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Essay
"Der Detektiv ist der Staat im alltäglichen Ausnahmezustand"

Der französische Soziologe Luc Boltanski untersucht in seinem großen Essay "Rätsel und Komplotte", wie die Entstehung der literarischen Gattung Kriminalroman mit ihrem politischen Umfeld zusammenhängt. Warum hatten die Spannungsgeschichten um Verbrechen und Strafe ihre Blütezeit ausgerechnet in Frankreich und England?

Von Sigrid Brinkmann | 12.03.2014
    Um die Beantwortung der Frage, warum Leser Kriminalromane verschlingen und die alten Geschichten von Sherlock Holmes, Pater Brown und Kommissar Maigret noch heute übermäßig viele Leser finden, kommt Luc Boltanski nicht herum. Er weiß, Leser mögen es, dass Kriminal- und Spionageromane von Anfang an als soziologische Gattungen auftreten. Auch, dass sie die Realität der Realität infrage stellen, denn alles und jeder ist potenziell verdächtig. Und drittens: Sie schärfen unseren Sinn für die Grenze zwischen Bewusstem und Unbewusstem, Absichtlichem und Unabsichtlichem, Ordnung und Unordnung - haben also eine metaphysische Dimension. Auf Seite 65 formuliert Luc Boltanski schließlich sein Anliegen:
    "Offen gestanden bestand das Wesentliche für mich [...] darin, die Beziehungen zwischen dem Auftreten einer literarischen Form und der Entwicklung von Arten der Regierung in deren politischem Umfeld hervorzuheben."
    Und hier die These: Kriminal- und Spionageroman konnten als spezifische Gattungen nur in England und Frankreich entstehen, weil beide bei der Bildung des modernen Staates und politischer Systeme eine maßgebliche Rolle spielten.
    "Der autoritäre Staat ist für die Entwicklung des Kriminalromans nicht besonders günstig."
    Zu groß ist dessen Wille, die Realität zu formen. Boltanski aber interessiert sich gerade für Situationen, in denen der Anspruch des Staates, die Realität in den Griff zu bekommen, für einen Moment ins Leere läuft. Und er sucht in der Literatur Szenen, in denen ein Verbrecher seine Tat "in den Ritzen der Realität" verbirgt. Denn es gibt sie ja zuhauf, diese Leute, die Lücken schaffen "zwischen der vordergründig sichtbaren Realität und der realen Realität. [...] Sie haben nämlich verstanden, dass die Realität faktisch weniger robust ist, als sie auf den ersten Blick erscheint. Und diese Intelligenz teilt der Verbrecher [...] mit dem Gesellschaftskritiker, aber auch mit dem Soziologen."
    So zwielichtig wie die Wirklichkeit
    Das Besondere dieser umfangreichen Schrift, für die Luc Boltanski in Frankreich 2012 mit dem Petrarca-Preis für Essayistik geehrt wurde, ist die methodische, mitunter aber auch assoziative Weise, mit der er die eigene Disziplin hinterfragt. Er hat Sinn für Ironie, und diesen Abstand zu sich selbst braucht es auch, denn der anmerkungsreiche Text ist streckenweise sehr exkurslastig und verliert an Kraft durch subtil mäandernde innerfachliche Debatten. Dennoch gewinnt man den Eindruck - und das macht Boltanskis Recherche noch glaubwürdiger -, dass er die Soziologie für ebenso zwielichtig wie die Wirklichkeit selbst hält. Manche Unterkapitel handeln explizit von der "Dummheit der Soziologen" oder ihrem "Aberglauben". Auf jeden Fall, meint Boltanski, ähneln sie Ermittlern, allerdings eher den Detektiven als den polizeilichen Beamten.
    "Der Detektiv ist der Staat im alltäglichen Ausnahmezustand."
    Und er ist "ein Mann der Tat". Arthur Conan Doyles Figur Sherlock Holmes ist für Boltanski der Prototyp eines Ermittlers; einer, der seine Untersuchungen "über jedes vernünftige Maß" hinaus betreibt, der einem Deutungswahn folgt. Holmes' ganzes Streben trägt paranoische Züge. Der deutsche Arzt Emil Kraepelin machte den Begriff "Paranoia" in seinem1899 erschienenen "Lehrbuch für Psychiatrie" populär.
    "Man kann die Hypothese aufstellen, dass sich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in unsere Tage in einer Gattung der Populärliteratur, in der Erfindung einer neuen Geisteskrankheit, in einer Disziplin mit wissenschaftlichem Anspruch und im Gemüt von zahlreichen, wenn nicht allen Personen ein und dieselbe Art von Verunsicherung niedergeschlagen hat."
