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Essayistik als Gesellschaftsbild
Textbekenntnisse. Von schonungslosen Essayistinnen

Das Ich hat Konjunktur. Ich soll an mir arbeiten, ich soll mich selbst verwirklichen, ich soll ganz ich selbst sein. Autobiografische Essays sind dabei zu einer weitverbreiteten Textgattung aufgestiegen und hängen gleichzeitig vielen Lesern zu den Ohren heraus.

Von Miriam Zeh | 07.04.2019
Die Politologin und Philosophin Hannah Arendt
Die Philosophin Hannah Arendt (picture alliance / dpa)
Von einer gesamtgesellschaftlichen Tendenz zur Individualisierung spricht der Soziologe Ulrich Beck ab Mitte der 1980er-Jahre. Wie man Ich sagen kann, ohne ins Sentimentale, Rührselige und unangenehm Bekenntnishafte abzudriften, zeigen die schonungslosen Essayistinnen des 20. Jahrhunderts.
Hannah Arendt, Mary McCarthy und Susan Sontag schreiben mit einem trocken-analytischen Blick über sich selbst. Doch weil sie Frauen sind, werden sie dabei immer wieder auch als herzlos, unpersönlich, kalt und mitleidslos bezeichnet.
Zu Unrecht, meint Miriam Zeh und liest die Essayistinnen ihrer Wahl als Gegenprogramm einer Gesellschaft der Singularitäten, in der, wie der Kultursoziologe Andreas Reckwitz kürzlich feststellte, Streben nach Selbstständigkeit, Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung längst nicht mehr freiwillig geschieht. Es ist zur gesellschaftlichen Erwartung geworden.
Miriam Zeh ist Literaturwissenschaftlerin und -kritikerin. Sie arbeitet am germanistischen Institut der Goethe-Universität in Frankfurt und in der Buchredaktion des Deutschlandfunks.

Das Ich hat Konjunktur.
Das Ich hat Konjunktur. Ich soll mir Zeit für mich nehmen, ich soll an mir selbst arbeiten, ich soll mich selbst verwirklichen. Ich soll ganz authentisch und unverwechselbar sein. Dieser Zeitgeist der Singularisierung, wie der Soziologe Andreas Reckwitz ihn nennt, schlägt sich auch in literarischen Formen nieder. Im Jahr 2011 rief der deutsche Schriftsteller und Kolumnist Maxim Biller die "Ichzeit" aus. Gegenwartsautoren brächten keine vollkommen fiktiven Hirngespinste mehr aufs Papier. Sie verbürgten sich für ihre Texte mit ihrem Körper und mit ihrer persönlichen Biografie. Maxim Biller stellt fest, dass Autoren wie Jörg Fauser oder Rainald Goetz auf radikal ehrliche Weise das eigene Ich, ihre Erfahrungen und ihre Lebensgeschichte in ihren Büchern verarbeiten. Damit setzten sie einen Trend und begründeten die literarische Superego-Epoche.
Fast jedes der bedeutenden deutschen Bücher der vergangenen Jahre kommt in der ersten Person Singular daher - oder zumindest ist der Protagonist dem Autor zum Verwechseln ähnlich. Das ist kein Zufall. Nur ein kräftiges Erzähler-Ich kann die faszinierende, den Leser mitreißende Illusion erzeugen, dass der Erzählende und der Schreibende ein und dieselbe Person sind.
Während Maxim Biller der "Ichzeit" ausschließlich deutschsprachige Romane zuordnet, hat die Beschäftigung mit dem Selbst im anglo‑amerikanischen Raum eine eigene Gattung: den "personal essay". Ebenso wie die Textzeugnisse der "Ichzeit" basieren personal essays auf den Erfahrungen ihrer Verfasser. Sie sind allerdings nicht fiktional, sondern intim. Der personal essay verrät etwas Wahres über seinen Verfasser.
