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Etel Adnan: "Wir wurden kosmisch"
Als wir die Erde verließen

Die Malerin, Autorin und Philosophin Etel Adnan gilt als Kosmopolitin der arabischen Kulturwelt. Vor mehr als einem halben Jahrhundert schrieb sie ein lyrisches Requiem auf den Tod des ersten Menschen im All, Juri Gagarin, das verblüffend aktuell geblieben ist.

Von Cornelius Wüllenkemper | 10.01.2020
Der erste Mensch im All – kein Brite und gut zehn Jahre später: Juri Gagarin auf dem Weg zum Start 1961
Etel Adnan widmet Juri Gagarin (Bild) ein lyrisches Requiem (Roscosmos)
Die Weltläufigkeit ist in Etel Adnans Werk tief eingeschrieben. An der Sorbonne studierte sie in den 1950er-Jahren Philosophie, unterrichtete später an Universitäten in Kalifornien und kehrte 1972 als Journalistin in den Libanon zurück – um diesen nach dem Ausbruch des verheerenden Bürgerkriegs vier Jahre später wieder in Richtung Paris zu verlassen. Ihr literarisches Werk, ihre Romane, Gedichte und Dramen, verfasst die Kosmopolitin Adnan in drei Sprachen; auf Arabisch, Französisch und Englisch.
Auch wenn sie die Literatur als Medium der Rebellion versteht, ist Adnans Blick auf die Welt weder ideologisch noch politisch geprägt, sondern vielmehr menschlich – oder gar kosmisch. Das merkt man auch dem "Trauermarsch für den ersten Kosmonauten" an, den Adnan 1968 nach dem Unfalltod des sowjetischen Weltraumpioniers Juri Gagarin verfasste. Gagarin, der 1961 als erster Mensch die Erde im Weltraum umkreist hatte, starb sieben Jahre später bei einem Übungsflug der sowjetischen Luftstreitkräfte.
"Du hast die Pipeline gesucht, die in den Himmel führt
tief in den Ästen des Affenbaums
eine inkohärente Lichtwelle bewegt sich
hinter den Wolken
du gingst schwimmen in diesem entfernten Pool
du gingst um dich darin aufzulösen
kühl wie die Westseite der Palmenblätter
im Anbruch des Mittags"
Anbruch einer neuen Ära der Menschheit
Das elfteilige Gedicht, das Etel Adnan in Kalifornien verfasste, reflektiert Gagarins Reise durch den Weltraum als den Anbruch einer neuen Ära der Menschheit. Die Raumfahrt habe die bisherige Vorstellung des Unmöglichen zerstört und zugleich eine neue "Prähistorie" eingeleitet: der Mensch habe damals begonnen, sich von der Begrenzung seines Lebensraums auf der Erde zu verabschieden. "Mental haben wir unseren Planeten bereits verlassen", sagt die Dichterin im Gespräch mit den Herausgebern Joshua Groß und Moritz Müller-Schwefe am Ende des Bandes.
"Insgesamt haben wir durch die Raumfahrt unseren Platz im Universum gewechselt, unsere Selbstwahrnehmung. Wir wurden alle kosmisch. Wir sind jetzt Bewohner des Kosmos. [...] Wir begreifen die Erde als ein altes Zuhause, das wir einfach wegwerfen können. Statt dass wir uns um die ökologische Fragen kümmern, träumen wir davon, ins All zu fliegen. [...] Ich glaube, diese Einstellung ist sehr gefährlich. Wir tun so, als wäre die Erde alt, als wäre sie bereits unbrauchbar."
Nach 50 Jahren verblüffend aktuell
Angesichts der Tatsache, dass die Nato den Weltraum offiziell zu ihrem Operationsgebiet erklären wird und mit Blick auf die Pläne zu privatem Weltraumtourismus oder extraterrestrischer Atommüllentsorgung ist Adnans Text 50 Jahre nach seinem Entstehen verblüffend aktuell. Adnan spiegelt Gagarins epochemachenden Flug um die Erde als Metapher auf Höhenflüge und Abstürze der Menschheit. Aus der Perspektive des Alls schaut sie auf den Atombombenabwurf über Hiroshima, auf den Kampf der Afro-Amerikaner für Gleichberechtigung oder die gewaltsame Verdrängung der nordamerikanischen Ureinwohner. Der Tod Gagarins ist für Adnan ein Fanal in einer aus den Fugen geratenen Welt.
"Lichtexplosionen
explodierende Glühbirnen zersplitternd
die ganze Menschheit bombardiert von so vielen Nachrichten, Bildern,
von der elektrischen Spannung des Sex
und von einem Requiem für die Schallmauer!"
Kosmonauten der menschlichen Zivilisation
Ihre Gedichte schreibe sie spontan und in einem Fluss, kein Wort werde nachträglich geändert, gab Etel Adnan einmal zu Protokoll. Das lässt sich auch in ihrem "Trauermarsch für den ersten Kosmonauten" nachempfinden, in den Bilder des Alltags ebenso einfließen wie freie Assoziationen und historisch-politische Verweise. Kosmonauten, die Reisenden in neue menschliche Lebenswelten, vergleicht Adnan mit Propheten, mit Visionären und Freiheitskämpfern. Die Propheten Mohammed, und Elias, der altägyptische Sonnengott Ra, Erzengel, Samurais und sogar Batman aber auch die algerischen Freiheitskämpfer und Martin Luther King schmuggeln sich in Adnans Text – sie alle sind Kosmonauten der menschlichen Zivilisation.
"Ihr Kosmonauten, ihr alle wurdet von unseren Träumen getragen
schwebend über dem Schlaf
ihr Pioniere des Alls
das zwischen Atomen und Träumen herumlungert
wir haben diese gewaltige Minute der Stille gehört
ihr alle habt euch erhoben, als Gagarin zu euch kam
dieses großartige Kind in dieser großartigen Maschine."
Der schmale Band "Wir wurden kosmisch" enthält neben den elf Teilen des "Trauermarschs" für Juri Gagarin und einem kurzen Gespräch mit der Autorin auch eine Fotoserie über Raketenstarts. Durch ihre bildliche Einfachheit führen sie die zugleich profane und ebenso unfassbare Schwelle zwischen menschlicher Zivilisation und Weltall vor Augen. Die Textabschnitte sind verbunden mit freihändigen Skizzen, die die Autorin immer wieder auch in andere ihrer lyrischen Werke eingearbeitet hat. Sie dienen ihr als künstlerische Platzhalter, wenn die Worte ins Stocken geraten. Auch aus diesem Blickwinkel ist der Band "Wir wurden kosmisch" ein halbes Jahrhundert nach der Entstehung des Textes ein guter Einstieg in das vielseitige, opulente künstlerische Werk der visionären Kosmopolitin Etel Adnan.
Etel Adnan: "Wir wurden kosmisch".
Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Joshua Groß und Moritz-Müller Schwefe.
Starfruit Verlag, Fürth 2019. 78 Seiten, 18 Euro