibungspunkte. Das Steuerkonzept der Union hätte in einen Bündnis mit der SPD gerade nach dem vergangenen Walkampf keine Chance auf eine Verwirklichung.

    Allenfalls marginale Änderungen wären denkbar, etwa die einheitliche Besteuerung aller Unternehmensformen und eine stärkere Entlastung der Familien. Aber die von der Union geplante Mehrwertsteuererhöhung dürfte letztlich kaum an der SPD scheitern. Gleichermaßen verhärtet wie bei der so genannten "Jamaika-Koalition" wären auch die Fronten in der Arbeitsmarktpolitik. Als unvereinbar gelten auf den ersten Blick auch die Konzepte in der Gesundheitspolitik. Einen Systemwechsel in zu Kopfprämien mit einem steuerfinanzierten sozialen Ausgleich lehnen die Sozialdemokraten ab.

    Die Bürgerversicherung könnte da in sofern kompromissfähiger sein, wenn darin etwa die Arbeitgeberbeiträge festgeschrieben werden würden. Doch wegen der grundsätzlichen Gegensätze dürfte dieses Thema auf die lange Bank geschoben werden. Mit einer Großen Koalition erscheint jedoch die lang geforderte Föderalismusreform möglich. Die CDU Vorsitzende Angela Merkel, die angesichts des Wahlergebnisses gleichermaßen den Führungsanspruch erhebt, erklärte zu all diesen Fragen heute nur:

    "Wir haben heute ganz deutlich und gemeinschaftlich diskutiert, dass wir jetzt keinerlei Präferenzen sagen, sondern dass wir die Gespräche aufnehmen, schauen, was sich daraus ergibt, um dann überhaupt erkennen zu können, was möglich ist und was nicht möglich ist."

    So also kam alles ganz anders als gedacht. Auch die großen Meinungsforschungsinstitute hatten diesmal erhebliche Probleme mit ihren Umfragen vor der Wahl. Immer mehr Wähler entscheiden sich offenar auf den allerletzten Drücker. Sie taktieren mit ihrer Stimme derart komplex und kompliziert, dass es immer schwerer fällt, vorab dahinter zu blicken.

    Wir haben mit dem Leiter des Meinungsforschungsinstitutes Infratest Dimap, Richard Hilmer gesprochen, unmittelbar vor dieser Sendung habe ich ihn gefragt, wen das Volk lieber hätte: Angela Merkel oder Gerhard Schröder?


    Richard Hilmer: Es war sicherlich so, dass die Unterstützung von Schröder seitens der Wählerschaft etwas stärker ausgeprägt war als die von Frau Merkel bei den Unionswählern. Aber das ist auch nicht weiter überraschend. Für SPD-Wähler, zumindest für viele SPD-Wähler ist der Spitzenkandidat einfach wichtiger als für Unionswähler, denn die SPD muss halt ein etwas größeres Spektrum an Wählern, an unterschiedlichen Interessensgruppen abdecken, und da spielt der Spitzenkandidat eigentlich fast immer eine größere Rolle als bei der Union.

    Hans-Jürgen Bartsch: Aber dieses Mal ging es ja auch um die Fachkompetenz der Parteien und angeblich weniger um die Spitzenkandidaten.

    Hilmer: Diesmal gaben deutlich mehr - auch SPD-Wähler - an, dass sie die SPD der Inhalte wegen gewählt haben. Da spielt natürlich gleichwohl der Spitzenkandidat eine wichtige Rolle, denn er muss diese Inhalte verkörpern, und diese Inhalte waren soziale Gerechtigkeit, und dafür stand dann Schröder auch am Schluss wieder.

    Etwas überraschend, denn gerade in diesem Punkt hatte er ja aufgrund der Agenda 2010 einen doch länger anhaltenden Imageschaden erlitten, der allerdings offensichtlich nicht langfristig gewirkt hat, sondern den er geschafft hat, zumindest im Schlussspurt nochmal auszuräumen. Das TV-Duell hat da sicherlich eine gewisse Rolle gespielt.

    Bartsch: Überraschend war ja auch der Einbruch der Union gestern abend, noch höher als bei der vergangenen Bundestagswahl. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik hatte ja nun eine Frau als Kanzlerin kandidiert. War das letztlich nicht doch ein großer Fehler der Union? Ist die Republik doch noch nicht reif für eine Frau an der Spitze?