In deutschen Buchhandlungen stehen solche persönlichen Essaybände oft in der Abteilung fürs Sachbuch, weil der deutsche Buchmarkt kein eigenes Segment für nicht-fiktionales Erzählen ausweist. Der personal essay nimmt allerdings im Sachbuchregal eine Sonderstellung ein. Journalistische oder wissenschaftliche Textformen vermeiden die erste Person Singular in der Regel, um neutral und objektiv auf ihre Leser zu wirken. Am Anfang eines personal essays dagegen steht oft ein selbstbewusstes "Ich denke" oder "Ich fühle". Ins Deutsche ließe sich diese individualisierte Textsorte deshalb vielleicht am treffendsten übersetzen als: Essay mit starkem Ich. So ein Essay mit starkem Ich kann mitunter ein Bekenntnis sein. Und in einer Kultur der Individualisierung und Selbstthematisierung bleiben diese Textbekenntnisse nicht nur professionellen Autoren vorbehalten.
Das Ich im Bekenntnisessay
Innerhalb der ersten Dekade des neuen Jahrtausends stieg der personal essay zu einer beliebten Textgattung auf. US-amerikanische Journalisten beobachteten geradezu einen personal essay-Boom. Von seriösen Presseerzeugnissen wie dem "New York Times Magazin" und dem "Guardian" bis hin zu boulevardesken OnlinePlattformen wie "BuzzFeed" oder "Slate" richtete beinahe jedes Medium eine eigene Rubrik für personal essays ein. Hier veröffentlichten nun nicht nur professionell Schreibende, sondern auch Laien intime bis traumatische Lebenserfahrungen. Aktuelle Titel dieser Bekenntnisreihen lauten "I dropped two nuclear bombs", zu deutsch: Ich habe zwei Atombomben abgeworfen. Oder "I was stabbed in the eye by a drawing pin" - Mir wurde mit einer Reißzwecke ins Auge gestochen. Vielleicht gehören Sie zu den Menschen, die sich jetzt fragen: Wen sollen solche selbstbezogenen Laien-Texte interessieren? Die Journalistin Jia Tolentino fragt sich das auch. In einer Polemik für den "New Yorker" spottet sie:
"Es gibt eine bestimmte Art von persönlichem Essay, die vermutlich seit Langem schon kein Leser mehr ausstehen kann. Diese Essays werden hauptsächlich von Frauen geschrieben. Sie wirken deplatziert, das Urteilsvermögen der Autorinnen oft dürftig. Alles ist zu persönlich: Das Thema ist entweder zu seicht oder aber zu bedeutsam und intim, um es so offenherzig vor einer anonymen Leserschaft auszubreiten."
Nicht zufällig verbreiteten sich diese autobiografischen Bekenntnisessays, von denen hier die Rede ist, besonders rasant übers Internet. Private Weblogs und soziale Internetplattformen wie Facebook bieten ihren Nutzern neue Möglichkeiten, ausführlich und öffentlich über das eigene Leben zu berichten. Wer nun aber kulturpessimistisch und technikfeindlich denkt, erst das Internet hätte die Klage über eine exzessive literarische Beschäftigung mit dem Ich hervorgebracht, liegt falsch. Bereits 1905 lamentierte die britische Schriftstellerin Virginia Woolf in ihrem Text "The Decay of Essay Writing", auf deutsch etwa "Der Niedergang der Essayistik", dass der literarische Markt neuerdings mit personal essays überschwemmt werde. Schuld daran sei die flächendeckende Alphabetisierung der britischen Bevölkerung im 19. Jahrhundert. Sie hätte eine ganze Armada neuer "Schriftsteller" erschaffen, die zwar alle Buchstaben beherrschten, aber völlig unfähig wären zu schreiben:
"Diese Essayisten schreiben, weil ihnen die bloße Fähigkeit dazu gegeben wurde. Einen Schreiblehrer allerdings hatten sie nie, sodass wir nun besser weniger Essayisten hätten. Es gibt freilich einige herausragende Schreiber, die das Medium des persönlichen Essays aus wahrer Inspiration heraus bedienen, weil es die Seele ihres Gedankens verkörpert. Die meisten allerdings zeichnen sich durch verhängnisvolle Faulheit im Denken aus. Ihr Gehirn setzt ein rein mechanischer Akt des Schreibens in Bewegung, obwohl dieses doch nur für einen höheren Geist empfänglich sein sollte."
