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'Es kann nicht sein, dass jedes Mitglied sagt, das ist die Position der SPD'

Nutz: Eines hat die SPD im ersten Regierungsjahr bewiesen, dass sie nämlich trefflich streiten kann. Die Regierungsbilanz fällt aus Sicht der Wähler eher mager aus, und die werden in Teilen Deutschlands an den kommenden drei Sonntagen an die Urnen gehen und ihrem Unmut wahrscheinlich Luft machen. So jedenfalls sagen es die Prognosen. Derweil halten die Debatten zwischen Kanzler und Fraktion, zwischen Bundes- und Landes-SPD um das Sparpaket, die Rentenanpassung und die künftige Programmatik der Partei an. Ebenfalls am kommenden Sonntag stehen personelle Veränderungen an der Spitze der SPD im Präsidium auf der Agenda. Viel Gesprächsstoff also für uns heute mit Ulla Schmidt, einer der stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag. Guten Morgen!

    Schmidt: Guten Morgen.

    Nutz: Frau Schmidt, die SPD verliert sich in Flügelkämpfen und damit möglicherweise die Mehrheit der Wähler. Die Linke droht, die Rechte mäkelt, der Kanzler will hart bleiben zum Beispiel in Sachen Zukunftsprogramm 2000. Werden die Sozialdemokraten auf diese Weise eine Zukunft haben?

    Schmidt: Ich bin fest davon überzeugt, weil zu dem Weg, den wir gerade diskutieren, gibt es nach meiner Auffassung auch keine Alternative. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass wir eine ungeheuere Erblast mit übernommen haben, wenn ich diesen Ausdruck einmal nehmen darf. Wir haben einen völlig überschuldeten Staat, 1,5 Billionen, allein 82 Milliarden pro Jahr an Zinsen, ohne dass irgend eine Mark zum Beispiel in die Ausbildung von jungen Menschen investiert werden kann. Wir haben eine Situation vorgefunden - Sie haben die Rente angesprochen -, wo es keine Perspektive zur Zukunftssicherung auch der Altersversorgung gibt. Wir haben vier Millionen registrierte Arbeitslose und dabei eben ein besonders hoher Anteil von jungen Menschen. Wer jetzt unter diesen Voraussetzungen und den veränderten ökonomischen Bedingungen Politik macht - Stichworte wie Globalisierung oder Informations-/Kommunikations-Technologien, neue europäische Wege zu gehen -, das ist eben auch nicht so einfach und da wird es Diskussionen geben und da wird debattiert werden, welcher Weg ist denn der richtige. Wir haben ein Zukunftsprogramm vorgelegt, und ich glaube zudem, dass wir wirklich einsparen, wieder Handlungsspielräume für einen Staat eröffnen, und da gibt es keine Alternative.

    Nutz: Frau Schmidt, der Partei droht ja nun konkret am kommenden Sonntag der Machtverlust, möglicherweise in Brandenburg und im Saarland. Sie haben eben die Probleme genannt, zum Beispiel Globalisierung, Massenarbeitslosigkeit. Die waren ja genau der Grund, warum der Wähler sich im vorigen Jahr zur SPD geflüchtet hat, weil er sich davon Besserung erhofft hat. Können Sie dem Wähler denn heute noch deutlich machen, wofür die SPD steht?

    Schmidt: Natürlich, und wer sich einmal die Regierungspolitik wirklich anschaut der wird sehen, dass wir auch diesen Weg gegangen sind, was wir im Wahlkampf versprochen haben. Familienförderung: Wir werden in einem Jahr allein 100 Mark Kindergelderhöhung für Familien mit zwei Kindern haben. Wir haben ein Steuerpaket auf den Weg gebracht, wo wirklich die Eingangssteuern gesenkt werden und dass wir bis zum Jahr 2002 Familien, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um rund 50 Milliarden D-Mark entlasten.

    Nutz: Aber was hängen bleibt ist der Sparpaketstreit, Streit um die Rente, 630-Mark-Gesetz, Scheinselbständigkeit.

