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"Es muss bei den Kindern ankommen"

In der Debatte um Maßnahmen zur Linderung der Kinderarmut kritisiert der FDP-Politiker Otto Fricke, dass reflexhaft immer mehr Geld ins System gepumpt werden solle. Dieses komme aber häufig bei den Kindern nicht an, weshalb andere Lösungen gesucht werden müssten, sagte Fricke, der dem Haushaltsausschuss des Bundestages vorsitzt. Sein Vorschlag: Staatliche Einrichtungen wie Schulen oder Kindergärten müssten so ausstattet werden, dass die Grundversorgung von Kindern besser gesichert sei.

Moderation: Christoph Heinemann |
    Christoph Heinemann: Während in Deutschland darüber gestritten wird, wie mehr Kinder auf die Welt kommen können, verdeutlichen die Berichte über die mangelhaften Lebensbedingungen einer immer größeren Zahl junger Mitbürgerinnen und Mitbürger, dass die Demographie nicht die einzige Stellschraube ist, an der gedreht werden müsste. Nun bereiten offenbar Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD) und Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) nach einem Bericht der "Passauer Neuen Presse" eine grundlegende Reform des Kinderzuschlags vor.

    Am Telefon ist Otto Fricke, FDP-Politiker und Vorsitzender des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages. Guten Tag!

    Otto Fricke: Einen wunderschönen guten Tag vom Niederrhein!

    Heinemann: Herr Fricke, mehr Geld für Kinder, die in Familien mit sehr geringen Einkommen groß werden müssen. Wie bewerten Sie die Überlegungen der Großen Koalition?

    Fricke: Erstens es ist zutreffend, dass wir hier ein Problem haben. Zweitens es ist ebenfalls zutreffend, dass wir eine große Kinderarmut haben, jedenfalls wenn wir sehen, wie reich unser Land ansonsten ist. Wo aber drittens dann nach meiner Meinung die Große Koalition reflexartig handelt, ist: Sie stellt fest es ist zu wenig Geld da und meint dann, wenn sie mehr Geld in das System hineingeben würde, würde das dann automatisch auch zu mehr Gerechtigkeit führen. Ich kann nicht feststellen, dass alle Veränderungen, die wir an Leistungen - und wir haben sehr viele Leistungen verbessert für Familien und Kinder - in letzter Zeit gehabt haben, in irgendeiner Weise da richtig geholfen haben. Es scheint so, dass von dem Geld, was wir gerade bei einkommensschwachen oder von Transferleistungen abhängigen Familien zur Verfügung stellen, dass das Geld bei den Kindern nicht richtig ankommt.

    Heinemann: Was folgt daraus viertens?

    Fricke: Daraus folgt nach meiner Meinung eindeutig, dass ich mich viel mehr damit beschäftigen muss, als Staat, wie ich dafür Sorge tragen kann, dass gerade bei den kleinsten Kindern - denn wenn ich am Anfang nicht ansetze, werde ich es am Ende auch nicht heraus kriegen - das gerade bei den kleinsten Chancengleichheit dadurch geschafft wird, dass wir die Einrichtungen, die der Staat zur Verfügung stellt, so ausstatten, dass die Kinder, jedenfalls was ihre Grundversorgung angeht, besser gesichert sind. Das heißt Schule, Kindergarten, Kindertagesstätte muss verbessert werden, und wir müssen hier auch gucken, wie wir für eine bessere Versorgung genügend Geld zur Verfügung stellen.

    Heinemann: Das Geld kommt nicht an bei den Kindern, sagen Sie. Nun sind die Regelsätze ja nicht gerade üppig. Mal mit Blick zur Uhr: Es ist gerade Essenszeit. Was würden Sie kochen, wenn Sie einem Kind für 2,55 Euro Frühstück, Mittagessen und Abendessen zubereiten sollten?

    Fricke: Vollkommen richtig! Selbst wenn ich das versuchen würde mit den in Anführungszeichen "preiswerten" Möglichkeiten, indem ich nämlich auf die Grundnahrungsmittel gehen würde und nicht versuchen würde, schon Fertiges zu kaufen: Ich käme mit diesem Geld letztlich nicht hin. Wenn man die Beträge so nimmt, ist das auch nicht richtig. Da kommen wir dann genau zu der Frage: Muss der Staat nicht sagen, wenn er etwa bei der Frage der Ganztagsschule, wie es im Lande Nordrhein-Westfalen jetzt läuft, dafür sorgt, dass mehr passiert, dass er sagt, habe ich nicht eine Verpflichtung als Sozialstaat, weniger den Eltern mehr Geld zu geben, aber den Eltern eine Garantie zu geben, dass ihre Kinder, sei es, weil entweder die staatliche Transferleistung nicht hoch genug ist, oder sei es - und dann sind wir bei denjenigen, die arbeiten - sei es deswegen, weil die Zeit nicht dafür da ist, dieses Essen geben. Da sind wir übrigens in Deutschland noch Entwicklungsland, wenn ich sehe wie in den meisten europäischen Ländern um uns herum es völlig selbstverständlich ist, dass dieses Grundversorgungsangebot, also Ernährung, Getränke etc., da ist.