Das klingt doch beinahe nach einer Kritik, die auch heute noch von Skeptikern so formuliert werden könnte: Zu viele Menschen schreiben zu viele schlechte Essays über sich selbst. Das galt für die britische Mittelschicht zu Beginn des 20. Jahrhunderts offenbar ebenso wie für die individualisierte US-amerikanische Gesellschaft unserer Gegenwart.
Ein Phänomen allerdings lässt sich erst seit einigen Jahren beobachten. In unserem individualisierten Zeitgeist ufert das Schreiben über sich selbst nicht nur aus. Es wird auch immer öfter zu einer selbsttherapeutischen Praxis. In Essays mit starkem Ich bedienen sich Laien- wie Profi-Autoren in zunehmendem Maße eines psychotherapeutischen Vokabulars. Galten früher psychische Krisen als Defekt, den man schamhaft versteckte, kommt heute kaum eine Promi-Biografie aus ohne eine lebenserschütternde, heute aber erfolgreich überwundene Depression, Suchterkrankung oder Angststörung. Der psychotherapeutische Diskurs eignet sich eben besonders gut dafür, sich intensiv mit dem eigenen Ich zu beschäftigen und systemische Bedingungen oder übergeordnete Zwänge zugleich vollkommen außer Acht zu lassen. Die renommierte israelische Soziologin Eva Illouz erkannte das als eine der ersten. Sie schrieb bereits 2008:
"Durch ihre Aufforderung, uns in uns selbst zu versenken, hat die therapeutische Überzeugung uns dazu gebracht, den wichtigen Bereichen des bürgerlichen Engagements und der Politik den Rücken zu kehren. Sie kann auch keine nachvollziehbare Verbindung zwischen dem privaten Selbst und der Öffentlichkeit anbieten, weil sie das Selbst seines gemeinschaftlichen und politischen Gehalts beraubt und diesen durch eine narzisstische Selbstbespiegelung ersetzt hat."
In ihrem Buch "Die Errettung der modernen Seele" skizziert Illouz den Siegeszug des therapeutischen Denkmodells vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in unsere Gegenwart. Illouz fasst den Begriff "Therapie" dabei in einem weiten soziologischen Sinn auf. Sie versteht darunter nicht nur die konkrete Situation beim professionellen Psychotherapeuten, sondern die Summe der ratgeberhaften und emotionsorientierten Gegenwartskultur - von Weight Watchers über begleitete Ehegespräche in TV-Talkshows bis hin zum Motivationscoaching auf Instagram.
Ich sagen ohne Sentimentalität: Hannah Arendt
Doch muss der persönliche Essay, muss das Schreiben über sich selbst sofort in ein peinliches, in ein narzisstisches und emotionales Geständnis ausarten? Kann man nicht "Ich" sagen, ohne ins Sentimentale, ins Rührselige und unangenehm Bekenntnishafte abzudriften? Ich finde, man kann. Es gibt eine ganze Reihe von amerikanischen Essayistinnen, die für ihren unsentimentalen, schonungslosen und direkten Blick auf sich selbst zu bewundern sind. Sie bewahren stets eine gewisse Distanz zu sich selbst. Sie beobachten ihre Emotionen und Erregungen immer mit einem skeptischen Sicherheitsabstand.
