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Esther Gerritsen: "Der große Bruder"
Eine Beinamputation und ihre Folgen

Das Buch "Der große Bruder" thematisiert das Verhältnis einer Frau zu ihrem Bruder. Seine plötzliche Beinamputation verändert das Leben der Familie - in ihrem neuen Roman zeichnet die Autorin Esther Gerritsen diese Umwälzung nach.

Von Katharina Borchardt | 20.04.2018
    Mehrere Beinprothesen wurden an eine Wand gelehnt
    Beinprothesen (EPA)
    Der neue Roman von Esther Gerritsen beginnt mit einem Paukenschlag:
    "Ihr Bruder rief sie an, kurz bevor er sein Bein verlieren sollte."
    Marcus heißt "Der große Bruder". Er ist Ende 50, lebt prekär und hat bereits seit vielen Jahren Diabetes. An seine Diätvorschriften hält er sich nicht. Und Insulin spritzt er nur, wenn er mal dran denkt. Pech gehabt: Jetzt müssen Fuß und Knöchel amputiert werden. Und ein Stück vom Unterschenkel gleich mit, denn nur dort wird man später eine Prothese befestigen können. Direkt vor der Operation ruft Marcus seine Schwester Olivia an, zu der er sonst kaum Kontakt hat. Sie hat als BWLerin Karriere gemacht, sitzt gerade in einer Gesellschafterversammlung und stellt sich sofort das Schlimmste vor.
    "Eine Säge schnitt gerade durch das Bein ihres Bruders. Plötzlich hatte sie das Bild der kurzen Sporthosen vor Augen, die Marcus als Junge getragen hatte. Ihre Wut richtete sich auf den, der sägte. Das hätten sie doch verhindern können, es ging zu weit, es musste andere Möglichkeiten geben, wie konnten sie nur ... an unserem Körper ... unserem Körper, hatte sie gedacht, als wären Gliedmaßen Familienbesitz."
    Olivia verlässt die Versammlung in einem Amsterdamer Familienbetrieb überstürzt und rast mit dem Auto nach Nimwegen, wo ihr Bruder im Krankenhaus liegt. Die Autorin Esther Gerritsen, die selbst in Amsterdam lebt, aber aus der Nähe von Nimwegen stammt, hat in ihrem Roman "Der große Bruder" eine sehr persönliche Erfahrung verarbeitet.
    "Mein Vater war krank und teilte mir am Telefon mit: Ich werde operiert, und vielleicht nehmen sie mir das Bein ab. Soweit kam es dann glücklicherweise nicht, aber ich war überrascht, wie sehr mich das Ganze mitnahm. Er hatte Krebs und war schon länger krank gewesen. Aber in dem Moment, als die Ärzte sagten, sie müssten ihm einen Körperteil abnehmen, war ich total durch den Wind. Ich dachte: Wow, es gibt Dinge, die schießen dir quer durch die Ratio, direkt in den Bauch. Das wurde dann der Aufhänger für meine Geschichte."
    Diese Geschichte wurde das Boekenweekgeschenk, das Bücherwochengeschenk 2016. Eine Woche lang bekam jeder das Buch gratis mit, der in den Niederlanden und in Flandern für mindestens 12,50 Euro Bücher kaufte. So erklärt sich die enorme Auflage von gut 600.000 Stück. Den Auftrag vergibt die CPNB, eine Stiftung für Leseförderung. Wenn die einen Autor im Auge haben, rufen sie nicht einfach an. Sie stehen plötzlich vor der Tür, erzählt Esther Gerritsen:
    "Ich hatte einen Termin mit meinen Verlegern. Dachte ich zumindest. Wir saßen also bei mir zu Hause beim Kaffee und waren dabei, mein letztes Buch zu evaluieren. Und plötzlich standen da zwei Männer mit Blumen vor der Tür, und die meinten: Wir kommen zum Kaffee! Und dann fragen sie einen, ob man das Boekenweekgeschenk schreiben will."
    Einzige Vorgabe: 96 Seiten
    Eine große Ehre, so ein Auftrag, und auch ein echter Karriereschritt für jeden Autor. Denn größere literarische Bekanntheit kann man im Flachland zwischen Groningen und Brüssel auf einen Schlag kaum erlangen. Vorgaben zum Buch gab es keine. Bloß der zu produzierende Umfang war festgelegt: 96 Seiten. Die deutsche Übersetzung fällt etwas länger aus, und doch ist "Der große Bruder" natürlich ein schmaler Roman. Esther Gerritsen erzählt darin, wie Marcus nach der Amputation bei seiner Schwester und ihrer Familie einzieht. Einer wohlsituierten Amsterdamer Familie mit zwei Söhnen, die ihr gemeinsames Leben sehr pragmatisch angeht. Den emotionalen Grundton setzen Olivia und ihr Mann Gerard selbst.
