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Essenzielle Fragen ohne Antworten

Haruki Murakamis Kurzgeschichten sind dicht und schnörkellos und sehr verstörend. Eine Antwort auf die Fragen, die sich dem Leser stellen, eine Auflösung der Rätsel gibt der Autor nur in ganz wenigen Storys. In seinem Kurzgeschichtenband "Blinde Weide, schlafende Frau" ist Murakami in all seinen Facetten zu entdecken.

Von Simone Hamm | 15.01.2007
    Immer wenn sich ein Taifun ankündigt, geht der junge Mann in den Zoo. Seinem Freund leiht er seinen dunklen Anzug, den er nie trägt. Der Freund und Ich-Erzähler leiht ihn sich oft. Er trägt ihn auf Beerdigungen. Seine Freunde sterben. Einer nach dem anderen. Er ist 28 Jahre alt.

    "Meine Freunde waren ungefähr gleichaltrig, 27, 28, 29 ... kein Alter, um zu sterben. Dichter sterben mit einundzwanzig, Revolutionäre oder Rockmusiker mit vierundzwanzig, von da an aber sollte alles gut gehen, meint man. Man hat die legendäre Todeskurve gekratzt und den feuchten, dunklen Tunnel durchquert. Danach geht's auf einer sechsspurigen Autobahn schnurgerade dem Ziel zu (auch wenn man keine Lust hat, voranzukommen). Wir schneiden uns die Haare kurz und rasieren uns allmorgendlich. Wir sind weder Dichter noch Revolutionäre noch Rockmusiker. Wir schlafen nicht mehr betrunken in einer Telefonzelle ein, saufen nicht mehr bis zur Besinnungslosigkeit, hören nicht mehr morgens um vier bei voller Lautstärke Platten von den Doors. Stattdessen schließen wir bei Bekannten Versicherungen ab, trinken an Hotelbars und sammeln Zahnarztrechnungen, um sie von der Steuer abzusetzen. So ist das mit achtundzwanzig."

    Aber so ist das natürlich nicht bei Protagonisten von Haruki Murakami. Die, die die dunkle Kluft zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit (oder umgekehrt die dunkle Kluft zwischen Unwirklichkeit und Wirklichkeit) noch nicht überwunden haben, die also, die leben, sind zutiefst verunsichert. Haruki Murakami hat der Geschichte der gestorbenen Freunde den Titel "Das New Yorker Gruppenunglück gegeben". Doch die Protagonisten sind nicht die Grubenarbeiter, es sind der Mann, der bei Taifun im Zoo ist, sein Freund, der zu Beerdigungen geht, eine Frau, die auf einer Silvesterparty behauptet, einen Bekannten getötet zu haben, indem sie ihn in einen Bienenkorb stieß.

    Der Tod ist überall, allgegenwärtig. Man kann ihn spüren und riechen. Erst auf den allerletzten Zeilen geht Murakami auf das Gruppenunglück ein. Die Gruppenarbeiter blasen ihre Lampen aus, damit sie Luft sparen. Der Rest bleibt Assoziation.

    In Murakamis Kurzgeschichtenband "Blinde Weide, schlafende Frau" treffen die Leser alte Bekannte wieder: den jungen Studenten aus dem Roman "Naokos Lächeln", der in einem Studentenwohnheim lebt, das von einer anrüchigen Organisation um einen ultrarechten Typen geleitet wird, die menschenfressenden Katzen von der griechischen Insel aus dem Roman Sputnik Sweetheart.

    Es sind Kurzgeschichten aus 22 Jahren. Momentaufnahmen. Ein Mann im Rollstuhl, der ein Jagdmesser zeigt, eine müde aussehende Frau im Zugabteil, die ihre Tochter grundlos zurechtweist, eine Frau, die sich an der Brust ihres Liebhabers ausweint, ohne dass er weiß, warum, ein Mann aus Eis, der seine Frau immer weiter in ein Leben aus Kälte hineinzieht bis hin zum Nordpol.

    Murakami ist mit seinen Romanen berühmt geworden, doch er liebt es, Kurzgeschichten zu schreiben. Hier könne er neue Ideen ausprobieren, hier brauche er weder Struktur noch Form, hier könne er essenzielle Fragen stellen und die Antworten offen lassen, betont er. Seine Ideen für die Kurzgeschichten kommen überall her, aus Träumen, von dem, was er im Restaurant an Nachbartischen aufschnappt, aus einer fast vergessenen Erinnerung.