Eine wichtige Vorarbeit für diese Tradition leistete Hannah Arendt. In ihrem weltberühmten Bericht über den Prozess gegen den SS‑Obersturmbannführer Adolf Eichmann in Jerusalem spricht die Philosophin bekanntlich nicht über sich selbst, wohl aber über Artikulationsformen menschlicher Traumata und über den Umgang mit diesen Zeugnissen. Anfang der 1960er-Jahre fand in den USA zwar eine breite öffentliche Diskussion über den Völkermord der Nationalsozialisten statt, auch anhand autobiografischer Dokumente. Millionen von Lesern hatten "Das Tagebuch der Anne Frank" gelesen und Primo Levis Bericht "Ist das ein Mensch?" über seine Gefangenschaft in Auschwitz. Aber erst mit dem Eichmann-Prozess im Jahr 1961 verloren Holocaust-Erfahrungen ihren Stigma-Charakter. Denn vor dem Gericht in Jerusalem kamen zahlreiche Auschwitz-Überlebende als Zeugen zu Wort. Während Schilderungen psychischer Traumata in personal essays heute eine prominente und anerkannte Stellung einnehmen, war das gesellschaftliche Klima in den Sechzigerjahren weitaus sensibler: Sollte man überhaupt öffentlich über den Holocaust sprechen und wenn ja, wie? In diese Verunsicherung platzte Hannah Arendts oft ironischer und für viele Menschen skandalöser Report "Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen". Ihr Buch löste eine Flutwelle an Rezensionen und Erwiderungen aus. Zu den bekanntesten zählt Arendts Briefwechsel mit ihrem langjährigen Freund Gershom Scholem, 1963 im "Mitteilungsblatt" veröffentlicht. Scholem kritisiert das Schreiben, vor allem Haltung und Ton der Freundin aufs Heftigste. Immerzu betone sie eine Schwäche des globalen Judentums, die Scholem zwar nachvollziehbar findet, in Arendts besonderer Hervorhebung dieser Schwäche aber will er einen hämischen Unterton herauslesen:
"Warum hinterlässt Ihr Buch bei mir solch Gefühl der Bitterkeit und Scham, und zwar nicht über das Referierte, sondern über die Referentin? Die Antwort, soweit ich eine habe, und die ich Ihnen gerade weil ich Sie so hoch achte, nicht unterdrücken kann, muss Ihnen sagen, was in dieser Sache zwischen uns steht. Es ist der herzlose, ja oft geradezu hämische Ton, in dem diese, uns im wirklichen Herzen unseres Lebens angehende Sache, bei Ihnen abgehandelt wird."
Besonders schwer wiegt hier Scholems Vorwurf der Herzlosigkeit. Denn mit zwei verschiedenen sprachlichen Wendungen bezieht er sich auf Arendts fehlendes Herz. Zum einen verwendet Scholem den hebräischen Ausdruck "Ahabath Israel". Er bezeichnet die Liebe zu Israel und zu den Juden. Zum anderen taucht das heute veraltete deutsche Wort "Herzenstakt" auf, welches eine allgemeine Empfindsamkeit oder Sensibilität anzeigt. Scholem wirft seiner Freundin damit eine fehlende Liebe für die jüdischen Menschen, fehlende Empathie für ihr Leiden, aber auch eine emotionale Taubheit im Allgemeinen vor. Oder anders formuliert: Die Besonnenheit und Neutralität der Philosophin provozieren ihn. Viel stärker hätte sie sich im Schreiben von ihren Gefühlen und von ihrem Herzen leiten lassen sollen, verlangt Scholem. Darauf entgegnet Arendt:
"Die Rolle des 'Herzens' in der Politik erscheint mir im Allgemeinen höchst fragwürdig. Wie oft denen, die Tatsachen berichteten, Mangel an 'Herzenstakt' vorgeworfen wurde, wissen Sie so gut wie ich. Wir beide wissen, mit anderen Worten, wie oft öffentlich zur Schau gestellte Gefühle benutzt werden, um die Wahrheit zu verschleiern."
Arendts Plädoyer für einen kühlen Kopf ist in unseren heutigen hochemotionalen und populistisch aufgeheizten Diskussionen so aktuell wie damals. Ihre schonungslose und vermeintlich empathielose Herangehensweise stellte nach dem Zweiten Weltkrieg mitnichten eine Schwäche dar, sondern eine ethische Entscheidung. Ein klarer, unsentimentaler Blick stellt sich entschlossen den Problemen und Tatsachen und erlaubt dadurch mitunter eine neue Sichtweise.
Besonders deutlich wird das an einer Stelle in Arendts Bericht über "Eichmann in Jerusalem". Sie schildert eine der zahlreichen Zeugenaussagen von HolocaustÜberlebenden, die sie besonders beeindruckt hat: Zindel Grynszpan erzählt, wie er im Rahmen einer menschenverachtenden Massenvertreibung aus dem Deutschen Reich gejagt wurde. Seine Art, von diesem Trauma und Leid zu sprechen, beschreibt Arendt als "klar und fest, ohne Ausschmückung, nicht ein Wort zuviel".