    Schmidt: Ja, aber das sind doch alles Dinge, die notwendig waren, sie zu behandeln. Die Frage war, können wir zulassen, dass immer mehr Arbeitsverhältnisse aus den Sozialversicherungskassen herausgenommen werden und damit alle Fragen, Generationenvertrag oder Sicherung der Renten, völlig hinfällig geworden wären, oder handeln wir. Und wer handelt, so wie wir das getan haben, nachdem jahrelang nichts passiert ist, der stößt natürlich auf Widerstand. Es geht in lieb gewordene Gewohnheiten hinein.

    Nutz: Aber das Handeln verläuft ja nicht einheitlich. Da gibt es ja einen Riesen Dissens innerhalb der Partei. Michael Müller zum Beispiel, ebenfalls stellvertretender Fraktionsvorsitzender, hat gewarnt, Partei und Fraktion verspielten den Erfolg, der mit dem Wahlsieg errungen worden sei. Steht da die Partei nicht in einer Zerreißprobe?

    Schmidt: Nein, aber die Partei diskutiert. Ich glaube, Michael Müller hat insofern Recht, als wir wirklich nach vorne diskutieren müssen, und ich bin auch davon überzeugt, dass wir das machen werden und über diesen Weg streiten werden. Ich will hier nur noch einmal deutlich sagen, dass wir wirklich auch Erfolg aufzuweisen haben, zum Beispiel bei jungen Menschen, aber dass wir gucken müssen, wenn wir sparen, was ja nun an sich nichts Heiliges ist, warum wir das machen müssen. Ich finde, wir müssen es machen, weil es wirklich eine neue Frage auch von Gerechtigkeit geben muss auch zwischen den Generationen. Wir können nicht so weitermachen wie es die alte Regierung gemacht hat, dass wir den jungen Menschen weder den Weg in die Erwerbstätigkeit ermöglichen noch dass wir ihnen einen schuldenfreien Staat hinterlassen, damit sie selber handlungsfähig sind. Das führt zu Streit oder Diskussionen, weil eben auch jeder von so einem Paket betroffen ist. Ich kann nicht sagen, wir sparen, aber du bleibst draußen vor, du bleibst draußen vor und so weiter, sondern das ist eine gemeinsame Kraftanstrengung.

    Nutz: Frau Schmidt, es hat ja gestern noch eine Klausurtagung gegeben. Wie wird sich die Fraktion denn in dieser Frage weiter verhalten? Peter Struck hat ja angedeutet, dass die Wogen sich geglättet hätten. Was will die Fraktion denn weiter sein, ein Abnickverein?

    Schmidt: Nein, die Fraktion ist überhaupt kein Abnickverein. Ich glaube, dann würden wir jetzt gar nicht diskutieren und miteinander reden. Die Fraktion diskutiert auch über Einzelheiten des Paketes. Ganz klar ist, dass wir gemeinsam das Ziel erreichen wollen, im nächsten Jahr 30 Milliarden Mark einzusparen, damit wir Schritt für Schritt in den kommenden Jahren von der Neuverschuldung herunterkommen und damit wir, indem wir weniger Zinsen zahlen müssen, auch wieder Spielräume haben, um in Bildung zum Beispiel zu investieren.

    Nutz: Das heißt, die Mehrheit in der Fraktion für das Sparpaket wird Ihrer Meinung nach im Bundestag vorhanden sein?

    Schmidt: Davon bin ich fest überzeugt, aber wir werden im Laufe des parlamentarischen Verfahrens diskutieren. Hans Eichel hat immer gesagt, wer einen Punkt herausnimmt, der muss einen anderen hereinnehmen, der die gleiche Wirkung hat. Ansonsten haben Sie ja vielleicht auch verfolgen können, dass wir einen Parteitag im Dezember haben. Ich finde es sehr gut und begrüße das auch, dass der Vorsitzende gesagt hat, wir werden eine Kommission einrichten, die auch darüber debattiert oder Vorschläge macht, wie unser Grundsatzprogramm weiterzuentwickeln ist, etwa die außenpolitische Frage, die Frage der deutschen Einheit. Viele Dinge stehen dort an, so dass die SPD diese Diskussion, glaube ich, schon geschlossen führen wird. Ich bin davon überzeugt, dass wir am Ende stärker da stehen, als es jetzt aussieht.

