Kommentar zum ESC
Politische Fragen ganz bewusst zulassen

Politisch war der Eurovision Song Contest immer, kommentiert Rainer Pöllmann. Aber 2024 habe sich etwas verändert. Gut orchestrierte Kampagnen hätten den ESC erreicht. Destruktiven Aktivisten könne aber der Wind aus den Segeln genommen werden.

Ein Kommentar von Rainer Pöllmann |
    Eden Golan aus Israel betritt die Bühne beim Finale des Eurovision Song Contest (ESC) 2024 in der Malmö Arena. Der größte Gesangswettbewerb der Welt steht unter dem Motto "United By Music". (Wiederholung mit verändertem Bildausschnitt)
    Die Sängerin Eden Golan aus Israel war beim Eurovision Song Contest Anfeindungen ausgesetzt (picture alliance / dpa / Jens Büttner)
    Der ESC sei unpolitisch, wie oft haben wir das in den letzten Wochen gehört?
    Aber war er das jemals? Unpolitisch? Schon die Gründung 1956: ein politischer Akt im Zeichen der Völkerverständigung nach Nazi-Horror und Weltkrieg. 1998: Dana International, Trans-Künstlerin, gewinnt den ESC – sie kommt übrigens aus Israel. 2016: dann der Triumph von Conchita Wurst. Die Begeisterung der LGBTQ-Bewegung für den ESC hat ihren Grund. Und der ESC hat manches dazu getan, Vorurteile gegen queere Menschen abzubauen. 2021: der überwältigende Sieg der Ukraine – was war das anderes als ein politisches Zeichen?

    Politisches Signal der ESC-Basis

    Und 2024: gewinnt mit Nemo eine non-binärere Person. Und die angefeindete israelische Sängerin Eden Golan bekommt vom Publikum die zweitmeisten Stimmen. Auch das darf man wohl als politisches Signal der ESC-Basis verstehen.
    Politisch war der ESC also immer. Nicht im geopolitischen, sondern in einem gesellschaftspolitischen Sinn. Nicht als Spielball von Kampagnen, sondern vergleichsweise autonom, aus innerem Antrieb. Aber das hat sich 2024 geändert. Gut orchestrierte Kampagnen haben den ESC erreicht, attackieren den Wettbewerb und einzelne Personen. Und längst agiert diese Kampagne auch im Inneren des ESC. Künstler*innen machen eine Künstlerin nieder – in diesem Jahr keine Seltenheit.
    „United by Music“. Wie wäre es, wenn alle das Motto, wenn alle die Kraft der Musik, die da immer floskelhaft beschworen wird, mal wirklich ernst nähmen? Nicht nur für Friede-Freude-Eierkuchen und ausgiebige Party. Sondern als starke soziale Kraft, auch im gesellschaftlichen Diskurs.

    Bekenntnis zu universell geltenden Menschenrechten

    Was soll, was kann der ESC sein? Wozu ist dieses Schaufenster mit hunderten von Millionen im Publikum gut? Für netten Glamour-Pop mit weichgespülten Botschaften? Inhaltlich wie übrigens auch musikalisch, gerade was die deutschen Beiträge angeht. Oder wäre gerade diese weltumspannende Plattform auch für mehr gut?
    Was spricht dagegen, den lauten, destruktiv und unterkomplex agierenden und argumentierenden Aktivisten den Wind aus den Segeln zu nehmen und politische Fragen ganz bewusst zuzulassen im ESC? Eine Vielfalt der Stimmen, der Ansichten, der Positionen, die die Heterogenität der Welt musikalisch widerspiegelt – verbunden durch das gemeinsame Bekenntnis zu universell geltenden Menschenrechten als unbedingte Voraussetzung?
    Natürlich, das Ganze ist nicht ungefährlich. Die Halbdistanz zum politischen Tagesgeschehen wäre mehr denn je notwendig. Und eine kluge Rahmensetzung. Um zu verhindern, dass die Musik von der Politik vereinnahmt wird. Der ESC als Kommentar- oder sogar Kampfplatz der Weltpolitik – das wäre wirklich das Ende der Veranstaltung. Aber eine musikalische Auseinandersetzung mit der Welt, wie sie im avancierten Pop übrigens völlig normal ist – das wäre doch ein Fortschritt. Vielleicht würden sich dann auch mal wieder deutsche Künstler*innen von Rang um die Teilnahme bewerben.
    Glitzer und Glamour und Feuerzauber, wie 2024 bei fast jedem Auftritt, würde es auch weiterhin geben. Aber zugleich mehr Ernsthaftigkeit. Im Vertrauen darauf, dass Musik wirklich von unserem Leben erzählt. Von den Differenzen, aber, wenn alles gut geht, auch von Versöhnung und Freiheit.