"Nicht einer, weder vorher noch nachher, konnte es mit der unantastbaren schmucklosen Wahrhaftigkeit des alten Mannes aufnehmen."
Sein nüchterner Blick habe den Zuhörern erlaubt, sich der Realität seines Leidens zu stellen und nicht bloß den Emotionen, die dieses Leiden hervorgerufen hat. Hannah Arendt glaubt wie Zindel Grynszpan an die direkte Benennung der Schmerzen, ohne Trost oder Ausgleich anzubieten. In ihrer Herzlosigkeit liegt zugleich eine Möglichkeit zur Erkenntnis.
Sicherlich liegt es näher, mit einem Begriff wie Herzlosigkeit ein Defizit zu bezeichnen, wie auch Scholem es bei der Freundin getan hat. Schließlich wird angezeigt, was fehlt. Doch zweifelsohne hat Scholems Zuschreibung von Herzlosigkeit nicht nur, aber auch mit Arendts Geschlecht zu tun. Für alle schonungslosen Essayistinnen des ausgehenden 20. Jahrhunderts gilt, dass ihre Unsentimentalität eine riskante Entscheidung war. Stoizismus galt zwar als bewundernswerte Attitüde beim Mann. Als Frau aber war Arendt dafür die falsche Protagonistin. Wärme, Affekt und Sensibilität waren stereotype Eigenschaften, die seit Jahrhunderten mit dem weiblichen Geschlecht verknüpft waren - und es immer noch sind. Die Frau hat der Engel im Haushalt, die gute Zuhörerin zu sein, die Schulter, an der man sich ausweint. Arendts Entscheidung für eine Entfremdung von diesen Rollenklischees und für ihren ungeschönten Blick auf Auschwitz stieß deshalb auf Widerstand.
Trockene Begegnung: Arendt und McCarthy
Auch allerdings auf Zuspruch, zum Beispiel von einer weiteren schonungslos schreibenden Frau. Die Autorin Mary McCarthy wurde von ihren Kritikern gern als "unerbittlich", "brutal" "herzlos" oder "distanziert" beschrieben. Ebenso wie Arendt also nahm man McCarthy aufgrund ihrer Texte als unterkühlte Persönlichkeit wahr. Dazu passt auch eine folgenreiche, doch eher trockene Begegnung der beiden Autorinnen, die McCarthys Biografin Carol Brightman beschreibt:
"Eines Abends, in den späten 1940er-Jahren, fanden sich Hannah Arendt und Mary McCarthy nebeneinander am U-Bahn-Gleis wider, gehüllt in betretenes Schweigen. Sie waren auf dem Heimweg von einer Redaktionssitzung des politics-Magazin, für das sie beide seit einiger Zeit arbeiteten. Nach einem verheerenden ersten Zusammentreffen auf einer Party sechs Jahre zuvor hatten sie jedoch kein Wort mehr miteinander gewechselt. Da ging Arendt auf McCarthy zu und sagte in ihrer typischen ungehobelten Art: 'Hören wir auf mit dem Unsinn. Dafür denken wir beide zu ähnlich.'"
Die Frauen entschuldigten sich beieinander. Und so begann eine der lebendigsten intellektuellen Freundschaften des letzten Jahrhunderts. Ähnlich wie Arendt, die einen herzlosen und klaren Blick auf die Realität werfen wollte, glaubte auch McCarthy nicht an Gefühle, sondern an Fakten. Sechs Jahre jünger als Arendt, machte McCarthy sich in den 1950er-Jahren vor allem als Kritikerin, Essayistin und Reisejournalistin einen Namen. Mit welcher Gründlichkeit sich Mary McCarthy Fakten und Tatsachen verpflichtet hat, zeigt sich in ihrer ersten Autobiografie "Eine katholische Kindheit". Das Buch ist eine Sammlung von Erinnerungsstücken, die McCarthy zuvor schon sukzessiv im "New Yorker" veröffentlicht hatte. Für die buchförmige Zusammenstellung fügte die Autorin nun mehrere Zwischenabschnitte ein, in denen sie die Faktizität ihrer Sammlung reflektierte und keine sentimentalen oder fiktionalen Ausschmückungen duldete.