    Nutz: Im Hinblick auf diesen Parteitag stehen ja am kommenden Sonntag nicht nur Wahlen an, sondern auch die Präsidiumssitzung der Bundes-SPD. Was wird sich denn dort personell ändern?

    Schmidt: Ich glaube, dass es am Sonntag überhaupt noch nicht um personelle Vorschläge geht, sondern am Sonntag wird über die Struktur der SPD diskutiert werden, wie kann die Führungsstruktur aussehen.

    Nutz: Die ist ja mit Personen verbunden?

    Schmidt: Ja, aber erst einmal geht es um diese grundsätzlichen Fragen. Ich weiß das nicht, weil der Parteivorsitzende dort die Vorschläge machen wird. Ich gehe aber davon aus, dass es erst einmal nur um Strukturfragen gehen wird.

    Nutz: Bundesgeschäftsführer Ottmar Schreiner ist ja bereits demontiert, Fraktionschef Struck angeschlagen. Wird denn die Fraktion zusehen, wenn der Parteivorsitzende die SPD sozusagen von oben reformiert?

    Schmidt: Der Parteivorsitzende reformiert sie nicht von oben. Ich kann mir vorstellen, dass das vielleicht nach außen schöner klingen wird. Der Parteivorsitzende nimmt an allen Gremien der Fraktion teil. Er war auch auf der Klausurtagung des geschäftsführenden Fraktionsvorstandes. Es gibt eine ganz klare Vereinbarung, dass wir dieses alles gemeinsam machen, und auch am Sonntag entscheidet nicht der Parteivorsitzende, sondern das Präsidium. Das sind gewählte Gremien der SPD, die Vorschläge machen. Entscheiden wird der Parteitag.

    Nutz: Gerhard Schröder hat gesagt, für die SPD spreche das Präsidium der Partei und der Vorsitzende, und es sei ein Fehler, dass jede Einzelstimme eines Landtags- oder Bundestagsabgeordneten schon für die Position der SPD genommen werde. Das klingt ja ein bisschen schon nach Kanzler-Wahlverein?

    Schmidt: Nein, das klingt es nicht, aber er ist der gewählte Vorsitzende. Es kann nicht sein bei 800 000 Mitgliedern, dass jedes Mitglied allein sagt, das was ich sage ist die Position der SPD, sondern dafür haben wir die Gremien, dafür gibt es Beschlussfassungen. Ich finde, wer einen Vorsitz übernimmt, egal wo, der hat auch das Vertrauen seiner Mitglieder oder derer, die ihn gewählt haben, dass er in bestimmten Situationen auch nach vorne weisen muss und auch Vorschläge machen muss, wo es denn hingehen soll. Das ist ganz normal. In jedem Verein ist das so, und auch in Parteien ist das so!

    Nutz: Noch ganz kurz, Frau

    Schmidt: Wenn die Prognosen stimmen, muss der Kanzler ab kommender Woche gegen die Unionsmehrheit im Bundesrat regieren. Was dann?

    Schmidt: Ich gehe davon nicht aus. Wenn Sie wirklich in die beiden Bundesländer gucken, von denen Sie sprechen, dann ändert sich dort die Stimmung. Es sieht gar nicht so aus, als würden die Wahlen verloren gehen. Ich kann nur dazu aufrufen, dass die Menschen wirklich die SPD wählen, weil wir nur gemeinsam, Bund und Land, wirklich stark sind, dass wir auch das umsetzen können, was wir uns vorgenommen haben. Das ist eine wirklich große Kraftanstrengung für dieses Land, und man wird sehen: in ein, zwei Jahren werden sich die Erfolge so zeigen, dass es aufwärts geht mit Deutschland.

    Nutz: Fragen an Ulla Schmidt, stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, zum Dauerklinsch in der Partei um Personen, Programme und Einsparpaket. Frau Schmidt, vielen Dank für dieses Gespräch und auf Wiederhören!

    Link: (Andrea Nahles: 'Wir brauchen eine Ergänzung zum Sparpaket' (1.9.99)==>/cgi-bin/es/neu-interview/385.html)