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"Es war eine jüdisch intellektuelle Wüste vorhanden"

Die Verfassung der Weimarer Republik stellte die jüdische Religionsgemeinschaft den christlichen Kirchen gleich. Durch orthodoxe, konservative und liberale Gemeinden entstand ein vielfältiges jüdisches Leben, das dann durch die Shoa völlig unterging. Das stellte einen Aufbau jüdischer Gemeinden nach 1945 vor große Probleme.

Günther Bernd Ginzel im Gespräch mit Rüdiger Achenbach |
    Rüdiger Achenbach: Versuchen wir einfach einmal den Abschnitt von der Weimarer Republik bis 1933 zu gehen. Hier wird die jüdische Religionsgemeinschaft ja zum ersten Mal richtig gleichgestellt. Nicht mehr der einzelne Jude als Staatsbürger wird anerkannt, sondern hier werden die jüdischen Kultusgemeinden als Religionsgemeinschaften anerkannt und werden zum ersten Mal Körperschaften des öffentlichen Rechts, also sozusagen den Kirchen gleichgestellt. Was bedeutete das?

    Günther Bernd Ginzel: Das bedeutete natürlich einen weiteren Schritt, der aber ganz folgerichtig war. Wir haben es ja in der Zwischenzeit mit einem sehr selbstbewussten deutschen Judentum zu tun, das ja auch sehr bewusst nun kämpferisch, fordernd seinen Anteil spielen will. Aber nicht unbedingt als Juden sondern als deutsche Staatsbürger jüdischer Abstammung, jüdischer Religion. Sie wollten eben in der Wissenschaft, in der Arbeit, in den politischen Parteien ihren Beitrag leisten zum Wohle des gesamten deutschen Vaterlandes, wie es dann so oft hieß.
    Achenbach: Es kommt ja dann in dieser Zeit, Kaiserzeit, und auch noch bis in die Weimarer Republik dieser Begriff vom jüdischen Stamm auf. Das heißt also, indem man versucht, innerhalb der deutschen Nation so wie die Bayern und die Sachsen der jüdische Stamm innerhalb Deutschlands zu sein.

    Ginzel: Das hat man auch vollkommen unbefangen gemacht, weil wir noch nicht den Siegeszug des Rasse-Antisemitismus hatten. Natürlich gab es zu diesem Zeitpunkt schon Rassisten und Rasse-Antisemitismus. Es gab antisemitische Parteien. Wir haben nicht gesprochen, was vielleicht auch ganz sinnvoll ist, über die dramatische, antisemitische Gegenbewegung – vor allen Dingen auch in den Zeitschriften, die den Kirchen nahe standen. Ganz besonders in der Kirchenpresse, die zu einem Hort der Reaktion, zu einem Hort der Predigt der Judenfeindschaft auf allen Gebieten der Kultur, des sozialen Lebens und der Religion wurde.

    Achenbach: Der Hofprediger Stöcker zum Beispiel.

    Ginzel: Hofprediger Stöcker. Der Bischof Kettler als Förderer der katholischen Arbeitnehmerschaft.

    Achenbach: Also gerade die soziale Bewegung.