"Während ich an diesen Memoiren arbeitete, wünschte ich so manches Mal, Erdichtetes zu schreiben. Die Versuchung zu fabulieren war sehr stark, hauptsächlich dann, wenn die Erinnerungen nebelhaft wurden und ich das Wesentliche eines Ereignisses, nicht aber seine Einzelheiten im Gedächtnis trug - die Farbe eines Kleids, die Muster eines Teppichs, den Platz eines Bildes. Der Leser wird sich fragen, warum ich meine Geschichte damit in eine entschieden schwächere, sogar literarisch schwächere, nicht immer wahrscheinlich wirkende abgewandelt habe."
Warum sich McCarthy ausschließlich an die schmucklose und oft lückenhafte Wahrheit gehalten hat, wird dem Leser bei der Lektüre dieser Autobiografie allmählich klar. McCarthy legt dieselbe Hartnäckigkeit, mit der sie als Journalistin und Reisereporterin ihre Fakten überprüfte, auch an sich selbst an, wenn sie zum Sujet ihrer Texte wird. Den gleichen unerbittlichen Blick richtet sie nicht nur auf ihre Außenwelt, auf die US‑amerikanischen Interventionen in Vietnam etwa, eine ihrer berühmtesten Reisereportagen. Ohne Beschönigung befragt und beforscht sie in "Eine katholische Kindheit" auch sich selbst, ihre eigenen Interpretationen und Erinnerungen.
Mary McCarthy hält es für ihre Pflicht, an Fakten festzuhalten, selbst wenn oder gerade weil ihr bewusst ist, wie provokativ diese Haltung sein kann. Gemeinsam mit Hannah Arendt und einigen anderen Schriftstellerinnen und Intellektuellen plante sie, ein Magazin zu gründen. Es sollte "Critic" heißen, zu deutsch: Kritiker oder Kritikerin, und einen klaren Blick für Fakten und Tatsachen in den US-amerikanischen Journalismus zurückbringen. Das Projekt scheiterte und bedauerlicherweise wurde niemals auch nur eine einzige Ausgabe des "Critic" publiziert. Doch in einem kämpferischen Ankündigungstext für dieses Magazin schreibt McCarthy programmatisch:
"Fakten halten jeder Manipulation stand. Sie sind widerständig insofern, als sie Gedanken stützen, insofern, als sie auf eine sture Art wahr sind und so gegen die Strukturen der Massengesellschaft und der Massenmedien rebellieren. Fakten, nicht Autoren, sind sozial anstößig. Sie allein wahrzunehmen erscheint bereits kritisch - unerhört, unhöflich, wie eine unabweisbare Frage."
Für Mary McCarthy gehört es zum Berufsrisiko einer Journalistin, als unverschämt oder unnachgiebig verurteilt zu werden. Denn auch ihre Kritiker hoben mit ihrer Wortwahl immer wieder McCarthys Geschlecht hervor. So wurden ihre Texte in Rezensionen mit Messern verglichen, mit Skalpellen, Klingen, aber eben auch mit Stiletto-Absätzen. Auf Fotografien ist die Autorin stets elegant gekleidet zu sehen, oft in kariertem Tweed. Dieser Stil sollte ihr in der New Yorker Kultur-Szene bald den Beinamen der "finsteren Dame" (dark lady) einbringen - bis Mitte der 1960er-Jahre. Da wurden Neider auf eine neue nachdrückliche weibliche Stimme aufmerksam: Susan Sontag wurde mit ihrem Essay "Notes on Camp", in deutscher Übersetzung: "Anmerkungen zu Camp", im Herbst 1964 schlagartig berühmt. Doch unter die Bewunderung mischten sich auch gehässige Stimmen. So schreibt der neokonservative Norman Podhoretz nicht ohne Häme über Susan Sontags Erfolg als Essayistin:
"Ihr Talent erklärt ihren Aufstieg. Die Geschwindigkeit aber, mit der er vonstattenging, ist der zufälligen Verfügbarkeit einer vakanten Position zuzuschreiben. Diese Position war die der 'finsteren Dame' der amerikanischen Literatur, eine Position, die in den Dreißiger- und Vierzigerjahren von Mary McCarthy geprägt wurde. Doch Fräulein McCarthy besetzte sie nicht mehr, sie war jüngst zur würdevolleren Grande Dame avanciert, als Entlohnung für viele Jahre hervorragender Dienste. Die nächste 'finstere Dame' müsste wie sie sein, klug, gebildet, gutaussehend und fähig, dieselben typischen Kritiken zu verfassen."