    Hilmer: Dafür haben wir überhaupt keinen Anhaltspunkt. Wenn wir danach gefragt haben, welche Rolle die Tatsache spielte, dass eine Frau kandidierte, dann wurde das verneint. Es wurde im Gegenteil begrüßt, dass die Union hier diesen Weg gegangen ist, eine Frau, auch eine Ostdeutsche, hier aufzustellen. Ich denke, es waren ganz eindeutig andere Gründe, die hier entscheidend waren.

    Sie haben mit dem Wahlkampf der Union zu tun, sie haben auch mit dem Verhältnis von Union und FDP zu tun, die Verschiebung fand ja innerhalb des bürgerlichen Lagers statt im Wesentlichen. Und dort war sie sicherlich auch dadurch bedingt, dass man eigentlich mit der Wahl der FDP und gleichzeitig mal der CDU mit der Erststimme das schwarz-gelbe Bündnis sichern und möglichst auch stärken wollte. Das ist nicht gelungen.

    Bartsch: War denn die Benennung Paul Kirchhofs ein großer Fehler?

    Hilmer: Weniger die Benennung, als der Umgang dann damit innerhalb der Union. Es war zum einen sicherlich nicht glücklich, dass Herr Kirchhof sofort seine Modelle gegen die der Union gestellt hat. Das hätte man vielleicht rechtzeitig unterbinden sollen, denn das hat zur großen Verwirrung der Wähler beigetragen.

    Es war sicherlich auch nicht hilfreich, dass Kirchhof gleich aus den eigenen Reihen dafür fürchterlich gescholten wurde. Also da wurden im Wahlkampf sicherlich sehr grundlegende Fehler gemacht, und das eben zwei, drei Wochen vor der Wahl, das ist dann nicht verwunderlich, dass sich so etwas auswirkt.

    Bartsch: Nun haben wir ja eine ganz fatale Situation: Rot-Grün hat keine Mehrheit, Schwarz-Gelb auch nicht, also genau das, wofür die vier Parteien oder fünf, wenn man die CSU extra zählt, wofür die Parteien also stehen, ist nicht eingetreten. Was will der Souverän Volk stattdessen?

    Hilmer: Im Grunde genommen wäre dann die natürliche Lösung auch die, die mehrheitsfähig ist: die Große Koalition. Das würde mit Sicherheit den größten Zuspruch finden, auf jeden Fall bei den SPD-Anhängern, auch bei vielen Unions-Anhängern. Aber das Problem, das wir derzeit haben, ist der ungeheuer knappe Abstand zwischen den beiden großen Parteien, der ja in Stimmen gezählt schon sehr knapp ist und mit den Überhangmandaten der SPD, die etwas mehr gewonnen hat als die Union, noch knapper wurde.

    Damit ist natürlich der Führungsanspruch innerhalb dieser Großen Koalition, die so groß ja dann auch wieder nicht ist - es gab ja einen deutlichen Rückgang der großen Parteien - dieser Führungsanspruch ist in Frage gestellt.

    Bartsch: Sie haben gerade den Rückgang der großen Parteien, die da wirklich Federn lassen mussten, angesprochen, die kleinen stattdessen legen zu, jedenfalls die Linken und die FDP. Ist das jetzt ein Zufallstrend, ein einmaliger Trend, oder einer, der schon länger Bestand hat, den Sie beobachten oder Bestand haben wird sogar auch noch in der Zukunft?

    Hilmer: Es ist ein Trend, der schon länger zu beobachten ist. Allerdings eher schleichend und langsam. Er hängt damit zusammen, dass das Angebot an Parteien einfach größer geworden ist. Die Linkspartei jetzt in Kombination PDS und WSG hat nochmal maßgeblich dazu beigetragen, dass diese Entwicklung doch deutlich beschleunigt wurde. So wenig Volkspartei hatrten wir noch nie.

    Was verspricht sich der Osten der Republik von diesem Wahlergebnis? Wir haben unsere Reporterin Daniela Kahls nach Leipzig geschickt, um dort die aktuelle Stimmung einzufangen. Leipzig deshalb, weil die Stadt zwar mit der Strukturschwäche zu kämpfen hat wie alle Kommunen in den neuen Bundesländern, doch es keimt die Hoffnung auf eine etwas bessere Zukunft. Auch jetzt noch, nach der Wahl?

    Weiß und neonblau, wie ein Raumschiff, leuchtet das in diesem Jahr eröffnete BMW-Werk im Morgengrauen. Mit 3500 Beschäftigten ist das Werk, in dem die 3er Limousine montiert wird, einer der größten Arbeitgeber in Leipzig. Und einer der größten Hoffnungsträger. Denn noch ist die Arbeitslosigkeit in der Messestadt - trotz der Neuansiedlungen - mit über 20 Prozent am höchsten in ganz Sachsen.