    Ginzel: Gerade die soziale Bewegung, in dem man, um die Arbeiterschaft kämpfte, um die Ungerechtigkeiten in der neuen Gesellschaft zu mindern, – die Leute liefen den Kirchen ja weg, gerade die Arbeiterschaft – benutzte man das Mittel des Antisemitismus, um einen Schuldigen zu benennen. Dagegen kämpften Juden an, alle großen jüdischen Verbände, die konservativen, die Sportverbände. Wissen Sie, man hat ja so vieles übernommen. Juden versuchten Teil dieser deutschen Bewegung zu sein und stießen immer wieder auf Vorbehalte, teils national definiert, teils kulturell, teils religiös. An den Universitäten: Die Universitäten waren die, die am allerlängsten den Juden die gleiche Berechtigung verbieten wollten. Das blieb der christliche Professor. Es war auch eine Frage der Angst vor Konkurrenz bei den vielen jüdischen Studenten. Das Militär: Das Militär hat alles unternommen – bis in den Ersten Weltkrieg hinein. Mit Ausnahme etwa Bayern: Die bayrischen Garderegimenter waren die Ersten, die Juden als Offiziere zuließen. In den preußischen Regimentern – mein Großvater konnte ins Garderegiment zu Fuß, sehr stolz, er konnte Wache schieben –, aber die Reiter, die Eliteeinrichtung, die blieben ihnen verschlossen. Da konnten sie höchstens als Reservisten rein. Bis eben während des Ersten Weltkrieges Offiziere fehlten und da wurden dann auch Juden zugelassen. Also, Sie sehen, welch lang hinhaltender Kampf der etablierten Kräfte, die nach wie vor in der Gleichheit der Juden – in ihrer intellektuellen Mitarbeit, in ihrem wirtschaftlich erfolgreichen Mittun, in ihrem sozial Revolutionärem – Juden waren enorm aktiv im Bau von Blindenheimen, Taubstummenheimen, in der Hilfe für Behinderte, in der Gewerkschaftsbewegung, in der Arbeiterbewegung – in all dem sah man eine Verunsicherung. Man versuchte es zurückzudrängen und Juden kämpften dagegen selbstbewusst an. Alle jüdischen Verbände waren auch Antisemitismusabwehrverbände. Sie nahmen ihr Recht als gleichberechtigte Staatsbürger in einem Rechtsstaat wahr und bekämpften den Antisemitismus und die Reaktion.

    Achenbach: Wir sind bei 1933 und springen jetzt auf 1945. Wie konnte man nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt in Deutschland wieder ein neues Judentum aufbauen? Denn im Grunde genommen war ja alles in Trümmer gefallen, was vorher aufgebaut worden war. An eine jüdische Kultur war nicht mehr zu denken. Man konnte an kaum noch etwas anknüpfen. Welche Strukturen hat man gefunden, um überhaupt in diesem Land wieder ein Judentum aufzubauen?

    Ginzel: Gar keine, Herr Achenbach. Sie haben es schon richtig beschrieben. Das deutsche Judentum, so wie wir es eben beschrieben haben – mit seinem Selbstbewusstsein. Und zum Selbstbewusstsein dieses deutschen Judentums – auch ganz spezifisch im Jüdischen – gehört auch immer das Deutsche. Die Korrespondenz mit der Gesellschaft, das Empfinden, Teil dieses Staates zu sein. Und weil man es ist, konnte man auch frei, berechtigt, stolz Jude sein. Diese ganze Unbefangenheit, die war weg. Die wissenschaftlichen Einrichtungen zerstört. Die rabbinischen Akademien vernichtet. Die jüdischen Denker vertrieben oder ermordet. Es war eine jüdisch intellektuelle Wüste vorhanden. Und es waren praktisch keine Juden da. Die wenigen Juden, die auf deutschem Boden überleben konnten, werden auf maximal 15.000 geschätzt, überwiegend lebten sie in Mischehe.

    Achenbach: So viele waren allein schon im Ersten Weltkrieg als Soldaten gefallen.

    Ginzel: So viele waren schon als Soldaten gefallen. Und gleichzeitig war Deutschland plötzlich ein jüdisches Zentrum. Nämlich nach der Befreiung stellte man fest, durch die Todesmärsche aus den Vernichtungslagern des Ostens, der Schlussakkord dieses Dritten Reiches, sind Hunderttausende von Juden sterbend krank auf elendste Weise nach Deutschland getrieben worden. Die hingen plötzlich hier. Ungarische Juden, polnische Juden, litauische Juden, russische Juden und hatten eine tiefe Abneigung gegen alles, was mit Deutsch zu tun hatte, auch gegen das deutsche Judentum. Das hat eben diese Nazizeit nicht verhindert. Also, was war es schon?

    Achenbach: Da kam dann natürlich auch die Erinnerung wieder hoch, dass das deutsche Judentum eben diese kulturelle Blüte erlebt hatte und in dieser Weise sich natürlich auch von dem Judentum im Osten sehr stark abgehoben hat.

    Ginzel: Ja, zu mindestens von dem nicht-intellektuellen.