Schicksal schonungsloser Essayistinnen: Susan Sontag
So klein ist die Welt der 1960er-Jahre also für schonungslose Essayistinnen. Es durfte immer nur eine davon geben, eine pro Land und eine pro Generation. Als ließen sich mehr von ihnen nicht verkraften.
Einer Anekdote zufolge sollen sich Mary McCarthy und Susan Sontag kurz darauf bei einer Cocktailparty zum ersten Mal begegnet sein. Und angeblich wandte sich McCarthy bei dieser Gelegenheit an die jüngere Sontag mit den Worten:
"Ich habe gehört, Sie sind die neue Ich?"
Verbürgt ist dieser Zwischenfall allerdings nicht, genauso wenig wie eine Konkurrenz oder Feindschaft zwischen den beiden Autorinnen. Bezeichnend scheint doch eher, dass diese ungesicherte Anekdote auch Jahrzehnte später noch im Umlauf ist. Zu gern wird eben auch heute das misogyne Klischee der Stutenbissigkeit bemüht - auch unter Essayistinnen, die eigentlich ähnliche Ansichten vertreten.
Susan Sontag hegte dasselbe Misstrauen gegen überbordende Gefühle wie Arendt und McCarthy. Auch sie zog die emotionale Selbstregulierung vor. Doch war ihr Ziel kein totales Gefühlsembargo. Sontag ging es eher darum, die Kontrolle über ihre innere Verfasstheit zu behalten, um ein moralisches Urteil fällen zu können. Warum das wichtig ist, verdeutlicht Sontag etwa in ihrem Essay "Über Fotografie". Hier nähert sie sich ihrem Land und seiner Geschichte über Fotografien von Folter und Leid, die Anfang der 1970er-Jahre durch die Medien gingen. Im Vietnamkrieg avancierte die Kriegsfotografie gewissermaßen zu einer zweiten medialen Propagandafront. Sontag warf vielen Kriegsreportern vor, dass sie der Kreation möglichst spektakulärer Bilder und damit oft sekundären Geschichten mehr Aufmerksamkeit widmeten als dem eigentlichen Kriegsschauplatz. Die Fotografien büßten dadurch an dokumentarischem Wert ein und vor allem an Glaubwürdigkeit. Für Sontag verloren außerdem die Betrachter dieser Kriegsbilder ihren Realitätsbezug und betäubten ihre moralischen Gefühle.
"Hat man einmal solche Bilder betrachtet, dann ist man bereits auf dem Weg, mehr davon zu sehen - und immer mehr. Je öfter man mit solchen Bildern konfrontiert wird, desto weniger real erscheint das betreffende Ereignis. Für das Böse gilt dasselbe wie für die Pornographie. Die Schockwirkung fotografierter Gräueltaten lässt bei wiederholter Betrachtung nach, genau wie die Überraschung und Verwirrung, mit denen man den ersten pornographischen Film betrachtet, nachlassen, sobald man sich weitere ansieht."
Das Fotografieren von Krieg und Leid ist für Sontag ein Nicht-Einmischen ins Geschehen. Immer bleibt ein gewisser Abstand zwischen dem Fotografen und seinem Objekt. Auch der Betrachter wird nicht involviert und so löst das abgebildete Leid keine ethische Reflexion des Krieges aus. Nach und nach verläuft sich eher die Schockwirkung der Bilder.
