Wagner: Frau Birthler, eine Last für Sie der Name Ihres angesehenen Vorgängers als Synonym für das Bundesamt?
Birthler: Ich bin genauso neugierig wie Sie. Ich benutze die Bezeichnung Gauck-Behörde ja auch und sehe eigentlich keinen Veränderungsbedarf. Aber das liegt nicht bei mir, genauso wie es damals nicht bei Joachim Gauck lag, dass die Behörde seinen Namen angenommen hat. Das hat wohl vorwiegend damit zu tun, dass der originale Name ziemlich sperrig ist.
Wagener: Sie wollen andere Akzente setzen, haben Sie nach Ihrer Wahl gesagt. Verraten Sie uns welche?
Birthler: Ich habe gesagt, dass ich das für möglich halte. Ich sehe jetzt - das war meine wichtigste Bemerkung in diesem Zusammenhang - keine Veranlassung, das Ruder herumzureisen oder grundsätzlich neue Wege zu gehen. Inhaltlich habe ich ganz ähnliche Interessen wie Joachim Gauck. Wir beide sind von dem Interesse getrieben, Menschen oder auch Gruppen von Menschen dazu zu ermutigen, mit der eigenen Geschichte zu leben und sie auch ins Leben hineinzunehmen. Dass es möglicherweise andere Akzente gibt, das wird die Praxis zeigen. Ich bin anders. Ich bin eine Frau und ich habe eine andere Vorgeschichte. Das bleibt dann nicht aus. Möglicherweise verändern sich ja auch die Herausforderungen, vor denen die Behörde steht. Das wichtigste denke ich ist erst einmal eine Kontinuität, und mit der habe ich kein Problem. Im Gegenteil: die will ich!
Wagener: Sie treten just zu dem Zeitpunkt an, da die Akten mehr in Westdeutschland denn im Osten für Unruhe sorgen. Wie wollen Sie denn diesen Dreieckswiderspruch zwischen den Interessen der Forschung einerseits, des Datenschutzes und der Opfer andererseits auflösen?
Birthler: Ich finde es sehr erfreulich, dass allmählich die bundesdeutsche Öffentlichkeit auch zur Kenntnis nimmt, dass die Stasi ja nicht nur ein ostdeutsches Problem, sondern ein gesamtdeutsches Phänomen war. Es gab viele Opfer der Stasi im Westen, Opfer von Abhöraktionen, von Bespitzelung oder auch von Zersetzung. Uns hat die Frage zu interessieren, in welcher Weise und mit welchem Erfolg die Stasi versucht hat, westdeutsche Politik zu beeinflussen. Und wir müssen uns mit der Frage nach den IMs im Westen beschäftigen. Das Dreieck, von dem Sie gesprochen haben, wird immer nur auf dem Wege der Abwägung zu lösen sein. Sie sprechen jetzt sicherlich den Konflikt an um die Verwendung von Abhörprotokollen. Da müssen wir zum einen feststellen: westdeutsche Politiker, wenn sie abgehört wurden, sind damit zu Opfern der Stasi geworden und haben damit auch Anspruch auf den Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte, wie er im Gesetz geregelt ist. Das Gesetz sieht aber eben auch vor, dass Einsicht genommen werden kann in Akten von Opfern, wenn sie denn Personen der Zeitgeschichte sind, jedenfalls unter bestimmten Bedingungen und mit bestimmten Voraussetzungen. Hier muß im Einzelfall abgewogen werden. Ich habe den Eindruck, dass wir in einem Prozeß einer neuen Verständigung über die Praxis des Gesetzes stehen, bin gespannt wie sich das entwickelt. Als erstes werde ich mal die gesammelte Fachkompetenz, die in der Behörde vorhanden ist, nutzen, viele Gespräche führen auch auf der politischen Ebene. Ich glaube nämlich, dass künftig ein Verfahren nur dann Bestand hat, wenn es auch in einem weitgehenden Einvernehmen entwickelt wurde.