    Achenbach: Was ja zu Spannungen auch schon vorher geführt hat – im 19. Jahrhundert.

    Ginzel: Was zu großen Spannungen geführt hat, weil eben im Osten die Orthodoxie sehr bestimmend geblieben ist und die mit großer Verachtung auf das schaute, was kulturell und religiös in Deutschland geschaffen wurde. Andererseits – es gab natürlich auch immer eine große Bewunderung. Das muss jetzt natürlich auch gesagt werden. So einfach war das in Osteuropa nicht. Es gab eine enorme Bewunderung für deutschen Geist. Schiller, der Dichter der Freiheit, war einer der Heroen der osteuropäischen Juden. Sie hatten durchaus Deutschland, seine Kultur und seine Philosophie bewundert. Und dann kam Hitler. Dann kam Auschwitz. Da war ein Bruch. Dass in Deutschland Juden wieder leben sollten, wurde als Treppenwitz empfunden. Und die meisten hatten nur einen Gedanken: raus. Und die wenigen, die blieben, suchten nach Ausreden, warum sie blieben. Und erst in unseren Tagen wurde ein Prozess abgeschlossen, in dem Juden wieder mehr oder weniger selbstbewusst sagen: Wir sind Bürger. Sie knüpfen sozusagen an. Wir sind wieder Staatsbürger dieses Landes, wir sind Bürger dieses Rechtsstaates und wir wollen hier leben. Das trauen sich Juden in dieser Deutlichkeit – innerjüdisch vor allem – auch erst seit vielleicht 20 Jahren so deutlich zu sagen.

    Achenbach: Vorher stand natürlich immer die Alternative Israel auch im Raum.

    Ginzel: Es war ganz klar: Aus Deutschland musst du raus. Israel war die große Alternative. In Israel war sozusagen das Gegenbild. Das war das sich selbstverteidigende Judentum, das war das Judentum der Universitäten, das Judentum der gesellschaftlichen Experimente, der Kibbuzim, der jüdisch gerechten Gesellschaft, die man wenigstens anstrebte. Bis dieses Israel auch total verbürgerlichte und einen großen Teil seiner gesamten zionistischen Ideale hier über den Haufen geworfen hat. Das ist ja auch eine Entwicklung. Israel heute ist etwas ganz was anderes – die gleiche Ellbogengesellschaft, wie in Deutschland auch. Aber damals ...
    Achenbach: ... zur Zeit des Idealismus ...

    Ginzel: ... war Israel die Alternative.

    Achenbach: Nach Ihrer Meinung, wie schätzen Sie die Situation heute ein? Gibt es ein neues kulturelles Leben nach diesen Jahrzehnten in Deutschland, im Judentum?

    Ginzel: Ja. Es hat zum Teil begonnen, ohne dass die meisten es gemerkt haben. Und zwar zeigt es sich weniger daran, dass sich jetzt hier die ersten nach alter Tradition, aber mit neuen Inhalten bildenden liberalen und reformierten Zirkel herauskristallisieren. Das ist ganz schön. Es gibt wieder eine neue innerjüdische Diskussion um die Stellung der Frau, über die Stellung zum Staat, über die Stellung zur Mehrheitsgesellschaft. Und was das Wichtigste ist: Man beginnt wieder zu forschen, man beginnt wieder Bücher zu schreiben zu den jüdischen Quellen. So hatte einmal die Blütezeit des Judentums in Deutschland begonnen mit der Suche, was ist das Judentum, worauf bauen wir auf. Das müssen wir lesen, das müssen wir einer breiten Gemeinschaft zur Verfügung stellen, auf dass ein jeder sich bilden kann. Mit dem, was in diesen 200 Jahren deutscher Blütezeit entstanden ist, die grundlegenden Schriften der Auseinandersetzung zwischen Orthodoxie und Reform, beginnt von daher eine neue innerjüdische Diskussion über das eigentliche Wesen des Judentums. Und ich denke mir, e s wird über lange Zeit wieder einen lebendigen Pluralismus geben. Und die innerjüdische Diskussion um den rechten Weg war immer das Lebenselixier des Judentums schlechthin – vollkommen gleichgültig, wie man sich dann individuell entscheidet.