    Luc Boltanski beugt sich konsequenterweise und ausführlich über die Anfänge seiner Disziplin. So zeichnet er nach, wie Max Scheler die Paranoia aus dem individualpathologischen Bereich herauslöste und ihr eine Tendenz zur Sozialpathologie zuschrieb. Scheler prägte das Bild vom "Ressentimentmenschen als Verkörperung der Moderne". Interessant ist das Kapitel "Die Paranoia-Epidemie", in der Boltanski nachzeichnet, wie der psychiatrische Begriff zu einem Topos des politischen Journalismus wie der Politikwissenschaft wurde - zeitgleich häufte sich die Verwendung des Ausdrucks "Verschwörungstheorie". Beide Bewegungen seziert der Autor und bewegt sich nun partiell auch in der Gegenwart, wo Aktionen von französischen Öko-Aktivisten und Atomkraftgegnern für Spekulationen sorgten. Und für Festnahmen und Anklagen einer kleinen Gruppe von Anarchisten, die 2008 als die "Neun von Tarnac" bekannt wurden und gegen die noch immer kein Urteil gesprochen wurde.
    Maigrets Anthropologie
    Nicht fachkundige Leser mögen viele Kapitel dieses knapp 500 Seiten langen, wunderbar genau von Christine Pries übersetzten Essays ermüden. Sich erholen und doch auch anregen lassen kann man sich von hintersinnigen Passagen, die der Anthropologie des französischen Ermittlers schlechthin gewidmet sind: Kommissar Maigret.
    "Nicht jeder hat das Glück, Polizist zu werden. Diese Menschlichkeit, die den Kern seines Charakters bildet, erlaubt ihm, die Leute, die gewöhnlichen Leute zu verstehen und zu spüren [...] und das erlaubt ihm auch, sie zu identifizieren, zu jagen und sie ins Kittchen zu stecken (wenn auch häufig 'schweren Herzens'). Aber diese Menschlichkeit kann ihn in einigen Fällen auch dazu bewegen, sich großherzig zu zeigen und darauf zu verzichten, sie zu verhaften, damit sie Selbstmord begehen oder eines natürlichen Todes sterben können (zum Beispiel durch Alkoholismus wie Jaja, die Besitzerin der Liberty-Bar) ..."
    Mitgefühl und gewöhnlicher Sadismus, den Maigret von Amts wegen ausüben muss, gehen Hand in Hand. Der "beste", effiziente Polizist ist Maigret, wenn er sich menschlich zeigt. Brillant ist der Epilog, in dem Luc Boltanski Kafkas Roman "Der Prozess" heranzieht, um zu zeigen, dass die Geschichte die Literatur kopierte. Im "Prozess" ist der Staat allgegenwärtig, aber er tritt nur in Form eines Komplotts in Erscheinung. Nichts kann mehr bestimmt werden. Den kritischen Soziologen führt dies zu einer pessimistischen Schlussbetrachtung, der gemäß wir uns angewöhnt haben,
    "unsere, mit Verbrechen, Rätseln und Komplotten gespickte, immer wieder von ihrer Doppelgängerin bedrohte Realität [...] als ebenso anormal wie banal zu betrachten. Zwielichtig, aber spannend. Die Realität eben."
    Luc Boltanski: "Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft".
    Aus dem Französischen von Christine Pries. Suhrkamp Verlag, Berlin, 2013, 485 Seiten, 39 Euro
    Luc Boltanski
    Unter den französischen Soziologen ist Luc Boltanski eine Koryphäe: Er war Schüler von Pierre Bourdieu, seine Schriften erzielen hohe Auflagen. Der inzwischen 71 Jahre alte Wissenschaftler leitet noch immer eine renommierte Pariser Universität (EHESS), an der die Soziologie mit der Psychologie und der Philosophie, den Rechtswissenschaften, der Linguistik und noch weiteren Fächern zusammen geführt wird.
    Interdisziplinäres Denken ist ihm geläufig, und den Anstoß für sein neuestes Buch gab die Familie: die Tochter Historikerin, der Sohn Reporter, die Ehefrau befasst sich beruflich mit der Einsetzung von internationalen Gerichtshöfen, und der Bruder ist ein passionierter Leser englischer Kriminalromane. Zuhause wurde das Gerüst entworfen, das seiner essayistischen Studie "Rätsel und Komplotte" zugrunde liegt.