    Heinemann: Klingt ein bisschen nach Vertagung. Die Kinder sind heute arm!

    Fricke: Vertagung wäre dann richtig, wenn ich sagen würde, ich kann es heute mit einer Sache lösen. Nein! - Ich wehre mich auch nicht dagegen, dass wir eine Anpassung vornehmen, denn es ist natürlich vollkommen richtig: Wir haben gerade an dem Umknickpunkt zwischen denjenigen, die in Hartz-IV-Leistungen sind, weil sie keine Arbeit haben, und den so genannten Aufstockern, haben wir schon ein erstes Problem. Und wenn wir dann sogar den nächsten Schritt zu denen nehmen, die ein bisschen mehr verdienen, kommt das nächste Problem, wo nämlich dann gesagt wird, für mich lohnt es sich langsam auch nicht mehr. Das ist vollkommen richtig. Das kann ich aber nicht dadurch lösen, dass ich von heute auf morgen an dieser Stelle etwas mehr Geld gebe, und es wird nur etwas sein, denn wir bewegen uns, wenn wir mehr zahlen wollen, sofort im Bereich von Milliarden Mehrausgaben. Und ich kann gegenwärtig keine Deckung erkennen, so sehr, wie ich es schön finde, wenn man sagt, wir wollen mehr geben für ein anerkanntes Problem.

    Heinemann: Wir haben eben übers Essen gesprochen. Benötigen wir einen eigenen Kinderwarenkorb, um den Bedarf für Kinder überhaupt erst mal zu ermitteln?

    Fricke: Es gibt die Möglichkeit, das über einen Kinderwarenkorb zu lösen. Es wird nur dann zur Folge haben, dass ich für jede andere betroffene Gruppe dann auch einen Warenkorb bilden muss. Das gegenwärtige System, was wir haben, nämlich dass wir versuchen zu sagen, wir richten uns an die Frage der Löhne, die wiederum haben Auswirkungen auf die Rente, die entsprechend steht in der Wechselwirkung mit Hartz IV, ist eine Form, die bisher noch einigermaßen nachvollziehbar ist. Wenn wir Körbe machen - was geht -, wäre das auch drin. Deswegen übrigens müsste man dann auch mal genauer gucken, was brauchen Kinder wirklich und was gehört dazu und was gehört nicht dazu.

    Heinemann: Der Kinderzuschlag wie auch das von Franz Müntefering geplante oder angedachte Erwerbstätigengeld soll ja Geringverdienende durch Lohnzuschüsse aus dem Arbeitslosengeld II heraushalten beziehungsweise das Kindergeld gar nicht erst in diese Situation hinein kommen lassen. Warum lehnen Sie solche Maßnahmen ab, die ja im Grunde erst mal einen Missstand gar nicht erst eintreten lassen würden?

    Fricke: Nein, nicht dass ich da missverstanden werde. Ich lehne die Grundtendenz, nämlich dafür zu sorgen, dass wir nicht immer diese Kippverhältnisse haben, und vor allem dadurch, dass ich in den Bereich der Aufstocker und damit der Hartz-IV-Leistungsempfänger komme, das lehne ich gar nicht ab, dass wir dagegen gehen. Ich glaube nur nochmals, dass das auf Dauer keine Lösung ist, denn es wird dazu führen, dass dann der Anreiz, Arbeit aufzunehmen, wiederum etwas weiter nach oben geschoben wird. Die Lösung hierüber wird nicht erfolgen, sondern es wird - ich will das mal so bezeichnen - ständiges weiteres Drehen an der Schraube sein. Da komme ich dann übrigens zu dem Ergebnis: Wir kriegen hier nur eine in Anführungszeichen "Gerechtigkeit" hin, wenn wir die gesamten staatlichen Leistungen langsam zusammenbinden, denn es ist jetzt schon so - das merke ich dann auch in Gesprächen mit den Bürgern -, wo dann diejenigen, die arbeiten, da sind und sagen: Ich bin knapp an der Grenze zum Aufstocker, aber ich bin keiner; deswegen kriege ich das Geld nicht, und das zweite ist: Ich kriege gleichzeitig von der Stadt keine Hilfe, wenn ich für meine Kinder einen Sonderbedarf habe, oder aber zum Beispiel wenn es um die GEZ-Gebühren geht, nur um ein kleines praktisches Beispiel zu nehmen, muss ich die bezahlen, während mein Nachbar sie bei nahezu gleichem Einkommen, aber eben ein Stück weniger, das hat. Wir müssen hier eine gleitende Liste bekommen und deswegen dürfen es jetzt auch beim Zuschlag nicht sozusagen feste Summen sein, sondern wir müssen hier gleitende Summen haben.