    Kurz vor sechs an diesem Morgen fährt ein Auto nach dem anderen auf den BMW-Parkplatz. Die Frühschicht fängt gleich an. In kleinen Grüppchen gehen die Arbeiter zum Werkseingang. Und so richtig zufrieden scheint keiner mit dem Wahlergebnis:

    "Es ist entschieden ein bisschen schlecht, sagen wir. Große Koalition wird Stillstand bedeuten, nehme ich an." - "Eigentlich hat sich Deutschland wieder mal überhaupt nicht entschieden. Ich dachte eigentlich, dass es mit Rot-Grün endlich vorbei ist, aber offensichtlich waren einige Wähler anderer Meinung. Ich persönlich glaub’, die CDU hat die Wahl versaut." - "Weiß auch warum. Ziemlich chaotisch." - "Mal sehen, wie’s wird."

    Und ob eher dem linken Lager nahestehend oder eher dem konservativen - bei diesem unklaren Wahlergebnis scheint jeder Grund für Befürchtungen zu finden. Zum Beispiel dieser junge Mann:

    "Ist ein bissel enttäuschend, dass die SPD so schlecht abgeschnitten hat und dass jetzt alle sagen, die Linkspartei war das große Verbrechen. Weil die CDU mehr jetzt an Arbeitnehmerrechten kauen wird als die SPD. Und das ist ja für uns wichtig, die Mitbestimmung usw. Das wird uns nicht betreffen, aber die kleinen Arbeiter dann."

    Aber ist er als BMW-Mitarbeiter nicht selbst ein kleiner Arbeiter? "Ja schon, aber wir haben einen starken Betriebsrat."

    Die Schichtarbeiter bei BMW stehen schon längst am Band, da kommen die Angestellten der Stadt zur Arbeit ins Rathaus. Das ist durch Wolfgang Tiefensee SPD-regiert. Und überhaupt ist Leipzig nach wie vor eine sozialdemokratische Hochburg. Beide Direktmandate in der Stadt sind an die SPD gegangen. Damit ist Leipzig aber die große Ausnahme in Sachsen.

    "Ich finde eigentlich gut, dass die SPD ein bissel aufgeholt hat, und ich war eigentlich nicht einverstanden, dass Frau Merkel Bundeskanzlerin werden sollte und auch soll." - "Ich fand es eigentlich nicht schlecht, weil ich weder wollte, dass komplett die CDU an die Macht kommt noch die SPD. So finde ich den Ausgang, dass eventuell CDU und SPD zusammen regieren gar nicht mal so schlecht. Weil mir die Außenpolitik von der CDU nicht ganz so gefällt, da ist mit die SPD lieber - will ich mal so sagen, und erhoffe mir dadurch ein sichereres Land."

    Ein wenig stadtauswärts liegt die Arbeitsagentur. 60.000 Arbeitslosengeld-II-Empfänger gibt es in Leipzig. Viele von ihnen spüren die Auswirkungen der Agenda 2010 am eigenen Leib. Entsprechend stark war auch die Protestbewegung gegen Hartz-IV in der Stadt. Dass nun kein Lager einen klaren Regierungsauftrag erhalten hat - Hoffnung kann das den Arbeitslosen anscheinend auch nicht geben:

    "Nee, also Sie sehen ja, ich komme ja da heraus, deswegen fragen Sie ja auch. Wir haben uns gerade oben unterhalten. Andersrum, wenn’s jetzt Schröder geblieben wäre, hätte es mir auch keine Hoffnung gegeben. Aber ich denke, es gibt ja keine Arbeitsplätze. Woher soll ein persönlicher Mensch die aus dem Boden stampfen?" - "Wenn ich mich nicht kümmere bei der oder bei der Partei - helfen tut mir von denen niemand."

    Und dass die Linkspartei so stark geworden ist, auch das beurteilen die Arbeitslosen unterschiedlich. In Sachsen wurden die Linken mit 23,1 Prozent zweitstärkste Kraft.

    "Gut, für alle Fälle, dass da endlich mal ein anderer Wind reinkommt." - "Ich find's eigentlich bisschen spaßig: Keiner will mit denen, die wollen mit keinem. Na gut, hoffentlich können sie was in der Opposition bewirken."

    So viel scheint klar, hört man sich am Tag nach der Wahl in Leipzig um: einen Ruck wird es durch dieses Wahlergebnis nicht geben, und der Optimismus ist irgendwo auf der Strecke geblieben - falls es ihn mal gab.