Wagener: Helmut Kohl hat seinen Streit mit Joachim Gauck über die Verwendung seiner Akten ja vertagt. Sie erben nun das Problem. Hier können, hier müssen Sie nun gleich als erstes abwägen.
Birthler: Ich habe ja eben schon gesagt, wie ich mir das denke. Ich glaube, es geht hier in diesem Falle nicht nur oder nicht in erster Linie um Akten über Helmut Kohl, sondern insgesamt um die Frage, ob Opferakten und unter welchen Voraussetzungen für Wissenschaft, für Publizistik und eben auch für Untersuchungsausschüsse gegebenenfalls verwendbar sind. Da ist es immer problematisch, wenn man das nur an einem Einzelfall entlang entscheidet, sondern man braucht hier ein Verfahren, das auch für verschiedene Fälle konsistent ist.
Wagener: Das Problem ist, dass Sie dieses Verfahren nun am prominentesten Fall durch deklinieren müssen?
Birthler: Deswegen wird es wichtig sein deutlich zu machen, dass es nicht nur um den einen Fall geht, sondern um eine Verfahrensfrage, die an ganz unterschiedlichen Stellen von Bedeutung sein kann.
Wagener: Fast eine halbe Million Menschen haben bis jetzt ihre Akten jeweils gelesen. Dennoch ist es nicht zu den anfangs befürchteten Racheakten gekommen. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?
Birthler: Es waren sogar insgesamt weit mehr als eine Million Menschen, die inzwischen Einsicht in ihre Akten genommen haben oder einen Antrag gestellt haben, in ihre Akten Einsicht zu nehmen. Ich glaube, die Erfahrungen damit bestätigen die, die das Gesetz seinerzeit wollte, dass die Einsichtnahme in die Akte ja ermöglicht, dass man genauer Bescheid weis über das, was die Stasi versucht hat, mal mit Erfolg, mal ohne im eigenen Leben anzurichten. Dieses Wissen darum gibt Menschen dann die Möglichkeit frei zu entscheiden, was sie mit diesem Wissen tun. Sie sind also wieder Herren ihrer eigenen Geschichte. Viele haben ein Gespräch gesucht. Viele haben die Dinge auf sich beruhen lassen. Es hat ihnen genügt, Bescheid zu wissen. Manche haben Anzeige erstattet aus nachvollziehbaren Gründen. Sie haben aber Recht: Mord und Totschlag wurde prophezeit; nichts davon ist passiert. Eigentlich ist die Akteneinsicht zu einem Instrument von Versöhnung geworden, wenn man Versöhnung so begreift wie ich es tue, nämlich als einen Prozeß, der auf der Grundlage von Wahrheit und von freier Entscheidung in Gang kommen kann.
Wagener: Wird Ihre Behörde 2010 noch existieren?
Birthler: Ganz sicher!
Wagener: Ihre Bilanz zehn Jahre deutscher Einheit. Wo stehen wir jetzt?
Birthler: Wir sind ein gutes Stück vorangekommen. Es ist immer die Frage, was muß eigentlich passiert sein, wenn man irgendwann konstatieren will, jetzt haben wir die deutsche Einheit. Ich glaube, ganz allmählich stellt sich in einigen Bereichen auch eine Balance her. Wir haben immer noch ein großes Übergewicht von westdeutschem Personal an allen Stellen, wo es um Verantwortung, Macht und Entscheidungen geht. Da gibt es hier und da schon mal eine hoffnungsvolle andere Entscheidung. Ich wünsche mir aber beispielsweise, dass es irgendwann auch möglich oder selbstverständlich sein wird, dass ostdeutsche Politiker in Westdeutschland ein wichtiges Amt übernehmen, zum Beispiel in einer Landesregierung. Das hatten wir bis jetzt nur anders herum.
Wagener: Die neue Bundesbeauftragte für das Stasi-Unterlagengesetz Marianne Birthler war das. Recht herzlichen Dank für das Gespräch!
Link: Interview als RealAudio