    Heinemann: Wir sind jetzt mitten in der Hartz-Reform drin. Ein so genannter Grundsicherungsrentner Dieter Nolte - er lebt in Hamburg-Bergedorf - wurde kürzlich vom Bezirksamt der Weg zur Armenspeisung gewiesen. Nolte sagte heute früh bei uns im Deutschlandfunk:

    " In dem Bescheid stand drin, dass sie mich verweisen an die Suppenküche. Ich sollte zur Suppenküche gehen und man hat mir auch die Adressen dabei gegeben. Das muss man sich vorstellen. In einem öffentlichen, also richtigen amtlichen Bescheid steht das drin. Also das geht an die Würde. - Ach, ich möchte, die Sozialhilfe wäre wieder da. Da habe ich das Doppelte einkaufen können, was ich heute hole. Und deswegen ist auch meine Forderung, die wirkliche Forderung: Ich verlange den Warenkorb von früher zu den heutigen Preisen. "

    Heinemann: Lieber Mitbürger, ab zur Suppenküche. - Müsste man die alte Sozialhilfe wieder einführen?

    Fricke: Nein, aber es ist vollkommen richtig, dass das jedenfalls nach meiner Ansicht und der Ansicht meiner Partei kein richtiger Verweis ist zu sagen, da geht es hin. Denn das ist ja letztlich das Zugeben, dass hier etwas nicht stimmt. Wir werden dazu kommen, dass wir den Korb überprüfen müssen. Ich habe nur eine andere Befürchtung auch bei dem Korb. Wir müssen natürlich dann auch aufpassen, wenn bestimmte Bereiche wie etwa Telekommunikation preiswerter werden, dass das nicht automatisch dann dazu führt, dass wir den Korb dann wieder runterfahren. Wenn wir aber eines feststellen, nämlich dass wir bei der Grundversorgung noch gar nicht definiert haben, was gehört zur Grundversorgung, müsste man das tun. Ich empfehle nur dann, dass wir darüber eine öffentliche Debatte führen, dass die auch im Parlament geführt wird und nicht - und das erleben wir, sage ich auch als Abgeordneter, an vielen Stellen - die faktische Umsetzung solcher Details, des Warenkorbes und anderem, findet dann meistens durch Verordnungen statt und außerhalb der öffentlichen Diskussion, so dass auch wir - das sage ich jetzt als jemand, der sogar in der Opposition sitzt - dann, selbst wenn wir an der Regierung sind, oft nur sagen können, wir haben zwar die Verordnungsermächtigung gegeben, aber die Details haben wir leider nicht richtig gelöst. Und die Details sind ja die, die dann weh tun. Da ist natürlich die Verweisung auf eine Suppenküche ein Detail, das so in keiner Weise in Ordnung ist, was nicht heißt, dass jegliches Engagement der Leute, die dort diese Suppenküchen machen, damit in irgendeiner Weise in Kritik gezogen wird.

    Heinemann: Und zum Ende unseres Gespräches fallen Ihnen immer noch nicht drei Mahlzeiten für 2,55 Euro ein?

    Fricke: Sagen wir mal so: Ich weiß wo die Kartoffelpreise gegenwärtig liegen, aber ich glaube kaum, dass das eine wirkliche Mahlzeit ist. Ich sage Ihnen auch ganz deutlich: Wenn ich mir angucke, was wir gegenwärtig im Agrarbereich erleben, dann werden wir genau gucken müssen, wie sich das verändert. Und das nächste ist: Ich muss ganz klar sagen, wir werden, wenn wir einzelne Punkte nehmen und wenn wir solche Pauschalisierungen haben, nie zu einer klaren Lösung kommen. Der Staat muss als Sozialstaat viel leisten, aber nochmals: Ich glaube, es muss bei den Kindern ankommen, und es darf nicht im Allgemeinen verschwinden, denn die Eltern, die unter Hartz-IV-Leistungen stehen, werden sich dann immer nur im Zweifel zu Lasten der Kinder entscheiden, selbst wenn sie es eigentlich nicht wollen.