    Eine aufstrebende Stadt in Ostdeutschland, eine mit großen Sorgen im Westen - wir gehen nach Emden. Die Einwohner dort sind nicht nur geplagt, weil es VW nicht mehr so gut geht wie einst. Nach dem Niedergang der Werftindustrie ist die Arbeitslosigkeit auf fast 15 Prozent angestiegen. Matthias Wurch hat sich umgehört und umgesehen.

    Kurz vor Schichtbeginn marschieren die ersten Arbeiter mit dem Butterbrot in der Hand Richtung Werkshalle. Es ist 5 Uhr 30 vor dem VW Werk in Emden. Gesprochen wird noch nicht viel. Doch die Frage nach dem kommenden Kanzler ist deutlich spürbar.

    "Wenn man jetzt die Überschrift von der Bild-Zeitung liest, Kanzlerkrieg, ich gehe davon aus, dass sie da eine Einigung finden, eventuell wieder Gerd Schröder, aber es sieht schlecht aus."

    Nach großem Krisengerede sind alle VW-Produktionsstätten vorerst gesichert. Trotzdem bleibt ein flaues Gefühl. Die Emdener sehnen den Aufschwung herbei, aber richtig daran glauben mag hier noch keiner.

    "Schlechter kann’s eigentlich fast nicht mehr werden, es muss besser werden. Wir haben angefangen bei knapp drei Millionen Arbeitslosen, jetzt sind bei fünf. Jetzt sehen wir, was dabei rausgekommen ist."

    50.000 Einwohner hat Emden. Volkswagen alleine beschäftigt 10.000 Mitarbeiter und ist der mit Abstand größte Arbeitgeber der Region. Bei einer viel zu großen Zahl an Arbeitslosen hat das Emdener Werk einen besonders hohen Stellenwert. Ralf Berenz vom Betriebsrat wünscht sich neue Arbeitsplätze und vor allem soziale Gerechtigkeit:

    "Wir haben uns erstmal dadurch, dass die SPD mit großer Wahrscheinlichkeit in die Regierung eintreten wird, dass die Region Ostfriesland nicht durchs Rost fallen wird, sondern dass wir die Möglichkeit haben, regionale Stärkung erfahren zu können.

    Wir sind erstmal froh, dass die Regierung mit der SPD besetzt bleibt, so dass die sozialen Härten entschärft werden, und dass vor allen Dingen die Tarifautonomie erhalten bleibt, so dass wir auf dieser Basis hier Arbeitsplätze schaffen können, damit die Familien hier weiter eine Perspektive haben."

    Emden ist seit Jahrzehnten sozialdemokratisch regiert. Direkt am Hafen liegt die Innenstadt. Hier tummeln sich Jung und Alt, haben ihre ganz eigene Meinung zum gestrigen Wahlausgang. Auch wenn die SPD hier wieder ein überragendes Wahlergebnis eingespielt hat, würden einige Emdener lieber Angela Merkel als Kanzlerin sehen:

    "Wenn ich das so wählen müsste, dann würde ich ja die Merkel nehmen, weil der Schröder einfach abgewirtschaftet hat, und seine Zeit ist vorbei. Und nachdem er uns diesen Ärger eingebrockt hat mit der Auflösung des Bundestages usw., können wir ja jetzt nicht sagen: alles vergessen, wir nehmen ihn nochmal. Ja, und warum die Merkel? Wir haben ja sonst keine Alternative, weil sonst niemand präsentiert wurde."

    Zumindest in einem Punkt sind sich die Emdener einig: Deutschland brauche schleunigst eine neue funktionierende Regierung:

    "Die Koalition sollte nach Möglichkeit in vier bis sechs Wochen stehen. Aber ob Angela Merkel das macht, da zweifele ich. Könnte mir auch eine Große Koalition vorstellen."

    Gegen Mittag nehmen sich die Einwohner ihre wohlverdiente Auszeit. In der Stadt diskutieren die Menschen das Wahlergebnis bei einer Tasse Kaffee.

    "Die werden sich, weil sie so verschiedener Ansicht sind, in wenigen Monaten so zerstritten haben, dass wir schon wieder ne neue Bundeswahl bekommen."

    Ein sonniger Tag an der See. Doch der Wind bringt ständig anderes Wetter, meist rau und hart. Unterbuttern lässt sich keiner. Auch wenn sie alle skeptisch blicken: Der Ostfriese weiß: nach der Ebbe kommt immer auch eine neue Flut.