    "Sie verabscheuten beide Sentimentalität und Gejammer. Wenn man zu viel grübelte, ging man am besten Tennis spielen. Sie spielten oft Tennis. Es war ein ungeschriebenes Gesetz in ihrer Beziehung, dass Erwachsene nicht über ihre Kindheit klagten."
    Auch, wenn es für Olivia einiges zu klagen gäbe. Stattdessen kompensiert sie, wo sie nur kann: mit gut bezahlten Jobs und einer großzügig geschnittenen, blitzblanken Wohnung. Bevor sie mit dem Auto zu ihrem frisch operierten Bruder rast, fährt sie sogar noch schnell durch die Waschstraße. Sicherheit durch Ordnung. Es sind solche kleinen, ganz beiläufig eingeflochtenen Beobachtungen, mit denen Esther Gerritsen die Figuren in all ihren Büchern präzise charakterisiert. Später werden Bruder und Schwester auch einmal aus einer Flasche trinken, ohne den Rand vorher abzuwischen.
    Allerdings tritt Gerritsens Talent fürs kleine Charakteristikum in diesem Buch weniger hervor als etwa in ihrem herausragenden Roman "Mutters letzte Worte", in dem sie die Liebe einer Autistin zu Dingen beschrieb. Vielleicht liegt es an der vorgegebenen Kürze des "Großen Bruders", dass Gerritsen Inneres weniger als sonst durch Verhalten zeigt oder in andeutungsreichen Dialogen mitschwingen lässt. Stattdessen erklärt sie die Dinge hier etwas zu häufig. Etwa, wenn Olivia ihrem Bruder Marcus langsam wieder näherkommt und mit ihm über ihre gemeinsame Kindheit spricht:
    "Sie spürte die Schuld, die zu groß war, die sie loswerden wollte. Er war ein Junge, den man vernachlässigt hatte, dessen Leben leichter wurde, als er eine kleine Schwester bekam, derer er sich annehmen musste. Sie trösten zu können war sein Trost gewesen. Doch sobald sie groß genug war, hatte sie ihn verlassen. Und er war wieder allein. Ihr Mitleid mit ihm war immer mit Schuld vermischt gewesen."
    Hier hat der personale Erzähler seine Figuren zu stark im Griff. An anderen Stellen aber erzeugt seine hautnahe Außenperspektive eine große Intensität. Etwa, wenn der beinamputierte Marcus bei Olivias Familie einzieht, viel weint und mit seiner Emotionalität die ganze Familie anrührt.
    Veränderungen kommen in Gang
    Veränderungen kommen in Gang. Vater Gerard wandelt sich dabei etwas zu plötzlich von einem tennisspielenden Zahnarzt in einen zugewandten Vater, Ehemann und Schwager. Olivia aber entgleiten ihre Gewohnheiten langsamer. Der Erzähler, der sie durch den ganzen Roman begleitet, beschreibt genau, wie sie eines Abends an Marcus statt in der Reha-Klinik übernachtet und sich ihrer Business-Kleidung Schicht für Schicht entledigt. Das alles in der für Esther Gerritsen so typischen Sprache: schlichte Sätze, einfaches Vokabular – keine Ornamente, direkt zur Sache.
    "Ich will alles so präzise wie möglich erfassen. Deswegen schreibe ich jeden Satz immer fünfmal um. Ich bin die ganze Zeit damit beschäftigt, ihn klarer und einfacher zu machen, damit sich dem Leser seine Bedeutung so unmittelbar wie möglich erschließt. So bleiben am Ende zum Beispiel kaum noch Adjektive übrig. Ich habe mir schon oft gesagt: Beschreib doch mal alles lang und breit! Aber dann streiche ich am Ende doch alles wieder raus."
    Gerritsens Sprache hat etwas Schlankes, das emotionale Regungen sehr direkt erfasst. So entsteht in aller Schlichtheit Intensität. Zwar muss man sagen, dass "Mutters letzte Worte", Gerritsens umfangreicher Mutter-Tochter-Roman, ein ganzes Stück besser ist als "Der große Bruder". Aber auch ihr neuer Kurzroman erzählt eine feine kleine Geschichte über ein großes Thema: wie eine plötzlich auftretende Krankheit Bewegung in eine leblose Familiensituation bringt. Man kann über den "Großen Bruder" sehr gut erste Bekanntschaft machen mit Esther Gerritsens Werk, das in den Niederlanden immer wieder für große Preise nominiert wird. Und das es wert ist, noch viel umfassender ins Deutsche übersetzt zu werden.
    Buchinfos:
    Esther Gerritsen: "Der große Bruder"
    Aus dem Niederländischen von Gregor Hens, Aufbau-Verlag, 132 Seiten, Preis: 18,00 Euro