    Murakamis Kurzgeschichten, dicht und schnörkellos und sehr verstörend. Eine Antwort auf die Fragen, die sich dem Leser stellen, eine Auflösung der Rätsel gibt der Autor nur in ganz wenigen Storys. Nur der diebische Affe weiß, warum die Frau ihren eigenen Namen immer wieder vergisst. Trotzdem sind diese Geschichten geradezu atemberaubend spannend. Murakami ist immer dann am Eindringlichsten, wenn er seine Kurzgeschichten abgleiten lässt ins Fantastische, Metaphysische.

    "Blinde Weiden haben sehr viel Blütenstaub, und wenn kleine Fliegen, an denen er haftet, einer Frau ins Ohr kriechen, fällt sie in tiefen Schlaf."

    In seinem Kurzgeschichtenband "Blinde Weide, schlafende Frau" ist Murakami in all seinen Facetten zu entdecken. Der genaue Beobachter, der Fantast, der Interpret scheuer, beinahe keuscher Liebesgeschichten, der kühle Betrachter der großstädtischen Einsamkeit aber auch der Gefangene des Literaturbetriebes: In der "Der Aufstieg und Fall von Knasper" stellt ein junger Mann bei einem Wettbewerb eine neue Variante der Süßigkeit Knasper her. Es sind die großen schwarzen Knasperkrähen, die darüber zu entscheiden haben, ob seine neue Kreation gelungen ist oder nicht. Die Knasperkrähern stürzen gierig sich auf die neuen Knasper. Sie scheinen zu schmecken. Andere Krähen hacken wütend nach den Hälsen der Pickenden. Die Krähen richten ein Blutbad an, und der junge Mann verlässt fluchtartig den Raum. Er verzichtet auf das Preisgeld. So und nicht anders muss Murakami sich als junger Autor gefühlt haben, von der Kritik geliebt und zerfetzt.

    Auch ein modernes Volksmärchen seiner Generation - er wurde 1949 geboren - hat Murakami geschrieben. Und hier wird er zum heftigen Kritikers des japanischen wie des globalen Kapitalismus:

    "Damals bekam man nicht zu allem unlesbare dreibändige Handbücher mitgeliefert. Das meine ich mit der konkreten Form, von der ich gesprochen habe. Früher konnte man einfach den Gegenstand an sich einpacken und nach Hause tragen, wie man ein Huhn auf dem Markt kauft, einfach und unmittelbar. Ursache und Wirkung gingen Hand in Hand, Thesen und Wirklichkeit umarmten einander völlig selbstverständlich. Allerdings waren die 60er wahrscheinlich die letzte Epoche, in der die Dinge auf diese Art funktionierten. Ich persönlich bezeichne diese Zeit als die 'Vorgeschichte des Spätkapitalismus'."

    Aber natürlich hält sich Murakami mit dererlei Analysen nicht lange auf, erzählt von Mädchen, von wilden, glücklichen, traurigen Sex und davon, wie wichtig die Jungfräulichkeit in den 60er Jahren noch war.

    Die fünf letzten Kurzgeschichten aus dem Jahr 2005 sind die dichtesten und die merkwürdigsten. Das Fantastische, Surreale liegt immer ganz nah unter der Oberfläche: ein Detektiv auf der Suche nach einem Mann, der auf der Treppe zwischen zwei Stockwerken spurlos verschwunden ist, die Frau, die ihren eigenen Namen vergisst, der nierenförmige Stein, der sich jeden Tag an einem anderen Platz befindet, obwohl ihn niemand berührt hat.

    Eigentlich ist der damit wieder angekommen bei seinem ersten und sicher immer noch einem seiner besten Romane "Wilde Schafsjagd", der gerade endlich als Taschenbuch wiederaufgelegt worden ist. Da gleitet der namenlose Ich-Erzähler auf der Suche nach der Frau mit den schönen Ohren, von der realen in eine Schattenwelt. Auch in seinen Kurzgeschichten schreibt Murakami so lakonisch, so beiläufig, dass die Leser sich über auch das Surreale, Unerklärliche nicht wundern. Natürlich können Affen sprechen und Steine wandern.