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Esi Edugyan: "Washington Black"
Per Luftschiff eine abenteuerliche Flucht aus Barbados

Dem Sklavenjungen George Washington Black gelingt 1830 eine abenteuerliche Flucht von einer Plantage auf der Karibikinsel Barbaros. Er kommt bis nach London und hilft mit, das erste Salzwasser-Aquarium der Welt zu schaffen. Esi Edugyan erzählt die afroamerikanische Geschichte im Abenteuerformat.

Von Paul Stoop | 06.09.2019
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Die kanadische Autorin Esi Edugyan erzählt von der Sklaverei ((c) Tamara Poppit of Poppy Photography.)
Das Kind trägt einen großen Namen: George Washington. Vollständig ist dieser Name aber nur mit dem Zusatz "Black". Gerufen wird der schwarze Sklavenjunge George Washington Black knapp "Wash". Wir begegnen ihm im Jahr 1830 auf der westindischen Insel Barbados, die zum britischen Empire gehört. Dort ackert der elternlose Elfjährige auf den Zuckerrohr-Feldern – ein so genannter Feldnigger ohne Rechte, ohne Schutz und voller Angst vor der Willkür seines Besitzers.
In Esi Edugyans Roman schildert Wash rückblickend sein Schicksal bis zu seinem 28. Lebensjahr. Wash geht einen abenteuerlichen Weg in die Freiheit, erfährt aber gleichzeitig die tiefe und bleibende Prägung durch die Unfreiheit der Kindheit.
Freiheit – erst nach dem Tod?
Inmitten der Brutalität des Sklavenalltags hat Wash eine Beschützerin, genannt Big Kit, eine aus dem westafrikanischen Dahomey verschleppte starke, grimmige Frau. Sie erzählt dem Jungen von ihren Träumen, in denen sie Sklaven sieht, die nach dem Tod wieder lebendig werden – als freie Menschen in ihrer afrikanischen Heimat:
"Ich habe sie gesehen", flüstert sie. "Wir alle haben sie gesehen. Wir wussten, was sie waren." "Und sie waren glücklich?"
"Sie waren frei."
Ich konnte spüren, wie mich die Erschöpfung des Tages überkam. "Wie ist das, Kit? Frei sein?"
"Oh, Kind, das ist wie nichts in dieser Welt. Wenn du frei, du kannst machen, was du willst." Staunend schloss ich die müden Augen. "Stimmt das wirklich?"
Freiheit, objektive wie subjektiv empfundene, ist ein Hauptthema dieses Romans. Mit Hilfe von Titch, dem grüblerischen Bruder seines Besitzers, gelingt es Wash von der Plantage zu fliehen. Das gemeinsame Fluchtfahrzeug ist ein ballonartiges Luftschiff, der "Wolkenkutter", bei dessen Bau Wash Interesse an der Wissenschaft entwickelt.
Alleingelassen vom Retter
Das ungleiche Paar strandet zunächst in der Arktis, wo Titch seinen Vater sucht, einen berühmten Naturforscher. Ohne Erklärung verlässt Titch den Jungen. Der ist nun auf sich allein gestellt und flieht per Schiff nach Nova Scotia, das auch zum britischen Empire gehört. Selbst nachdem dort die Sklaverei abgeschafft ist, bleibt Wash verunsichert. Ein Kopfgeldjäger, beauftragt von seinem ehemaligen Besitzer, bleibt dem freien jungen Mann auf den Fersen.
Allmählich scheint Wash, dessen Zeichentalent Titch gefördert hat, in Nova Scotia so etwas wie Frieden zu finden. Nicht zuletzt die Bekanntschaft mit dem berühmten Meeresforscher G.M. Goff und dessen Tochter Tanna gibt ihm Selbstvertrauen. Goff ist begeistert von Washs Tierzeichnungen.
Ein folgenreicher Unfall
Herkunft, Hautfarbe und ein zusätzliches Handicap hemmen Wash aber immer noch. Beim Bau des Wolkenkutters hat er durch eine Explosion schwere Verbrennungen im Gesicht erlitten. Auch wenn Tanna – selbst nicht ganz weiß – ihm Mut zuspricht, fällt es Wash schwer, an sich selbst zu glauben:
"Die verunstaltete Visage, die ich gezwungen war zu tragen wie eine unliebsame Warnung an meine Umwelt, war ihr vertraut, eine Maske, die sie selbst kannte. Sie schien dahinter sehen zu können und etwas von ihrem eigenen Leid, aber auch dessen Heilung, wiederzuerkennen – das Akzeptieren einer lebensverändernden Verletzung und den Willen, weiterzumachen."
Wash schafft es weiterzumachen. Eine gemeinsam mit Vater Goff entwickelte Idee wird zu einem großen Projekt öffentlicher Wissenschaft: die Ausstellung lebender Meerestiere in London, das erste Salzwasser-Aquarium der Welt.
Das rasante Finale führt Wash und Tanna – inzwischen ein Paar – nach Amsterdam und Marrakesch. Dort taucht am Ende Titch wieder auf. Washs Enttäuschung, dass sein Befreier und erster Lehrer ihn vor Jahren allein gelassen hat, wirkt nach. Titch wirbt um Verständnis. Er sei gehemmt gewesen von der Enge und Menschenfeindlichkeit in seiner Familie und habe Wash mit dem eigenen Verschwinden den Weg in die Autonomie ebnen wollen.
Keine Verständigung zwischen Weiß und Schwarz
Die beiden finden nicht zueinander, wie sich im Gespräch zeigt. Wash spricht Titch jede Möglichkeit der Empathie ab
"Was ist schon die Wahrheit über ein Leben, Titch? Ich bezweifle, dass selbst der Mann, der es lebt, die Antwort kennt. Die wahre Natur des Leidens eines anderen wirst Du niemals nachvollziehen können."
Esi Edugyan erzählt packend. Geschickt hat sie die Flucht- und Findungs-Story über mehrere Kontinente konstruiert. Manches Rätsel der ersten Kapitel wird erst gegen Ende der Geschichte gelöst, durch märchenhaft anmutende Zufälle oder den Spürsinn der handelnden Personen.
Die Vielfalt der Themen und die manchmal ausufernde Erzählfreude mindern aber die Kraft dieses Romans. In der Schwebe bleibt, ob die Schande der Sklavenwirtschaft, der Weg eines jungen Menschen in die Wissenschaft oder die Lebensbürde von Kindheitserfahrungen den Kern der Geschichte ausmacht.
Historischer Hintergrund trifft Fiktion
In Zeiten großer Aufmerksamkeit für das Thema Sklaverei und Rassismus lässt sich ein Vergleich kaum vermeiden. "Washington Black" ist deutlich weniger zwingend als der Pulitzer-gekrönte Roman "Underground Railroad" von Colson Whitehead. Auch der hat seiner historisch-realistischen Story manches fiktionale Element beigegeben. Edugyans fantastischem Wolkenkutter entsprach bei Whitehead das unterirdische Eisenbahn-Netz zu einer Zeit, als es noch keine Züge gab.
Doch Colson Whiteheads Erzählweise ist konzentrierter und eindringlicher. Der Blick auf Whiteheads grandiose Geschichte zeigt die Grenzen von Edugyans Roman auf. Der ist lesenwert, aber letztlich nicht mehr als unterhaltsam.
Esi Edugyan: "Washington Black"
aus dem Amerikanischen Anabelle Assaf
Eichborn Verlag, Köln
512 Seiten, 24 Euro