Ähnlich skeptisch wie der Kriegsfotografie steht die Essayistin Susan Sontag der Darstellung ihres eigenen Leidens gegenüber. In den Siebzigerjahren wurde bei ihr zum ersten Mal Krebs diagnostiziert, nach einer intensiven Therapie wurde sie jedoch als geheilt aus dem Krankenhaus entlassen. Über ihre Erfahrungen schrieb sie den Essay "Krankheit als Metapher". Darin plädierte Sontag dafür, selbst die verhängnisvollsten Diagnosen nie zu dämonisieren, sondern den Kampf gegen Krebs so kenntnisreich, aufgeklärt und nüchtern wie möglich zu führen. Damals konnte Sontag noch nicht wissen, dass sie den Krebs nicht endgültig besiegt haben sollte. 2004 starb die Autorin an Leukämie. Doch selbst wenn sie das gewusst hätte - ihre Überzeugungen wären vermutlich dieselben geblieben und Sontag hätte in "Krankheit als Metapher" wahrscheinlich trotzdem nicht von ihrem eigenen Kummer und ihrer Verzweiflung nach der Diagnose erzählt. Es wäre ihr wohl genauso grenzüberschreitend und geschmacklos vorgekommen wie die Kriegsfotografie.
"Es wäre meines Erachtens nicht hilfreich gewesen - und hilfreich sollte mein Büchlein ja sein - zum soundsovielten Male 'aus der Sicht einer Betroffenen' zu schildern, wie jemand von seiner Krebserkrankung erfährt, wie er weint, mit dem Schicksal hadert, sich tröstet, leidet und wieder Mut fasst - obgleich das auch meine Geschichte gewesen wäre."
Essays ohne autobiographische Details
Die Entscheidung, autobiografische Details aus ihrem Essay herauszuhalten, verdeutlicht Susan Sontags grundlegende Mission. Extreme Gefühle gibt es ihrer Meinung nach bereits genug, auf der Welt überhaupt und bei Krebsdiagnosen im Besonderen. Sie schreibt nüchtern und mit scharfen Verstand dagegen an. Das Buch sollte ein Welterfolg werden. "Unpersönlich" nannten es einige Kritiker jedoch auch.
Damit teilt Susan Sontag das Schicksal der unsentimentalen Essayistinnen Hannah Arendt und Mary McCarthy. Arendts Bericht über "Eichmann in Jerusalem" stieß eine weltweite Debatte an über ihre Urteilskraft und über ihren angeblich "herzlosen" Charakter. McCarthy wurde als "mitleidlos" beschrieben, die Journalistin Joan Didion als "kalt" und heute gilt etwa die Schriftstellerin Mary Gaitskill als "vollkommen unsentimentale" Frau. Dabei hätte Gaitskills Biografie reichlich Potenzial für dramatische Enthüllungen und herzergreifende Bekenntnisse geboten. Als Teenager schmiss sie die Schule, lief von zu Hause fort, verdiente ihr Geld als Sexarbeiterin und wurde in die Psychiatrie eingeliefert, bevor sie schließlich Autorin wurde. Trotzdem behält Gaitskill in ihren Essays einen nüchtern-analytischen Blick. Sie lässt ihre Erfahrungen und Emotionen aufblitzen, nicht jedoch ihr Urteil trüben.
Wenn Gaitskill wie alle anderen schonungslosen Essayistinnen nun als "eisig", "herzlos" und "klinisch kühl" beschrieben wird, haben diese Urteile auch mit dem Geschlecht der Essayistinnen zutun. Ähnliche Diagnosen werden sich über ihre männlichen Kollegen kaum finden lassen. Das weibliche "Ich" in ihren persönlichen Essays provoziert, gerade weil es nicht einfühlend, nicht emotional oder bekenntnishaft ist. Ihr trockener und kühler Blick behält eine Distanz zum Beschriebenen, eine Distanz zum eigenen Ich und zum Leser. Was bei diesen Frauen oft als Mangel an Gefühl beschrieben wird, ist eine ästhetisch und erkenntnistheoretisch wertvolle Entscheidung. Denn nur aus einer gewissen Distanz gelingt Arendt, McCarthy und Sontag eine emotionale Expressivität, ohne sich der heillosen Selbst-Fetischisierung oder der schamlos sentimentalen LeserManipulation zu bedienen. Gerade indem der unsentimentale Blick dieser schonungslosen Essayistinnen eine "intimate grossness" - wie Ralph Waldo Emerson es einst nannte, eine intime Grobheit - vermeidet, ermöglicht er neue Dimensionen von Analyse und Kritik. Diese Distanz zur Welt und zu uns selbst brauchen wir heute vielleicht mehr denn je.